1880, Briefe 1–73
1. An Otto Eiser in Frankfurt
Naumburg. <Anfang Januar 1880>
Lieber Herr Doctor,
Herzlichen Dank! Gerade Tage dachte ich Ihrer, es verlangte mich mit Ihnen einmal wieder zu reden; es giebt Niemanden vertrauenswürdigeres als Sie. Aber um einen Brief zu wagen muß ich durchschnittlich 4 Wochen warten, bis die erträgliche Stunde kommt — und hintendrein habe ichs noch zu büßen! Deshalb Verzeihung, wenn alles auf meiner Seite beim alten bleibt — — schweigend, aber in Liebe.
Meine Existenz ist eine fürchterliche Last: ich hätte sie längst von mir abgeworfen, wenn ich nicht die lehrreichsten Proben und Experimente auf geistig-sittlichem Gebiete gerade in diesem Zustande des Leidens und der fast absoluten Entsagung machte — diese erkenntnißdurstige Freudigkeit bringt mich auf Höhen, wo ich über alle Marter und alle Hoffnungslosigkeit siege. Im Ganzen bin ich glücklicher als je in meinem Leben: und doch! Beständiger Schmerz, mehrere Stunden des Tages ein der Seekrankheit eng verwandtes Gefühl einer Halb-Lähmung, wo mir das Reden schwer wird, zur Abwechslung wüthende Anfälle (der letzte nöthigte mich 3 Tage und Nächte lang zu erbrechen, ich dürstete nach dem Tode). Nicht lesen können! Sehr selten schreiben! Nicht verkehren mit Menschen! Keine Musik hören können! Allein sein und spazieren gehen, Bergluft, Milch- und Eier-Diät. Alle inneren Mittel zur Milderung haben sich nutzlos erwiesen, ich brauche nichts mehr. Die Kälte ist mir sehr schädlich.
Ich will in den nächsten Wochen südwärts, um die Spaziergehe-Existenz zu beginnen.
Mein Trost sind meine Gedanken und Perspektiven. Ich kritzele auf meinen Wegen hier und da etwas auf ein Blatt, ich schreibe nichts am Schreibtisch, Freunde entziffern meine Kritzeleien. Das letzte, womit meine Freunde fertig geworden sind, folgt nebenbei, nehmen Sie es gütig auf, auch wenn es vielleicht Ihrer eignen Denkungsart weniger willkommen ist. (Ich selber suche keine „Anhänger“ — glauben Sie es mir? — ich genieße meine Freiheit und wünsche diese Freude allen zur geistigen Freiheit Berechtigten)
Ihre liebe Frau steht vor mir als eine edle und starke Seele, welche mir wohl will. Ich bin und bleibe Ihr
getreuer F. Nietzsche
Ich habe schon einigemal längere Bewußtlosigkeiten gehabt. Im letzten Frühjahr hatte man mich in Basel aufgegeben
Nach der letzten Untersuchung hat die Sehkraft wieder erheblich abgenommen.
2. An Malwida von Meysenbug in Rom
Naumburg den 14 Jan 1880.
Obwohl Schreiben für mich zu den verbotensten Früchten gehört, so müssen Sie, die ich wie eine ältere Schwester liebe und verehre, doch noch einen Brief von mir haben — es wird doch wohl der letzte sein! Denn die furchtbare und fast unablässige Marter meines Lebens läßt mich nach dem Ende dürsten, und nach einigen Anzeichen ist mir der erlösende Hirnschlag nahe genug, um hoffen zu dürfen. Was Qual und Entsagung betrifft, so darf sich das Leben meiner letzten Jahre mit dem jedes Asketen irgend einer Zeit messen; trotzdem habe ich diesen Jahren viel zur Läuterung und Glättung der Seele abgewonnen — und brauche weder Religion noch Kunst mehr dazu. (Sie merken, daß ich darauf stolz bin; in der That, die völlige Verlassenheit hat mich erst meine eignen Hülfsquellen entdecken lassen) Ich glaube mein Lebenswerk gethan zu haben, freilich wie einer, dem keine Zeit gelassen war. Aber ich weiß, daß ich einen Tropfen guten Oeles für Viele ausgegossen habe und daß ich Vielen zur Selbst-Erhebung, Friedfertigkeit und gerechtem Sinne einen Wink gegeben habe. Dies schreibe ich Ihnen nachträglich, es sollte eigentlich bei der Vollendung meiner „Menschlichkeit“ ausgesprochen werden. Kein Schmerz hat vermocht und soll vermögen, mich zu einem falschen Zeugniß über das Leben, wie ich es erkenne, zu verführen.
Zu wem dürfte ich dies Alles sagen, wenn nicht zu Ihnen? Ich glaube — aber es ist unbescheiden es zu sagen? — daß unser Charakter viele Ähnlichkeiten hat. Z. B.: wir sind Beide muthig, und weder Noth noch Geringschätzung kann uns von der Bahn, die wir als die rechte erkennen abdrängen. Auch haben wir Beide in uns und vor uns Manches erlebt, dessen Leuchten Wenige der Gegenwärtigen gesehen haben — wir hoffen für die Menschheit und bringen uns selber als bescheidenes Opfer, nicht wahr? — —
Hören sie Gutes von Wagner’s? Es sind drei Jahre, daß ich nichts von ihnen erfahre: die haben mich auch verlassen, und ich wußte es längst, daß W<agner> vom Augenblicke an, wo er die Kluft unserer Bestrebungen merken würde, auch nicht mehr zu mir halten werde. Man hat mir erzählt, daß er gegen mich schreibe. Möge er damit fortfahren: es muß die Wahrheit auf jede Art an’s Licht kommen! Ich denke in einer dauernden Dankbarkeit an ihn, denn ihm verdanke ich einige der kräftigsten Anregungen zur geistigen Selbstständigkeit. Frau W<agner>, Sie wissen es, ist die sympathischste Frau, der ich im Leben begegnet bin. — Aber zu allem Verkehren und gar zu einem Wiederanknüpfen bin ich ganz untauglich. Es ist zu spät.
Ihnen, meine liebe schwesterlich verehrte Freundin der Gruß eines jungen Alten, der dem Leben nicht gram ist, ob er gleich nach dem Ende verlangen muß.
Friedrich Nietzsche.
3. An Otto Eiser in Frankfurt
<Naumburg, Mitte Januar 1880>
Welche Überraschung! Welcher Frühling! Wie gute Menschen wohnen in der Hirschgasse! —
Nein, lieber guter Herr Doctor, ich machte Ihnen die Schilderung meines Zustandes nach dem Durchschnitt des letzten Jahres, nicht nach der Ausnahme. Statistisch: ich hatte 118 schwere Anfallstage; die leichteren habe ich nicht gezählt. Könnte ich Ihnen das Fortwährende beschreiben, den beständigen Schmerz und Druck im Kopf, auf den Augen, und jenes lähmungsartige Gesammtgefühl von Kopfe bis in die Fußspitzen! — Meine Schwester sah mich unter den günstigsten Umständen, ich selber war zum Hoffen verführt.
Ihnen treu zugethan
F N.
4. An Franz Overbeck in Basel
<Naumburg, Ende Januar 1880>
Es gieng schlecht, ich konnte nicht diese Paar Zeilen schreiben, konnte auch nicht abreisen.
Bitte lege das Geld nach Deinem Gutdünken an, und recht bald. Willst Du auch die beifolgende Dettloffsche Rechnung bezahlen? (sie ist mir sehr fragwürdig — aber ich kann nichts machen)
Dr Rée war auf 5 Tage bei mir, mit beruhigenderem Zustande der Gesundheit und zu großer Herz-Erquickung für mich.
Dir und Deiner lieben Frau herzlich ergeben und eingedenk
Dein Freund
Oh dieser Winter! (Im letzten Jahre hatte ich 118 schwere Anfallstage)
5. An Paul Rée in Stibbe
<Naumburg, Ende Januar 1880>
Wie viel Freude haben Sie mir gemacht, mein lieber, außerordentlich lieber Freund! Also ich habe Sie noch einmal gesehen und so gefunden, wie mein Herz mir die Erinnerung bewahrt hatte; wie ein beständiger angenehmer Rausch war’s, diese 6 Tage hindurch. Ich gestehe Ihnen, ich hoffe nicht mehr auf ein Wiedersehen, die Erschütterung meiner Gesundheit ist zu tief, die Qual zu anhaltend; was nützt mir alle Selbstüberwindung und Geduld! Ja, in Sorrentiner Zeiten gab es noch zu hoffen, aber das ist vorbei.
