1888, Briefe 969–1231a
1110. An Reinhart von Seydlitz in München
Sils-Maria, d. 13. September 1888.
Lieber Freund,
es scheint Manches, das bereits für München unterwegs war, dies Jahr ausgeblieben zu sein: rechne auch mich — ich sage es mit viel Bedauern — unter das Münchener Defizit. Der Sommer war, wie alle Welt weiß, ein Skandal: ich bewundere meine Geduld, ich hätte Gründe gehabt, aus so viel Häuten zu fahren, um mein Zimmer damit zu tapeziren. Zuletzt überschwemmte sich noch das Engadin in einem Anfall von Wassersucht, daß wenig gefehlt hat und wir wären Fische geworden. Lauter ungewöhnliche Dinge in Sils: ein Sommer, gluthheiß, von 1 1/2 Wochen im Ganzen und vor den Frühling arrangirt; an Stelle des Frühlings und Sommers ein zweideutiger und nicht immer zweideutiger Winter; achtzehn Unthiere von Lawinen, die Hinterlassenschaft des sogenannten eigentlichen Winters; neue Glocken; eine Forelle von 30 Pfund; Herr Bädeker und Frau, welche mein Hôtel (Alpenrose) den ganzen Sommer über aus zeichneten, „ansternten“… Zuletzt berechnete mir unser Meteorolog, daß eben in vier Tagen 220 Millimeter Niederschlag gefallen sind, während ein Monat mit gesunden Durchschnitts-Bedürfnissen nur 80 Millimeter Wasser nöthig hat. —
Übermorgen geht es westwärts —: es ist nicht nur die geographische Lage, welche es verbietet, Turin zum „Süden“ zu rechnen. — Ich komme gerade dort an, wenn die große Hochzeit Savoyen-Bonaparte zu Ende geht. Später — wer weiß! — aber ich glaube Nizza. — Mein innerer Haushalt steht ganz und gar im Dienste einer extremen Unternehmung, die, als Büchertitel, in drei Worte zu bringen ist „Umwerthung aller Werthe“. Ich sinne öfter über die Maßregeln nach, die die Toleranz Europa’s gegen mich erfinden wird: eigens ein kleines Sibirien mit künstlicher Eis- (und gelato-) Bildung construiren, um mich nach Sibirien verbannen zu können…
Dies schließt nicht aus, daß ich ein paar Heiterkeiten verbrochen habe. Die eine, welche sich alsbald die Freiheit nehmen wird, mit einigem Muthwillen über Deine Schwelle zu springen, heißt „Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem.“ (— böse Zungen lesen: Der Fall Wagner’s). Auch Hans von Bülow giebt sich über ein verwandtes Thema zum Besten: und in Anbetracht, daß wir Beide etwas hinter den Coulissen gelebt haben… Ende des Jahres wird eine andre Sache von mir veröffentlicht, welche meine Philosophie in ihrer dreifachen Eigenschaft, als lux, als nux und als crux, zur Erscheinung bringt. Sie heißt, mit aller Anmuth und Tugend: „Müßiggang eines Psychologen“ — und ist entstanden, während ich hier „an den Wänden“ hinaufstieg. Unter anderem wird den Deutschen darin dergestalt die Wahrheit gesagt, daß auch für mich Ehren und Handschreiben nur noch etwa von Japanischen Majestäten zu gewärtigen sind. Ich deute in aller Bescheidenheit an, daß der „Geist“, der sogenannte „deutsche Geist“ spazieren gegangen und irgendwo in der Sommerfrische wohnt — jedenfalls nicht im „Reich“ — eher schon in Sils-Maria….
Womit ich Dir und Deiner lieben Frau mich mit herzlichem Bedauern empfehle.
Treulich Dein Nietzsche.
(Bis Mitte November muthmaßliche Adresse: Torino, ferma in posta.)