1888, Briefe 969–1231a
983. An Heinrich Köselitz in Venedig
Nizza, den 1. Febr. 1888.
Lieber Freund,
wie nahe sind Sie mir diese ganze Zeit gewesen! wie viel habe ich mir ausgedacht, Thörichtes und Kluges, wo Sie immer als Hauptperson mitspielten! Es gab eine schöne chance: die letzte Ziehung der Lotterie Nizza’s, — und wenigstens eine halbe Stunde habe ich mir den kleinen dummen Luxus erlaubt, als sicher anzunehmen, daß ich das große Loos gewinnen würde. Mit dieser halben Million ließe sich viel Vernunft auf Erden wieder herstellen; zum Mindesten würden wir Beide mit mehr Ironie, mit mehr „Jenseits“ der Unvernunft unsres Daseins zusehn — und im Grunde gehört, um solche Dinge zu machen wie Sie und ich sie machen und um sie ganz gut und göttlich zu machen, Eins dazu, Ironie (also — denn so lautet die Logik auf Erden — eine halbe Million, die Prämisse der Ironie…)
Der Mangel an Gesundheit, an Geld, an Ansehn, an Liebe, an Schutz — und dabei nicht zum tragischen Brummbär werden: dies ist die Paradoxie unsres jetzigen Zustands, sein Problem. Bei mir ist ein Zustand von chronischer Verwundbarkeit eingetreten, an dem ich in guten Zuständen eine Art Revanche nehme, die auch nicht vom Schönsten ist, nämlich als ein Exceß von Härte. Zeugniß meine letzte Schrift. Doch nehme ich das Alles mit der Klugheit eines raffinirten Psychologen hin und ohne die geringste moralische Verurtheilung: oh wie lehrreich es ist, in einem solchen extremen Zustande zu leben, wie der meinige ist! Ich verstehe jetzt erst die Geschichte, ich habe niemals tiefere Augen gehabt als in den letzten Monaten.
Lieber Freund, Ihre psychologische Nachrechnung über den Einfluß Venedigs ist richtig. Hier, wo man unter so vielen Gästen und Patienten beständig von der Idiosynkrasie bestimmter Clima-Einwirkung reden hört, habe ich allmählich das Cardinale dieser Frage begriffen. In Hinsicht auf das optimum, auf die Verwirklichung unsrer allerpersönlichsten Wünsche (— unsrer „Werke“) muß man auf diese Stimme der Natur hören: gewisse Musik gedeiht ebensowenig unter feuchtem Himmel wie gewisse Pflanzen. Eben erzählte mir meine Tischnachbarin, daß sie bis vor 2 Wochen in Berlin krank gelegen sei, unter der größten Besorgniß der Ärzte und nicht mehr fähig, von einer Straßenecke zur andern zu gehn. Jetzt — ja was sich verändert hat, sie weiß es nicht zu sagen: aber sie läuft und ißt und ist heiter und begreift nicht mehr, daß sie krank war. Da sich dieselbe Geschichte bei ihr schon drei Mal zugetragen hat, so schwört sie auf „Lufttrockenheit“ als Recept gegen alle Übel der Seele (— denn sie hat an einer Art melancholischer Desperation gelitten). — Daß Sie jahrelang Venedig als Contrastclima (zum Clima Ihrer Jugend) wohlthätig und gleichsam ölhaft calmirend empfunden haben, ist vollkommen correkt: ich verhandelte im Engadin mit Ärzten über diesen principielle Frage: daß dasselbe Clima als Reiz- und Contrastclima — also nur für eine bestimmte Zeit verordnet — geradezu den entgegengesetzten Einfluß hat, wenn es als Dauerklima benutzt wird; daß z. B. der Engadiner unter dem beständigen Einflüsse seines Climas ernst, phlegmatisch, etwas anämisch wird, während der Gast dieses Climas von ihm eine außerordentliche Belebung und Gesammtverstärkung des animalischen Seins davonträgt. Moral: Sie sollten der Gast Venedigs sein (— gewesen sein —!) Es thut mir ordentlich weh, das zu sagen, das auch nur zu begreifen: denn so Vieles ist auf eine himmlische und würdige Weise daselbst geordnet, wie es zunächst nirgendswo für Sie zu finden ist. Ein Aufenthalt in Corsica? Man hat mir von Bastia erzählt, daß man daselbst sich in Pension kleiner Hôtels geben könne zu 3—4 frs. pro Tag. Es haben so viele Flüchtlinge aller Länder in Corsica gelebt (namentlich italiänische Gelehrte usw.) Eben ist die Eisenbahn von Bastia nach Corte eröffnet (1. Febr. 1888). Die große Bescheidenheit der corsischen Lebensweise, die Simplicität der Sitte würde unser-Einem daselbst zu Gute kommen. Und — was ist man dort weit weg von der „Modernität“! Vielleicht reinigt und stärkt sich dort die Seele und wird stolzer… (— ich mache mir nämlich klar, daß man jetzt weniger leiden würde, wenn man stolzer wäre: Sie und ich, wir sind nicht stolz genug…)
In Liebe und Treue
Ihr N.
Vergebung für einen Wink! Eine Übersiedelung nach Corsika hätte in den Augen Ihrer verehrten Angehörigen den Sinn (die Vernunft) eines unabweislichen Versuchs: denn man wird von Ihrer corsischen Oper wissen. — (Hinreisen; von dort aus das fait accompli melden) Corte wäre ein Winter- und Sommeraufenthalt. Denken Sie ein wenig voraus: 5 Jahre Corsica wäre ein grandioser Contrast zu 5 Jahren Venedig, eine Cultur..
An Fritzsch habe ich 3 Briefe geschrieben in der Sache Brandes, jedes Mal mit der dringenden Bitte um Antwort. Er schweigt.