So preise ich denn, Sie gehabt zu haben, mein herzlich geliebter Freund!
Ihren verehrten Eltern Dank und Gruß.
F.N.
6. An Elisabeth Nietzsche in Basel (Postkarte)
<Riva, 14. Februar 1880>
Geliebte Schwester
gestern in Riva angelangt. In Bozen 2 Tage krank gelegen. Heute trübe. Ich wohne in einem immergrünen Garten, der an den See stösst, abseits von der Stadt.
Adr.: Hôtel du lac
Riva, Südtirol
Die besten Grüsse den Insassen des gastfreundlichen Hauses.
Dir selber alles Schöne und Gute.
F N.
7. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Riva, 14. Februar 1880>
So bin ich in Riva, Wetter bisher trübe, heute Regen. Garten. Der Felsenweg entspricht meiner Erwartung.
Immer nicht wohl. — Sende sofort bitte, den dünnen Überrock und die graue Hose und ein Nachthemd. Koffer nicht senden! Die warme Decke behalte zurück. Sehr gut geheizt. In meiner kleinen Einrichtung machen mir die Augen sehr viel Schwierigkeit. An Lisb<eth> geschrieben. Bozen war nicht viel anders als Naumb<urg>. Ich reiste noch krank ab.
Deiner Pflege dankbar eingedenk
meine gute Mutter!
Adr: Riva (Südtirol) Hôtel du lac
8. An Heinrich Köselitz in Venedig (Telegramm)
<Riva, Mitte Februar 1880>
Köselitz, Venezia
S. Canciano, calle nuova
5256
Hôtel du lac à Riva
Nietzsche
9. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Riva, 16. Februar 1880>
Hier bin ich, Freund, Riva (Südtirol) Hôtel du lac. Am 13 ten März reise ich nach Venedig.
Ihnen näher und immer
sehr nah F.N.
Können Sie hierher kommen? Oder wollen wir warten?
10. An Elisabeth Nietzsche in Basel (Postkarte)
<Riva, 24. Februar 1880>
Nur ein Wort, herzliebe Schwester. Seit gestern Abend ist Köselitz bei mir. Befinden abwechselnd. Die Natur erheitert mich wieder.
Nur kann ich nicht schreiben, die Augen wollen’s durchaus nicht. Sage dies auch Fr. Ov<erbeck>’s mit den herzlichsten Grüßen. und empfiehl mich Hrn und Frl. Rohr angelegentlich.
In Treue Dein
Bruder.
Bitte kaufe für mich 2 Zahnbürsten, die härtesten bei Chr<istoph> Burckhardt (abgerundet)
11. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Riva, 28. Februar 1880>
Meine gute Mutter, Dein Brief war eine schöne Sonntags-Freude. Heute wurde der Naumburger Zucker aufgebraucht. Auch der Thee hat bis jetzt gereicht. Ein Bildchen, das einen Olivenwald-Spaziergang darstellt, folgt nächstens. Köselitz grüßt auf das Beste, er ist ganz unübertrefflich. — Ich bin mit meinem Zustande recht unzufrieden und brauche Geduld
In herzlicher Liebe D<ein> S<ohn>.
12. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Riva, 5. März 1880>
Endlich, meine gute Mutter! Aber es gab 4 böse Tage und ich mußte warten, bis ich Dir danken konnte, für Briefe und Sendung. Sehr erfreut über die wie neuen Hosen. Wetter im Ganzen gut, schöne Spaziergänge. Weite Oelwälder, auch ein grünes Eichengehölz, sehr milde Luft. Nicht mehr einheizen. Hr Busse bringt mich mit langem Schreiben in Verlegenheit. Köselitz sehr angenehm und nützlich.
Herzlich grüßend und im Geiste
umarmend Dein
Sohn.
13. An Elisabeth Nietzsche in Basel (Postkarte)
<Riva, 9. März 1880>
Allerschönsten Dank, meine liebe Schwester, ich freue mich mit Dir, daß Du jetzt in einen so angenehmen und friedlichen Hafen eingelaufen bist. Ich habe gerade etwas überwunden (4 böse Tage hinter mir) und bin freudiger gestimmt. Danke dem liebwerthen Overbecke auch für die Geldversorgung in meinem Namen, Schreiben wird mir zu schwer. Die Albert’s werden wenn sie eintreffen, sehr bereite Geister finden; sage ihnen das. Köselitz ist um mich. Schöne Olivenwälder und Schatten, so viel ich haben will, giebt es hier.
Dein treuer
F.
13a. An Otto Busse in Charlottenburg (Entwurf von Köselitz’ Hand)
Riva, Ende Februar 1880
An Busse in Charlottenburg
Geehrter Herr!
Durch das Zusammentreffen mit einem meiner ehemaligen Universitätszuhörer wird es mir möglich, Ihnen wenigstens durch einige dictirte Worte den Empfang ihrer werthen Zusendung zu bestätigen.
Leider verbietet mir der Zustand meiner Augen und meines ganzen Befindens Ihr Hauptschreiben jetzt zu lesen; und ich glaube in Ihrem Sinne zu handeln, wenn ich es mir sowohl in Rücksicht auf Sie als auch auf mich, nicht vorlesen lasse.
Verstehe ich einige Wendungen aus Ihrem späteren, im Ganzen mir räthselhaften Begleitschreiben recht, so sprechen Sie als Versöhnter, nachdem Sie sich durch mich verletzt gefühlt hatten, wahrscheinlich weil Sie über meine schriftstellerischen Absichten sich eine irrige Meinung bildeten.
Ich bitte Sie hingegen überzeugt zu sein, dass es mir bei meinen Drucksachen ausschließlich um philosphisch ganz sachliche Belehrung zu thun ist, nicht aber, wie Sie zu meinem Bedauern annehmen, um ein grausames Spiel mit den Personen meiner Freunde: dass mir also bei der Conception meiner Schriften Nichts ferner lag, als der Gedanke an Ihre Person, oder an Zusendungen von Ihnen oder von meinen Näherstehenden Freunden.
Da ich nun weiss, wie ernst Sie der Billigkeit und Wahrheit die Ehre zu geben gelobten, so hoffe ich auch, durch diese Erklärung zu Ihrer Beruhigung und zur Verhütung fernerer Missverständnisse beizutragen, und spreche noch aus, dass es mich stets erfreuen wird, Sie zu meinen Lesern rechnen zu dürfen, — vor Allem, wenn ich darüber gewiss sein kann, dass Sie als solcher von Rechtswegen, sowohl Ihre als auch meine Person ausser Betracht lassen, dass Sie also bei Ihren Vermutungen über die Anlässe zu meinen Aufzeichnungen nicht in der Weise das Richtige verfehlen, wie ich aus jenem Begleitschreiben entnehmen muss.
Mit ergebenem Gruss
14. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Riva, 12. März 1880>
Theurer liebster Freund morgen reisen wir nach Venedig ab.
Ich bin recht unzufrieden, mein Befinden ist in den 3 Wochen zurückgegangen, und der Schmerz fortwährend sehr peinigend. Nun also der vielerwogene Versuch mit Venedig, gegen den ich das Mißtrauen nicht los werde. Das Herzlichste und Dankbarste Dir und Deiner lieben Frau
15. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Lichtbild)
13 März 1880
zum Abschiede von Riva.
Euer Fritz.
mit den innigsten Grüssen.
16. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Venedig, 15. März 1880>
Vorgestern Abend kam ich in Venedig an, die letzte Woche in Riva war ich sehr leidend. Hier wohne ich gut, ruhig, habe eben den warmen Ofen; der Markusplatz ist in der Nähe. Gestern schön, aber kalt, doch konnte ich Nachmittags im Freien Cafe trinken, bei Musik, alles war mit Fahnen geschmückt, und die Tauben von St. Marcus flogen friedlich umher. Lauter schattige Sträßchen mit hartem ganz glatten Pflaster. Wohnung nur provisorisch einstweilen, schreibt an Köselitz’ Adresse.
