1888, Briefe 969–1231a
997. An Georg Brandes in Kopenhagen
Nizza den 19. Febr. 1888.
Verehrter Herr,
Sie haben mich auf das Angenehmste mit Ihrem Beitrag zum Begriff „Modernität“ verpflichtet: denn gerade diesen Winter ziehe ich in weiten Kreisen um diese Werthfrage ersten Ranges herum, sehr oberhalb, sehr vogelmäßig und mit dem besten Willen, so unmodern wie möglich aufs Moderne herunterzublicken… Ich bewundere — daß ich es Ihnen gestehe! — Ihre Toleranz im Unheil ebensosehr wie Ihre Zurückhaltung im Urtheil. Wie Sie alle diesen „Kindlein“ zu sich kommen lassen! Sogar Heyse! —
Ich habe mir für meine nächste Reise nach Deutschland vorgesetzt, mich mit dem psychologischen Problem Kierkegaard zu beschäftigen, insgleichen die Bekanntschaft mit Ihrer älteren Litteratur zu erneuern. Dies wird für mich, im besten Sinn des Worts, von Nutzen sein, — und wird dazu dienen, mir meine eigne Härte und Anmaaßung im Urtheil „zu Gemüthe zu führen“. —
Gestern telegraphirte mir mein Verleger, daß die Bücher an Sie abgegangen sind. Ich will Sie und mich mit der Erzählung verschonen, warum dies so spät geschehen ist. Machen Sie, ich bitte Sie, verehrter Herr, eine gute Miene zu dem „bösen Spiel“, ich meine, zu dieser Nietzsche’schen Litteratur.
Ich selber bilde mir ein, den „neuen“ Deutschen die reichsten, erlebtesten und unabhängigsten Bücher gegeben zu haben, die sie überhaupt besitzen; ebenfalls selber für meine Person ein capitales Ereigniß in der Krisis der Werthurtheile zu sein. Aber das könnte ein Irrthum sein; und außerdem noch eine Dummheit —: ich wünsche, über mich nichts glauben zu müssen. Ein paar Bemerkungen noch: sie beziehen sich auf meine Erstlinge (— die Juvenilia und Juvenalia)
Die Schrift gegen Strauß, das böse Gelächter eines „sehr freien Geistes“ über einen solchen, der sich dafür hielt, gab einen ungeheuren Skandal ab: ich war damals schon Prof. ordin. trotz meinen 24 Jahren, somit eine Art von Autorität und etwas Bewiesenes. Das Unbefangenste über diesen Vorgang, wo beinahe jede „Notabilität“ Partei für oder gegen mich nahm und eine unsinnige Masse von Papier bedruckt worden ist, steht in Carl Hillebrand’s „Völker, Zeiten und Menschen“ Band 2. Daß ich das altersmüde Machwerk jenes außerordentlichen Kritikers verspottete, war nicht das Ereigniß, sondern daß ich den deutschen Geschmack bei einer compromittirenden Geschmacklosigkeit in flagranti ertappte: er hatte Straußens „alten und neuen Glauben“ einmüthig, trotz aller religiös-theologischen Partei-Verschiedenheit, als ein Meisterstück von Freiheit und Feinheit des Geistes (auch des Stils!) bewundert. Meine Schrift war das erste Attentat auf die deutsche Bildung (— jene „Bildung“, welche, wie man rühmte, über Frankreich den Sieg errungen habe —); das von mir formulirte Wort „Bildungsphilister“ ist aus dem wüthenden Hinundher der Polemik in der Sprache zurückgeblieben. —
Die beiden Schriften über Schopenhauer und Richard Wagner stellen, wie mir heute scheint, mehr Selbstbekenntnisse, vor allem Selbstgelöbnisse über mich dar als etwa eine wirkliche Psychologie jener mir ebenso tief verwandten als antagonistischen Meister. (— ich war der Erste, der aus Beiden eine Art Einheit destillirte: jetzt ist dieser Aberglaube sehr im Vordergrunde der deutschen Cultur: alle Wagnerianer sind Anhänger Schopenhauers. Dies war anders als ich jung war: damals waren es die letzten Hegelinge, die zu Wagner hielten, und „Wagner und Hegel“ lautete die Parole in den fünfziger Jahren noch.)
Zwischen den „unzeitgemäßen Betrachtungen“ und „Menschliches, Allzumenschliches“ liegt eine Krisis und Häutung. Auch leiblich: ich lebte Jahre lang in der nächsten Nachbarschaft des Todes. Dies war mein größtes Glück: ich vergaß mich, ich überlebte mich… Das gleiche Kunststück habe ich noch einmal gemacht. —
— So haben wir also einander Geschenke überreicht: ich denke, wie zwei Wanderer, die sich freuen, einander begegnet zu sein? —
Ich verbleibe Ihr ergebenster
Nietzsche