1888, Briefe 969–1231a
1005. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Nice d. 20. März 1888.
Meine liebe Mutter
Du hast mir mit Deiner Sendung und dem sie begleitenden Briefe eine große Freude gemacht: beinahe als ob Du mir ein Geschenk gemacht hättest. Ich war gerade etwas knapp daran mit Finanzen; und vielleicht habe ich schon geschrieben, daß diesen Winter mein Leben im Hôtel sich vertheuert hat. Trotzdem sind auch jetzt noch die Bedingungen, unter denen ich hier lebe, bedeutend unter den durchschnittlichen, die Jedermann hier im Hause zu zahlen hat; und andrerseits habe ich auch diesen Winter etwas, das ich sonst nicht hatte: ein Zimmer, das mir gefällt, hoch, mit einem ausgezeichneten Lichte für meine Augen, neu hergerichtet, mit großem schwerem Tisch, chaise longue, Bücherschrank und mit dunklen roth-braunen Tapeten, die ich selbst ausgewählt habe. Es scheint mir immer noch, daß ich an Nizza festzuhalten habe: sein klimatischer Einfluß ist so wohlthätig wie kein andrer auf mich. Ich kann hier gerade noch einmal so viel Gebrauch von meinen Augen machen als anderswo. Der Kopf ist unter diesem Himmel freier geworden, von Jahr zu Jahr; die unheimlichen Folgen jahrelangen Siechthums in der Nähe und Erwartung des Todes treten hier milder auf. Ich will nicht vergessen, daß auch meine Verdauung hier besser ist als sonst wo; vor allem aber, mein Geist fühlt sich hier aufgeweckter und trägt im Allgemeinen seine Bürde leichter — ich meine die Bürde eines Lebenslooses, zu dem ein Philosoph einmal verurtheilt ist. Ich gehe Vormittags eine Stunde, Nachmittags drei Stunden durchschnittlich spazieren, in scharfem Schritte — Tag für Tag den gleichen Weg: er ist schön genug dazu. Nach dem Abendessen sitze ich noch bis 9 Uhr im Salon, unter fast lauter Engländern und Engländerinnen, bei einer Lampe mit Lampenschirm an meinem Tische. Ich stehe halb sieben auf und mache mir meinen Thee selbst: dazu einige Zwiebäcke. Um 12 Uhr das Frühstück; um 6 Uhr die Hauptmahlzeit. Kein Wein, kein Bier, keine Spirituosen, kein Kaffe: größte Gleichmäßigkeit in der Lebens- und Ernährungsweise. Seit vorigem Sommer habe ich mich an Wassertrinken gewöhnt: ein gutes Zeichen, ein Fortschritt. Übrigens war ich gerade jetzt drei Tage krank: doch ist heute wieder Alles in Ordnung. Für Ende März denke ich Nizza zu verlassen: der Lichtglanz ist mir bereits zu stark, auch die Luft schon zu weich, zu frühlingsmäßig. Es ist möglich, daß ich noch Besuch bekomme: nämlich Seydlitz, der auf seiner Rückreise von Aegypten „mit Weib, Mutter, Hund und Diener“ bei mir eintreffen will. Auch der alte Freund Gersdorff schrieb wieder guter Dinge: er hatte gerade seinen Monat Dienst in Berlin hinter sich (— er ist Kammerherr der alten Kaiserin) Aber das Schönste war ein langer Brief vom Lama: acht Seiten voll lauter herzlicher und sogar gescheuter Dinge. Noch in Asuncion geschrieben; aber voll guten Muths („gewiß, ich habe ein Lebensloos, zu dem ich passe, das ist eine schöne Sache“ —) Doch drückt sie Besorgniß aus, daß es die nächste Zeit zu viel zu thun giebt: weil eine Unmasse neuer Colonisten angemeldet sind, und vielleicht noch nicht genug dazu vorbereitet ist. — Ich vergaß zu erzählen, daß ein alter Schulkamerad (mein „Unterer“), der Lieutenant Geest hier in Pflege der Diakonissen vom rothen Kreuz ist: ich gehe zuweilen hin. Sehr norddeutsche Atmosphäre: Frau von Münchow, Frl. von Diethfurth usw. Meine Tischnachbarin ist auch diesen Winter wieder die Baronin Plänckner, eine geb. Seckendorf<f>: und als solche mit allen Seckendorf<f>s am Hofe und in der Armee in allernächstem Verkehr (z. B. mit dem Grafen Seckendorf<f>, der, wie bekannt bei der neuen Kaiserin die „rechte Hand“ ist — und noch etwas mehr!) Auch ist sie mit dem Geheimrath von Bergmann nahe befreundet und selbst in seiner Kur: so daß ich über die Dinge in San Remo sehr gut unterrichtet war. Ich habe sogar Blätter, die der Kronprinz ein Paar Tage vor seiner Abreise geschrieben hat, in den Händen gehabt. - - -
So viel, meine liebe gute Mutter! Es umarmt Dich in Dankbarkeit
Dein altes Geschöpf.
Ich möchte Dir gerne eine förmliche Quittung über die Zahlung der ersten Jahres-Zinsen ausstellen: denn so ist es in der Ordnung. Nun bitte ich mir erst zu sagen, was ich schreiben soll.
Grüße, mit herzlicher Antheilnahme, Herrn und Frau Rektor Volkmann von mir. Was macht Heinze? Fast habe ich ihn erwartet. Übrigens war ein Leipziger Professor zwei Tage hier im Hause.