In herzlicher Liebe
Euer Fritz
17. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Venedig, 22. März 1880>
Meine geliebte Schwester, schönsten Dank für Deinen Vorschlag, Verzeihung aber, daß ich noch kein rechtes Ohr dafür habe. Einstweilen hat die schreckliche Reiserei ein Ende! und ich mache das sehr nöthige Experiment, ob ein entschieden „deprimirendes“ Clima (medizinisch gesprochen) meinem Kopfe nicht wohlthätiger ist als das bisher allein angewendete excitirende. Venedig übt auf viele Kopfleidende günstigen Einfluß. Individuelle Diät und Hautkultur rechne ich sehr hoch und leiste mir in Beidem zur Genüge; mein Magen ist nicht leidend, wenn ich selber sorgen kann, ich habe über mich mehr Beobachtungen als ein Arzt nach monatelangem Zusammensein hätte. Herzlich dankbar! Über Kiste und Bücher nächstens. Den innigsten Gruß unsrer lieben Mutter.
18. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Venedig, 27. März 1880>
Heute beziehe ich die neue Wohnung, so gelegen, daß ich einen langen schattigen Spaziergang (c. 20 Minuten) am Ufer habe und vom Fenster frei aufs Meer blicke (in der Stadt war mir’s zu bedrückt). Mein Zimmer ist 22 Fuß hoch, 22 Fuß breit und 23 Fuß lang, mit schönem Marmor, eine Prachttreppe führt hin, dabei die sonderbarste Dürftigkeit. Es ist mein Fund. Sendet mir gleich den Koffer und legt folg<ende> Bücher hinein Spencer (Thats<achen> der Ethik); Baumann (Ethik), Martensen (Ethik) dann Stendhal, 2 Bd., Gsell Fels Südfrankreich, das Büchlein über die griechischen Inseln, liebe Lisbeth, dann den dicken Band über Byron (in den Köselitziana, die ich in Basel ließ; sende mir doch das Verzeichniß davon) Handschuhe, Handtücher, ein Glas und Tellerchen und Eierbecher usw.) Von einem bösen Anfalle noch nicht erholt. — Lido besichtigt wegen der Meerbäder im Sommer: gut! Herzlichsten Dank für Brief.
F.
Bitte! eine Büchse voll gemahlenem Caffe.! und Maizena. Tag vor Ostern. — Köselitz’ Adresse.
19. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Venedig, 17. März 1880>
Liebster Freund, ich weiß noch nicht, wie Venedig thut, vielleicht besser als ich erwartete. Einstweilen erst ein sehr böser Anfall. — Heute beziehe ich ein von mir gefundenes Logis, nach meinen Bedürfnissen nicht in den engen Lagunen gelegen, sondern frei wie am Meere, mit dem Blick auf die Todteninsel. V<enedig> hat das beste Straßenpflaster und Schatten wie ein Wald: dabei keinen Staub. Das Wetter hell. Der Lido hat sich auch legitimirt. Möge Dir und Deiner lieben Frau Alles gut gehen!
Denkt meiner in Liebe! Euer F. N.
Immer noch die Adresse von Köselitz.
20. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Venedig, 2. April 1880>
Meine Lieben, es ist der erste Regentag in V<enedig> und ich spüre ihn etwas — aber im Ganzen thut mir der Ort viel wohler als Riva. Die Lebensweise ist sehr gut eingerichtet, ich werde wohl den Sommer hier bleiben. Kös<elitz> liest mir vor, er kommt 1/4 nach 2 Uhr und Abends halb acht, jedesmal auf 1 bis 1 1/2 Stunde. Die hohen Räume und die Stille kommen meinem Schlafe zu Gute, auch habe ich die Meerluft aus erster Hand, noch nicht durch Venedig verdorben. — Mein Koffer trifft wohl nun bald ein? — Versteht diese Karte nicht falsch und erhebt kein Triumphgeschrei, im Einzelnen geht es von Tag zu Tage wie immer, aber ich spüre eine calmirende Wirkung.
Von Herzen Euer F.
21. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Venedig, 2. April 1880>
Lieber fürsorglicher Freund, ich empfehle nach K<öselitz>’s reichlicher Erfahrung: sende das Geld in einem gewöhnlichen rekommandirten Briefe (an Kös<elitz>’s Adresse) ohne jede Geldangabe darauf, nur 500 frs., in einer französ. oder eidgenössischen Banknote (ja nicht Basler Bank). Die andern 250 frs. lege auf die Handwerkerbank. — Daß ich Dich so bemühe!! — Mein Zimmer ist 22 Fuß hoch, die Meerluft habe ich aus erster Hand, ich spüre die calmirende Wirkung des Ortes. Ich habe noch kein Bild gesehen und mache mir aus Kirchen nicht genug. Sehr viel mehr aus Kirchengeschichte! und darum meine herzliche Gratulation zu deren neuester Förderung. Dir und der Deinen in herzlicher Freundschaft ergeben
F. N.
22. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Venedig, 11. April 1880>Sonntag.
Meine Lieben, der Koffer ist noch nicht da, unsre Briefe haben sich gekreuzt, und die Euren waren mir eine große Freude. Das Wetter war inzwischen fortdauernd scheußlich, Scirocco, Regen: demnach kann ich nichts Gutes melden.
Meine Wohnung hat sich aber bisher als gut gewählt erwiesen.
Mit dankbaren Grüßen Euer
F.
23. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Venedig, 11. April 1880>
Der Werthbrief kam glücklich und billigst <10 ct.> in meine Hände, schönsten Dank! Lieber Freund, wir hatten wochenlanges Regenwetter und Scirocco. — Meine Wohnung ist 22 Fuß hoch und ruhig, wie am Ende der Welt. Ich denke mit großem Vergnügen an den deutsch werdenden St. B<euve> (Wollt Ihr eine komische Travestie seiner Art, so lest Balzac, les caprices de Claudine) Weißt Du vielleicht, wo meine Bände Stendhal sind? Du schriebst mir einmal von einem Bücherverzeichniß. Bitte, abonnire für mich in der Buchhandlung Festersens auf das wöchentl<ich> erscheinende Verzeichniß neuer Bücher, das man mir früher zusandte. Doch will ich es immer vierteljährlich haben, den ersten Band von diesem Jahre also jetzt. Kös<elitz>’s Adresse>. K<öselitz> empfiehlt sich, er hat viel zu thun, wir sehen uns erst den Abend, er liest Stifter vor.
Dein Fr N.
24. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Venedig, 21. April 1880>
Schönsten Dank für Eure Briefe, ich hoffe daß Du, liebe Lisbeth Dich wieder ganz der Gesundheit erfreust und daß Deine Reise, meine liebe Mutter, glücklich gelingt. Hier ist das Wetter ganz unbeständig; es fängt an warm zu werden, auch die Mücken kommen. Jetzt muß sich meine Wohnungs-Wahl bewähren. Das Wasser ist besser hier als in Naumburg. Von Dr Rée erträgliche Nachrichten. Von den Bayreuther Bl<ättern> will ich nichts hören, ich lese sie nicht mehr seit Juli 1877. Wenn Du, meine liebe Schwester, beim Lesen der Revue des deux mondes ein Buch sehr empfohlen findest (historisch oder philosophisch), so schreib es mir, ich werde sehr dankbar sein. Meine und Köselitzens herzlichste Empfehlungen.
25. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte).
<Venedig, 28. April 1880>
Der richtige Titel des neulich genannten Buchs v<on> Balzac ist un prince de la Bohême. Sehr Beachtenswerthes über St. Beuve finde ich bei George Sand, histoire de ma vie, 6tes Capitel des letzten Theils <cinquième partie>
Alles Buchhändlerische ist angekommen. Allerbesten Dank.
Scirocco sempre.
Ich hätte gern den Catalog der Bücher, welchen die socialistische Buchhandlung in Zürich vertreibt. Wie ist deren genauere Adresse?
Das Herzlichste für Dich und Deine liebe Frau.
F. N
26. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Venedig, 3. Mai 1880>
Willst Du mir, meine geliebte Schwester, die Overbecksche Bücherliste gelegentl<ich> übersenden? Und mir die 200 M., von denen Du schriebst, in zweckdienl<icher> Art anlegen? (doch so, daß ein Rest für Geburtst<ags>geschenke bleibt, es ist unsinnig, aus dieser Fern<e> und bei diesen Zollschwierigkeiten etwas zu schicken.) Es wird Dich viell<eicht> freuen zu hören, daß ich vornehml<ich> von Reis und Kalbfleisch lebe. Mein Magen hat seit meiner Abreise nicht die geringste Schwierigkeit gemacht. Dagegen ist die geistige Diät ein unglaublich schwieriges Ding für einen produktiven Menschen, und jeden Verstoß (dessen ich mich oft zu spät bewußt werde) muß ich mit einem Anfall büßen. Darin sind die Ärzte ganz ohnmächtig, nur eigne Vernunft kann helfen und hat bei mir schon viel geholfen. (Rechne, ich bitte, Maizena, Café, Hemden usw. auf mein Conto) Ich lebe sehr sparsam, es ist hier nicht schlimm
In Liebe Dein Br<uder>
27. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Venedig, 3. Mai 1880>
Meine liebe Mutter, der Koffer ist doch noch gekommen, fast wäre er als unbestellbar zurückgegangen, die Hausnummer war falsch, die Post hat 8 Tage nach Hrn. Kös<elitz> gesucht. Er kostete mich 10 frs. und einen Tag Herumlaufens und Herumstehens. Ich danke für alles, was darin ist! Die Hemden sind etwas zu prachtvoll für mein Auftreten, aber wozu weiße Handtücher? Darf ich sie verkaufen? Ich muß sehr Platz sparen. Die Rundtheilchen sind das erste Zuckergebäck, das ich hier esse. Maizena gebrauche ich zur Abendsuppe. Die Filtrirmaschine war auch unnöthig. Meine Wohnung bewährt sich fort und fort, bei dem abscheulichsten Wetter. Ich schlafe besser als irgendwo. Meine Zimmerthür ist 9 Fuß. Eine 8 theilige grüne spanische Wand macht das ungeheure Zimmer wohnlicher. Immer Regen und Sturm.
In herzlicher Liebe
De<in> Sohn.
28. An Ida Overbeck in Basel
<Venedig,> den 24 Mai 1880
Liebe verehrte Frau Professor, ich danke Ihnen auf das Allerherzlichste — aber einen kleinen Gewissensbiss habe ich doch gehabt: es schien mir, dass ich einen solchen Act Ihrer Güte hätte auf jede Weise verhindern müssen, und ich habe nichts gethan!
Der Aufsatz ist nicht so „aus der Sache“ gewachsen, wie andere des gleichen Verfassers, aber ich bin jedem dankbar, der Sache auch nur streift. Zu wissen, wie sich höhere Culturzeiten, als die unsere ist, mit den bittersten Schmerzen abgefunden haben — das ist doch sehr wichtig, und man dürfte wohl sehr viel mehr Kraft und Wissen hierfür aufwenden, als Ms. A<lbert> sich diesmal zu Gebote stellte. Auch soll man nicht alle solche Dinge allzuviel mit christlichen Dingen zusammenstellen, man bekommt sonst falsche Farben.
Die Einwände gegen Seneca’s Art zu trösten — wie wenn er gerade sie hätte hervorrufen wollen? Er mochte nicht das Wort aussprechen, auf welches es ihm ankam; er meinte, eine solche Trauer sei für eine Frau dieses Ranges (in jedem Sinne) nicht mehr anständig — was rieth er denn? Das, worüber er sein ganzes Leben meditirt hat, was der allzeit gegenwärtige Gedanke in seinen Schriften ist, auch wenn kein Wort davon dasteht — den Selbstmord. Nur bei diesem Worte verschwinden die Einwände; und jene vornehme Seele sollte es selber finden! Ms. A<lbert> hat statt dessen Lorbe<e>rn für das Christenthum pflücken wollen. — Vielleicht thue ich mit der Hypothese Beiden Unrecht. —
Meinem Freunde sagen Sie insbesondere für Alles Dank, was er mir neulich durch Hr. Köselitz sagen liess; es erquickt so, sich in der Ferne und doch in solcher Nähe der Empfindung mit einander zu wissen. Z. B. haben wir Beide kein Wort mehr nöthig — zur Verständigung über Juden und Judengenossen. Ich gestehe, alle Nachrichten aus Deutschland werden mir lästig und fremd, und meine Gesundheit zwingt mich fast, der Conservirung halber mich zu verlöthen, wie eine Büchse.
Leben Sie wohl!
Innig dankbar
und ergeben
F Nietzsche
Aus Venedig, der Stadt des Regen’s, der Winde und der dunkeln Gässchen.
Glauben Sie der George Sand nichts über Venedig (das Beste daran ist Stille und schönes Pflaster)
29. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Venedig, 28. Mai 1880>
Deinem Briefe, der mir recht wohl that, meine liebe Schwester, antworte ich mit einer kleinen Liste jetziger Preise von Venedig.
Kirschen ein Pfund
15 Pfennige
Feigen (ganz leidliche) Pfund
24 Pfennige
Graham-Brot 1 1/2 Pfund
28 Pfennige
Beefsteak
45 Pfennige
Risotto
38—45
Maccaroni
24 Pfennige
Kalbsbraten in Citronensauce
38 Pfennige
Eier 2 Stück
10 Pfennige
Zucker, bester, gestoßen, das Pfund 68
ein großer Schwamm 24 Pfennige
alles auf Euer Geld reduzirt, mit Rücksicht auf den gegenwärtigen Curs. — Dabei klagt man noch, wie theuer alles geworden sei. — Ich werde die Meerbäder in diesen Tagen anfangen.
Denkt meiner, Ihr Lieben es geht so, so, ich mag nicht mehr die Einzelheiten schreiben. Euer F.
30. An Paul Rée in Stibbe (Postkarte)
<Venedig, 28. Mai 1880>
Ach liebster Freund, daß gerade Ihnen solche Wunden geschlagen werden! Ihnen, dem ich, — ich kann gar nicht sagen, wie sehr — eine gleichmäßige warme friedliche Sonne wünsche, vom Morgen bis zum Abend des Lebens, damit die ganze Fülle edler Früchte ohne Schärfen und Säuren reif und vollkommen werde. Aber der Gott der Kannibalen und Asketen hat Freude, wenn gerade solche Menschen, wie Sie sind, leiden, es ist die reine Grausamkeit. — Und dabei denken Sie noch an mich und geben mir wieder einen Trunk der besten Milch! — Das ist und bleibt für mich W. Scott und und ich danke Ihnen sehr dafür.
In herzlicher Liebe Ihr
F.N.
31. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Venedig, 15. Juni 1880>
Herzlichen Dank für Deinen lieben Brief. Inzwischen Regen und Wind unausgesetzt Tag für Tag, die 2 letzten ausgenommen. In den dunkeln Gäßchen zu gehen thut meinen Augen wohl, es giebt wenig Orte, die für mich passen. Auch habe ich nichts geschrieben außer den Karten an Euch und Overbeck (an Euch von Venedig aus 10 Karten, diese mitgerechnet) Frau Overbeck hat eine große französ<ische> Abhandl<ung> (von P. Albert) ins Deutsche für mich übersetzt. Dr. Rée hat seine Pflegeschwester (27 Jahr alt) verloren. Der Caffé ist wohlschmeckend, aber nicht gerade stark. Die neuen Hemden kneifen am Halse, etwas zu eng. Ich habe die Zahnbürsten nicht gefunden und mir welche gekauft. Meine Lebensweise ist sehr zweckmäßig, aber für jeden Anderen „unausstehlich“. Das hilft nichts! Denkt meiner, Ihr Lieben.
Von Herzen F N
32. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Venedig, 15. Juni 1880>
Wenn ich Briefe schreiben könnte, wie Deine liebe Frau sie schreibt, so würde ich ihr antworten (trotz aller Augen); so aber schäme ich mich und ziehe vor, ihr durch Dich, liebster Freund, meinen allerherzlichsten Dank auszusprechen. Nachträglich muß ich dies auch noch für den Katalog ihrer Handschrift thun, der mir jetzt von Naumb<urg> geschickt wird und mir nützlich ist. — Das Buch von Siebenlist ist ein Stück Schopenhauer-Philologie, gegen das nichts (oder alles!) einzuwenden wäre. — Drei Seebäder genommen. Ich denke bald abzureisen und würde es am liebsten sehen, wenn ich das Geld vorher hier empfienge (250 + 750, bitte ganz wie das letzte Mal, 2 franz. Scheine à 500, keine Werthbezeichnung, Adresse aber an Köselitz, nicht an mich, ich habe solche Schwierigkeit mich zu legitimiren) Wären für den Augenblick viell<eicht> nur 500 frs. zu schicken da, so möge das Andre zurückbleiben. Die Abreise drängt, es ist sehr warm.
Dein Freund.
33. An Franz Overbeck in Basel (zwei Postkarten)
<Venedig, 22. Juni 1880>
Liebster Freund, das Geld ist angekommen, schnell zum Erstaunen. Ich wußte noch nicht bestimmt, wohin reisen; auch heute weiß ich es noch nicht, wahrsch<einlich> nicht weit weg, in Wälder, deren Schatten man mir garantirt <im Krainischen> Genaues baldigst! nebst der neuen Adresse. Wäre es Dir möglich, 2 theolog<ische> Bücher auf 4 Wochen zu entbehren? nämlich Lüdemann’s Anthrop<ologie> des Paulus und das Buch über Justinus, welches Du mir öfter genannt hast. Dann möchte ich Wackernagels gedruckten Aufsatz über die Bramanen und seinen andern (ungedruckten?) über den Buddhismus. Siehst Du ihn gelegentlich? — Ich habe Deine „Christlichkeit“ wieder durchgelesen, mit sehr viel Freude an dem erstaunlich reichen Inhalte und der vorzüglichen Disposition, ich bin dieser Lektüre etwas würdiger geworden, denn ich habe inzwischen über mancherlei nachgedacht und zwar rechts und links.
Ich freue mich sehr, daß J. Bur<c>khardt meiner noch gedenkt.
(Fortsetzung.) Als Du das Buch schriebst, habe ich wie ich jetzt mit Beschämung merke, neun Zehntel nur zu verstehen geglaubt. Es sind so viele feine Linien darin, daß man recht genau zusehen muß, um alle Freude zu haben. — Von meinen Schriften höre ich kein Wort; glaube ja nicht, daß ich damit unzufrieden bin! — Schm<eitzner>’s neuestes Unternehmen von dem Du schreibst, widert mich an; ich bin ungehalten, daß er nicht ein Wort gegen mich davon gesagt hat. — Meine Gesundheit hat in Venedig sich besser befunden als in Naumburg und Riva, mein Aussehen ist gut. Im Übrigen noch sehr beim Alten. — Von Dr. Rée beunruhigende Nachrichten. — Dir und Deiner lieben Frau die herzlichsten und dankbarsten Grüße sendend
Dein Freund.
34. An Louis Kelterborn in Basel (Postkarte)
<Venedig, 27. Juni 1880>
Das waren gute und erfreuliche Worte, die Sie an mich richteten, lieber Herr Doktor, und die Stimmung Ihres Briefes gieng auf mich über und ließ mich Ihrer und Basels sehr herzlich und dankbar gedenken. Gar zu gern möchte ich Ihnen das gewünschte musikal<ische> Unthier (welches unverdientermaßen Ihre Mitempfindung erregt hat) senden, aber ich weiß gar nicht, in welchem Walde es jetzt haust, mein Abschied von Basel hat mein Hab und Gut für mich ganz unhablich gemacht; dies ist in Zürich und jenes in Naumburg, und in Kisten vernagelt, die nicht von mir gepackt sind, so daß ich nicht weiß, was drin ist. Später also, lieber Freund! — Inzwischen bleiben Sie, was Sie waren, in gutem Muthe und im Vorwärtsstreben sich selber treu. —
Der Antheil des ausgezeichneten Malers Hr. Br<ünner> ehrt mich sehr: ihm und ebenso Hrn. Huber meinen ergebensten Gruß.
Dr F.N.
35. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Marienbad, 5. Juli 1880>
So bin ich denn, lieber Freund, endlich in eine Art Nothhafen eingelaufen, nach der unangenehmsten Irrfahrt, die ich bisher gemacht habe. Alles, was ich mir in Krain Kärnten Tirol angesehn habe, paßte nicht für mich; vielmehr, es war Alles unmöglich. Jetzt also Marienbad in Böhmen — aber 2 Tage Regenwetter bisher. Die Reise hat meiner Gesundheit sehr geschadet, ich war ein paar Mal fast in Verzweiflung. Die Bergwelt erschien mir unbedeutend und „blödsinnig“ (ich habe in Bezug auf Gebirge zu viel Calame’ische Ansprüche — dies wurde mir auf der Reise zur Calamität) Verlassen Sie das gute Venedig nicht so leicht, die Menschen sind hier so häßlich, das Beefsteak kostet 80 Kreuzer, man ist wie in einer schlechtern Welt. Möge Ihnen oft die Stunde der Erhebung und Schönheit kommen! und sagen Sie es mir, wenn es Ihnen so geht: niemand kann daran mehr Freude haben als
Ihr Freund
F.N.
|| Marienbad Böhmen, „Ermitage.“ ||
36. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Marienbad, 5. Juli 1880>
Meine Lieben, ich habe eine sehr schlechte Reise gemacht, um Wald und Berg zu suchen: alles enttäuschte mich oder vielmehr: es war für meine Augen unmöglich. So habe ich mich denn nach Marienbad in Böhmen zurückgezogen, mein Wohnhaus heißt Ermitage. Bisher aber Regen, Regen und Schmutz. Gräßlich theuer, das Beefsteak 80 Kreutzer. Kein Bissen schmeckt mir, und so gieng es auf der ganzen Reise. Ich finde nicht, was mir recht ist, und wie ich’s in V<enedig> hatte. Dort wurde es aber zu heiß. Selbst die Wälder sind mir noch nicht tief genug. Meine Gesundheit war während der ganzen Reise so schlecht wie möglich, bis zum Verzweifeln, ich schlief keine Nacht vor Schmerz. — Da bin ich Euch nun wieder recht schön nah. Länger als 4 Wochen halte ich hier nicht aus, dann geht es in den Thüringer W<ald> wo er am tiefsten ist.
In herzlicher Liebe Euer F.
37. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Marienbad, 7. Juli 1880>
Lieber Freund, nach einer sehr unangenehmen und enttäuschenden Reise bin ich endlich hier, in Marienbad (in Böhmen) gelandet, meine Augen brachten mich an allen den angeblichen „Waldorten“ die ich inzwischen sah, fast zur Verzweiflung. Hier geht es besser. Ich wohne im Wald: „Eremitage“ heißt es. Ich träume davon, daß wir uns viell<eicht> diesen Sommer wiedersehen? — Im Fall Du die Bücher, von denen ich neulich schrieb, entbehren kannst, sende sie, ich bitte; ich habe inzwischen so oft über „christliche Moralität“ nachgedacht, daß ich förmlich heißhungrig nach einigem Stoff für meine Hypothesen bin.
Dir und Deiner verehrtesten lieben Gefährtin die guten Wünsche eines Wassertrinkers und Waldläufers.
38. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Marienbad, 7. Juli 1880>
Meine geliebte Schwester, ich hätte Dir wohl etwas zu senden, um auch meinerseits unter den Feiernden Deines Geburtstages geziemend vertreten zu sein: heute aber, wo ich mir die Sache genau überlege, sehe ich nicht ein, wie ich den angedeuteten Gegenstand (+), eine Erinnerung an Venedig, unzerbrochen in Deine Hände befördere; hier habe ich anjetzo Niemanden, der mir in solchen Dingen zu Rathe ist, und so scheint mir das Rathsamste, bis auf unser Wiedersehen zu warten — was mir freilich sehr leid thut. So mögen denn meine allerherzlichsten Glückwünsche ihren Weg allein zu Dir laufen: und vielleicht dauert es nicht zu lange, da feiern wir den 10 Juli noch einmal — in diesem Jahre, wo alle Monatstemperaturen durch einander laufen und jetzt zB. ein ganz artiges Spät-Oktober Wetter herrscht, muß alles erlaubt sein. — Ich habe Kopfschmerz und darf nicht mehr schreiben. Das ist freilich nichts, meine liebe Lisbeth, aber mit mir ist überhaupt nichts mehr, leider, leider. Genug, daß ich Marienbader Wasser und Wälder gebrauche und in beiden Dein Fest zu feiern versuchen werde
In Liebe Dein Bruder.
(+) etwas blaue Seide und etwas Silber ist dran, Venediger Arbeit, sieht hübsch aus und ist unnütz, wie alles Hübsche.
39. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte).
<Marienbad, 10. Juli 1880>
Meine liebe Mutter, ich freue mich, daß Ihr heute einen schönen Tag habt: für uns hier ist es der erste. Ich leide an Müdigkeit und bösem Humor und nehme an, daß es die Wirkung des Wassers ist. Kopfschmerzen habe ich so viel wie voriges Jahr, das bleibt sich für St. Moritz Venedig Naumburg und Marienbad fast gleich, trotzdem glaube ich einen Fortschritt gemacht zu haben, denn die Schmerzen sind nicht so intensiv mehr. Die Wälder sind sehr schön hier — und doch für meine Augen noch nicht ausreichend. Anfang August will ich nach Ruhla (oder anderswohin?), dort kann man, denke ich, gute Wellenbäder haben? Und ist der Wald wirklich unmittelbar dabei? Heute Eurer in besonderer Herzlichkeit gedenkend
Euer F.
Adresse: „Eremitage“! Marienbad in Böhmen.
40. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Marienbad, 18. Juli 1880>
Mein lieber Freund, noch immer denke ich täglich einigemal an die angenehme Venediger Verwöhnung und an den noch angenehmeren Verwöhner und sage nur, daß man’s eben nicht lange so gut haben darf und daß es ganz recht ist, jetzt wieder Eremit zu sein und zehn Stunden des Tages als solcher spazieren zu gehen, fatale Wässerchen zu trinken und ihre Wirkung abzuwarten. Dabei grabe ich mit Eifer in meinem moralischen Bergwerke und komme mir dabei mitunter ganz unterirdisch vor — es scheint mir jetzt so als ob ich inzwischen den leitenden Gang und Ausweg gefunden hätte, indessen will so etwas hundertmal geglaubt und verworfen sein. Hin und wieder tönt ein Echo Chopinscher Musik in mir, und das haben Sie nun erreicht, daß ich dabei immer an Sie denke und mich in Sinnen über Möglichkeiten verliere. Mein Vertrauen ist sehr groß geworden, Sie sind viel fester gebaut als ich vermuthete, und abgesehn von dem schädlichen Einfluß, den gelegentl<ich> Hr. Nietzsche auf Sie geübt hat, sind Sie von allen Seiten gut bedingt. Ceterum censeo Berge und Wälder seien besser als Städte, und Paris besser als Wien. Darauf kommt aber nichts an.
Unterwegs kam ich mit einem höheren Geistlichen in Verkehr, welcher zu den ersten Förderern alter kathol<ischer> Musik zu gehören schien, er war jeder Detailfrage gewachsen. Ich fand ihn sehr eingenommen für Wagner’s Arbeit an Palestrina; er sagte, das dramatische Recitativ (in der Liturgie) sei der Keim der Kirchenmusik, und wollte darnach auch den Vortrag so dramatisch wie möglich. Regensburg sei jetzt die einzige Stadt auf Erden, wo man die alte Musik studiren, vor allem aber hören könne (namentlich in der Passionszeit)
Haben Sie von dem Brande von Mommsen’s Hause gelesen? Und daß seine Excerpten vernichtet sind, die mächtigsten Vorarbeiten, die viell<eicht> ein jetzt lebender Gelehrter gemacht hat? Er soll immer wieder in die Flamme hineingestürzt sein, und man mußte endlich gegen ihn, den mit Brandwunden bedeckten, Gewalt anwenden. Solche Unternehmungen wie die M<ommsen>’s müssen sehr selten sein, weil ein ungeheures Gedächtniß und ein entsprechender Scharfsinn in der Kritik und Ordnung eines solchen Materials selten zusammen kommen, vielmehr gegen einander zu arbeiten pflegen. — Als ich die Geschichte hörte, drehte sich mir das Herz im Leibe um, und noch jetzt leide ich physisch, wenn ich dran denke. Ist das Mitleid? Aber was geht mich M<ommsen> an? Ich bin ihm gar nicht gewogen. —
Hier in der allein im Walde gelegen<en> Eremitage, deren Eremit ich bin, ist seit gestern große Noth: ich weiß eigentlich nicht, was geschehen ist, aber der Schatten eines Verbrechens liegt auf dem Haus. Man hat etwas vergraben, Andre haben es entdeckt, man hörte schrecklich jammern, viele Gensdarmen waren da, Haussuchung fand statt, und nachts hörte ich im Zimmer neben mir jemand schwer gequält seufzen, so daß mich der Schlaf floh. Auch schien in der tiefsten Nacht wieder im Walde gegraben zu werden, aber es fand eine Überraschung statt, und es gab wieder Thränen und Geschrei. Ein Beamter sagte mir, es sei eine „Banknotengeschichte“ — ich bin nicht neugierig genug, um so viel zu wissen, wie viel wahrsch<einlich> alle Welt um mich weiß. Genug, die Waldeinsamkeit ist unheimlich.
Ich las eine Novelle von Mérimée, in der H. Beyle’s Charakter geschildert sein soll: „die etrurische Vase“; es wäre, falls dies wahr ist, jener St. Clair. Das Ganze ist spöttisch, vornehm und tief schwermüthig.
Zuletzt eine Reflexion: man hört auf, sich selber recht zu lieben, wenn man aufhört sich in der Liebe zu Andern zu üben: weshalb dies letztere (das Aufhören) sehr zu widerrathen ist. (Aus meiner Erfahrung.) Leben Sie wohl mein geliebter und sehr werthgehaltener Freund, gehe es Ihnen gut bei Tag und Nacht.
Treulich Ihr F.N.
In Ihrem Verhalten zum Deserteur würde Schopenhauer einen Beweis für die Unveränderlichkeit des Charakters sehen — und Unrecht dabei haben, wie fast immer.
41. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Marienbad, 19. Juli 1880>
Mein lieber Freund, Deine Sendung und Überraschung thut die angenehmste Wirkung. Deine eignen Abhandl<ungen> sind sehr feine Sachen, es weht eine so gut-philologische Luft darin, daß mir ordentlich schwer zu Muthe wird. Nach der Geschmeidigkeit des Stils zu schließen, möchte ich glauben, Du habest Lust dabei gehabt. — Aber was ist Engelhart für ein greulicher Typus! Da er alles so viel besser weiß als Justin, so versteht er wahrscheinl<ich> denselben doch nicht, aus Hochmuth schon. Dagegen ist Lüdemann’s Arbeit ein Meisterstück auf einem sehr schwierigen Felde: leider ist er kein Schriftsteller. (Wackern<agel> will ich ein Wort des Dankes schreiben.) Mit meinen Augen steht es freilich sehr schlimm, ich kann sie nicht mehr schonen als ich sie schone, und doch vertragen sie eigentlich weder Lesen noch Schreiben mehr; gelegentlich eine Viertelstunde zu finden ist das Kunststück. — Herrlicher Gedanke: Wiedersehn in Naumburg. Deiner lieben Frau und den hochverehrten Verwandten in Zürich meine herzlichsten Grüße.
F.N.
42. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Marienbad, 19. Juli 1880>
Meine gute liebe Schwester, Dein vergnügter blauer Brief ist mir ordentlich gut bekommen: Tags darauf hatte ich den besten Tag bisher. Jetzt haben wir im Hause Trübsal, der Besitzer ist plötzlich ins Gefängniß geschafft worden, Gensdarmen kamen und gruben eine Druckmaschine für falsche Banknoten aus, Haussuchung und viel Jammer hinterdrein. Die arme Frau ist seit 3 Tagen in der vollsten und tiefsten Verzweiflung. Wie ich gesagt habe: im nächsten Monat will ich nach Ruhla, hoffentlich sind die Wälder dort so gut als hier. Aber hier zu bleiben auf die Dauer — für mich geht es nicht. Für einen Gulden kann ich mich hier nicht satt essen. Alles ist 3—5 mal so theuer als in Venedig. Der Sommer ist, merke ich, doch meine beste Zeit. In Ruhla sehen wir uns? Die herzlichsten Grüße unsrer guten Mutter
43. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Marienbad, 27. Juli 1880>
Vielleicht, meine Lieben, sind meine letzten Karten nicht in Eure Hände gekommen, das Letzte, was ich von Euch bekam, war der liebe und mir herzlich wohlthuende Brief: vom 12t. d. M. Wenn nicht „Eremitage“ darauf steht, kommt kein Brief in meine Hände, die Menge der ab- und zuströmenden Fremden ist zu groß. (Es sind übrigens drei Viertel Juden) Gestern und heute Regenwetter; ich war nicht am Brunnen, was mich ärgert. Nächste Woche will ich fort, aber der Thüringer W<ald> ist, wie ich erst jetzt aus den Karten sehe, entsetzlich weit von hier, und Nordböhmen soll so schöne Waldorte haben. Ich denke eine moderirte Kaltwasserkur zu gebrauchen und glaube dann den Sommer gut angewendet zu haben.
In herzlicher Gesinnung Euer F.
Warum schreibt denn unsre gute Mutter kein Wörtchen mehr?
44. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Marienbad, 2. August 1880>
Hier, lieber Freund, eine Zeile Dankes für Ihren letzten mannichfach mich bewegenden, auch beunruhigenden Brief; auch bitte ich Sie dringend, das Wort „nachsichtig“ zu streichen; Sie wissen immer noch nicht, wie ich von Ihnen denke, weder vorsichtig, noch nachsichtig — Sie haben mein Vertrauen, und ich wünschte in diesem Punkte wenigstens das Ihre zu haben. Aber es ist seltsam zu beobachten: wer vom herkömml<ichen> Allerweltsweg frühzeitig abweicht, um seinen rechten Weg zu gehen, hat immer das halbe oder ganze Gefühl eines Exilirten, eines von den Menschen Verurtheilten und Entflohenen: diese Art schlechten Gewissens ist das Leiden der selbständig Guten. Das Heilmittel ist — was meinen Sie? — ein großer Erfolg bei eben denen, welchen man aus dem Wege gegangen ist. — Bitte, lassen Sie sich 3 Aufsätze Ihrer freien Presse nicht entgehen: (vor 4 Wochen) George Sand und A. de Musset. (vor 8 Tagen Stifter als Landschaftsmaler, und Hekt. Berlioz in seinen Briefen. — Die letzte Zeit immer in einer unbändig gehobenen Stimmung! Morgen Abreise — Sehr getreu Ihr Freund F. N.
45. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz (Postkarte)
<Marienbad, Anfang August 1880>
Bitte, bitte! Auch mir eins der ersten Exemplare! Und so rasch wie möglich! Zusammen mit dem für P<rofessor> Overbeck.
46. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte).
<Marienbad, 2. August 1880>
Morgen will ich, meine Lieben, von hier abreisen. Ich kann nicht bestimmt sagen, wohin? Es giebt so wenig Orte, wo ich es aushalte. Leider ist es regnerisch, seit 2 oder 4 Tagen schon. — Deinen Brief, meine liebe Mutter, bekam ich doch noch, nach 6 Tagen! (es fehlte die genaue Adresse — aber warum?) es stehen lauter heitere Sachen darin: möge Eurem Kirschfest gutes Wetter bescheert sein. Overbecks werden vom 12t. August ab in Dresden sein, ihr Rückweg führt nicht über Naumburg; dagegen würden sie, nach dem letzten Briefe, Anfang September nach Naumburg kommen, wenn ich dann schon dort sei. Sehr möglich, daß ich die Heimreise über Dresden mache (je nach der Wahl meines Kurortes) Mein Befinden ist nicht unbefriedigend, und nichts kann regelmäßiger sein als meine Lebensweise! Ich bin mindestens 8 Stunden täglich unterwegs: so halte ich das Leben aus. Ich denke an Dich und unsre liebe Lisbeth mit dem herzl<ichen> Wunsche des Wiedersehens.
F.
47. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Marienbad, 12. August 1880>
Immer noch bin ich, meine Lieben, in Marienbad, das Wetter ist Tag für Tag und Wochenlang abscheulich, ewiger Regen und grauer Himmel. Mein Befinden hat sich langsam dabei verschlimmert, es gab wieder heftige Anfälle mit Erbrechen usw. — Doch will ich ja diese Misère nicht mehr schreiben. Wie lange entbehre ich schon das, was mir so merklich wohl thut, reine Luft und Sonne! Ich werde wohl nun bis zu Ende des Monates hier bleiben, ich bin zu mißtrauisch gegen Ortswechsel und finde so selten etwas für mich Geeignetes. Hier habe ich doch den Wald und die guten Wege darin, die ich oft unter Regen gehe. Anfang September komme ich zu Euch und denke da ein stilles wohlthuendes Herbstleben zu finden. Mitte Oktober aber führt es mich wieder südwärts, es hilft nichts — bis jetzt vertrage ich Deutschland noch nicht. Ich denke in vieler Liebe an Euch.
F N.
48. An Ida Overbeck in Dresden
<Marienbad, 18. August 1880>Mittwoch früh.
Vor einer Stunde, liebe Frau Professor erhielt ich die „Menschen des 18. Jahrhunderts“, ich blätterte darin und sah dies und jenes gute Wort und hinter jedem guten Wort so viel, viel mehr! Es entzückte mich, und zugleich ergriff mich das Gefühl einer tiefen unaussprechlichen Entbehrung. Ich glaube, ich habe geweint, und es müßte sonderbar zugehen, wenn dieses kleine gute Buch nicht manchem Anderen die Empfindung dergestalt erregte. —
Warum ich nicht schrieb? Weil ich seit 3 Wochen mit den Flügeln flattere, um von Marienbad fortzukommen — und weil drei Wochen beständigen Regenwetters mich festhielten, meiner Gesundheit nachtheilig waren und mich, durch den unaufhörlichen Wechsel von Erwartung und Enttäuschung fast um alle Entschlußfähigkeit brachten. Jetzt will ich geduldig noch bis Ende des Monats aushalten, und einen mittleren Grad von Wohlbefinden wieder zu erreichen suchen, den ich dem Walde, der Sonne, dem heitern Himmel und dem fatalen Trink-Wässerchen in den ersten Wochen meines hiesigen Aufenthaltes verdankte. Wäre es dabei geblieben, so würde ich meinen August in der Nähe Dresdens verbracht haben — so war mein Projekt, und ich schrieb nicht, um etwas Bestimmtes über die Zeit der Ankunft zu schreiben.
Aber immerhin! Es bleibt die schöne Hoffnung auf das Naumburger Wiedersehen! nicht wahr? — und die soll nicht zu Wasser werden! —
Heute feiert man hier den Geburtstag des Kaisers, aber ich kann mir inmitten der schwarzen und gelben Farben immer nur etwas Schreckliches, etwa den Geburtstag der Pest, denken. — Ich blickte noch einmal in Sainte Beuve. Er hat sehr feine Sachen gesehen: p. 19 redet er von der Ungezwungenheit des Ausdrucks (Font<enelle>’s) welche sich — wie eine heimliche List gegen die Großartigkeit der Dinge ausnimmt“ Das ist in der Art Pascal’s empfunden.
Meinem lieben Freunde und dem gesammten verehrten Kreise die ergebensten Grüße
Ihres dankbaren
sehr dankbaren
Friedrich Nietzsche.
49. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Marienbad, 20. August 1880>
Freund Köselitz, in meine Ernte- ja Erntefest-Stimmung klingt Ihr Brief hinein, zwar etwas düster, aber so gut und kräftig, daß ich auch heute wieder wie jedesmal mein Nachdenken über Sie mit dem Chorale zu Ende und zur Ruhe bringe
„Was K. thut, das ist wohlgethan,
Es bleibt gerecht sein Wille!“
Amen.
Sie sind aus stärkerem Stoffe als ich und dürfen sich schon höhere Ideale bilden. Ich für meinen Theil leide abscheulich, wenn ich der Sympathie entbehre; und durch nichts kann es mir z. B. ausgeglichen werden, daß ich in den letzten Jahren der Sympathie Wagners verlustig gegangen bin. Wie oft träume ich von ihm, und immer im Stile unsres damaligen vertraulichen Zusammenseins! Es ist nie zwischen uns ein böses Wort gesprochen worden, auch in meinen Träumen nicht, aber sehr viele ermuthigende und heitere, und mit niemanden habe ich vielleicht so viel zusammen gelacht. Das ist nun vorbei — und was nützt es, in manchen Stücken gegen ihn Recht zu haben! Als ob damit diese verlorne Sympathie aus dem Gedächtniß gewischt werden könnte! — Und Ähnliches habe ich schon vorher erlebt, und werde es vermuthlich wieder erleben. Es sind die härtesten Opfer, die mein Gang im Leben und Denken von mir verlangt hat — noch jetzt schwankt nach einer Stunde sympathischer Unterhaltung mit wildfremden Menschen meine ganze Philosophie, es scheint mir so thöricht, Recht haben zu wollen um den Preis von Liebe, und sein Werthvollstes nicht mittheilen zu können, um nicht die Sympathie aufzuheben. Hinc meae Iacrimae. —
Ich bin noch in Marienbad: das „österreichische Wetter“ hielt mich fest! Denken Sie, daß es seit dem 24. Juli jeden Tag geregnet hat, und oft tagelang. Regenhimmel, Regenluft, aber gute Wege im Walde. Meine Gesundheit gieng dabei wieder rückwärts; in summa bin ich aber mit Venedig und Marienbad zufrieden. Es ist gewiß hier seit Goethe noch nicht so viel gedacht worden, und auch Goethe wird nicht so principielle Dinge sich haben durch den Kopf gehen lassen — ich war über mich selber weit hinaus. Einmal, im Walde, fixirte mich ein Herr, der an mir vorübergieng, sehr scharf: ich empfand in diesem Augenblicke, daß ich den Ausdruck strahlenden Glücks im Gesichte haben müsse und daß ich schon 2 Stunden mit ihm herumlaufe. Ich lebe incognito, wie der bescheidenste aller Kurgäste, in der Fremdenliste stehe ich als „Herr Lehrer Nietzsche“. Es giebt viel Polen hier und diese — es ist wunderlich — halten mich durchaus für einen Polen, kommen mit polnischen Grüßen auf mich zu und — glauben es mir nicht, wenn ich mich als Schweizer zu erkennen gebe. „Es ist die polnische Rasse, aber das Herz ist Gott weiß wohin gewandert“ — damit verabschiedete sich einer von mir, ganz betrübt.
Anfang September bin ich in Naumburg. Dorthin kommen auch Overbecks. Auch Frau von Wöhrmann (sie löst ihren Haushalt in N<aumburg> auf und geht nach Venedig zurück) Der Sohn von Frau von W<öhrmann> und ebenso sein Freund Graf Werthern, die das Naumburger Gymnasium besuchen, kommen zu uns in’s Haus. Haben Sie die „Menschen des 18. Jahrhunderts“ von St. Beuve? Es sind herrliche Gemälde von Menschen und St. B<euve> ist ein großer Maler. Aber ich sehe über jeder Gestalt noch eine Bogenlinie, die er nicht sieht, und diesen Vorsprung gibt mir meine Philosophie. Meine Philosophie? Hole mich der Teufel! Und Sie möge der liebe Gott holen — er hat Freude an allen Köselitzen.
Treulich der Ihre
FN.
50. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Marienbad, 21. August 1880>
Meine Lieben, allerbesten Dank für Eure Nachrichten. Aber das Lama! Wie es über die Welt triumphirt, unter berühmten Thieren wandelt! Schließlich ist ihr der Bruder, der „der Welt entsagt“ und immer noch im Walde herumläuft, ein zu geringes und unansehnliches Thierlein geworden! Trotz alledem! er wird Ende August oder am 1 Sept. oder 2 Sept. nach Naumburg kommen. — Bis heute hat es jeden Tag, seit meinem letzten Briefe an Euch, geregnet. — Ist das herrliche gute Buch „Menschen des 18. Jahrhunderts“ in Euren Händen? Das ist die Art von Menschen, von deren Existenz ich ohne Rührung gar nicht hören kann, ich vermisse sie und finde an der Gegenwart nichts zum Ersatz. — Mein Befinden, in Folge der wunderbarsten Klugheit meiner Lebensweise, hat sich wieder etwas verbessert.
In herzlicher Liebe
Euer F.
Eben habe ich im Walde ein neugebornes Reh gefunden.
Falls Berbig mein Maaß hat, soll er mir sofort ein Paar Stiefeln machen.
51. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Marienbad, 23. August 1880>
Meine geliebte Schwester, ich antworte sofort: Overbecks Adresse ist Dresden, Sidonienstr. 7. III. Ich selber denke Mittwoch, spätestens Donnerstag im Anfange des September zu kommen. Die Nummer der „Gegenwart“ ist bisher nicht in meine Hände gelangt; was liegt auch an dieser Berliner Weisheit! — Zu den neuen Pensionären wünsche ich Glück, mehr Glück als vom alten zu erlangen war. So ist der Wunsch freilich sehr bescheiden: um so eher wird er in Erfüllung gehen. — Sind die Stiefeln in Arbeit? — In herzlicher Erwartung unsres Wiedersehens (eines sehr stillen Zusammenseins ohne andre Menschen)
Euer F.
Die „Gegenwart“ kam: hast Du sie gelesen? Es ist nichts draus zu lernen, aber Schmeitzner’s wegen mag sie gelobt sein!
52. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte).
<Stresa 14. Oktober 1880>
Meine Lieben, bisher war es die schlechteste aller Reisen, die Einzelheiten sind abscheulich. In Frankfurt ging das Erbrechen los, in Heidelberg legte ich mich zu Bett. Wieder auf der Mitte des Gotthard kam der Anfall, und ich war 3 Tage in Locarno krank. Jetzt habe ich mich hier in Stresa nolens volens (um meine Koffer abzuwarten) auf einen Monat eingemiethet, fortwährend melancholisch oder verstimmt (was durchaus nicht dasselbe ist) Das Wetter bringt mir überall Landregen und Scirocco. Ich bin erstaunt, wie wenig südlich dieser See ist (gar nicht zu vergleichen mit dem Gardasee!). Es ist noch recht schweizerisch hier, übrigens giebt es für den Nachmittag einen Schattenweg, für den Vormittag absolut nichts derart (keine hohen Mauern wie in Sorrent). Bis jetzt giebt es keine Speise die ich ertrage. Heute Versuch mit Tapioca. Adr. Stresa, Lago maggiore (Italia) poste restante. Es dankt Euch innig Euer
F.
53. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Stresa 14. Oktober 1880>
Inzwischen gieng es betrüblich, liebe Freunde! Immer krank, von der Mitte der Gotthardfahrt an, und verfolgt von Landregen. In Locarno blieb ich gezwungen 3 Tage, im übelsten Zustande. Was mir hier in Stresa zu Theil werden soll, wo ich einen Monat bleiben will (um meine Koffer abzuwarten), sehe ich nicht ab — Der See ist mir nicht südlich genug, man spürt schon den Anhauch des Winters. Dringend und umgehend erwünscht wäre mir die Sendung eines französisch-deutschen Wörterbuchs (klein, mit achtbarem Druck.) Adr.: Stresa, Lago Maggiore (Italia) poste restante. — Die Basler Stunden waren so erquicklich! Dankbar und innig grüßend
F. N.
54. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Stresa, 20. Oktober 1880>
Lieber lieber wunderlicher Freund, ich bin der Bösewicht, der sich rechtfertigen müßte, aber nicht kann: es sei denn, daß Sie den tiefen erbärmlichen Verfall meiner Gesundheit gelten lassen. Ich habe seit jenem Augustbriefe (den ich immer noch bei mir trage — er wiegt schwer) die Feder nicht in Tinte getaucht: so ekelhaft war, so gedulderheischend ist noch mein Zustand. Wirklich, ich hatte bei nichts Freude, außer wenn ich Ihrer gedachte und Das was Sie mir jetzt melden, in Betreff von „Sch<erz>, L<ist> und R<ache>“ hat mich gestern ganz umgeworfen, und ich lief einige Stunden in glücklicher Trunkenheit herum. So müssen sich die guten Künstler selber helfen, und den beengenden Druck aller Art in den Wind schlagen! Denken Sie, auch ich dachte mitunter, es sei Ihnen wohler zu Muthe, wenn ich wieder ferne sei — aber trotzdem, es verlangt mich doch sehr nach Ihnen, denn ich liebe Sie so als ich Sie ehre und schonen möchte. — Im November nach Neapel. Stresa, lago maggiore, poste restante.
In Treue und Vertrauen
55. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte).
<Stresa, 20. Oktober 1880>
Das sind heitere und gut gelungene Dinge, von denen Du schreibst, ich wünsche, daß alles so fort gehe. Bei mir immer noch Zustand der Erbärmlichkeit. Doch habe ich vorgestern einen Spaziergang voller Ruhe gemacht, ohne Freude, aber ohne Schmerzen — das war der Fortschritt, den ich sehr empfand. Die kleine Maschine bewährt sich herrlich, danke schön, meine liebe Schwester! Es ist kühl und nebelig. Meinen Geburtstag hatte ich vergessen, zum ersten Male. Bitte, geh zum Spediteur, wir müssen das Reiseziel des Gepäcks verändern, da ich die Seereise von Genua nicht machen werde (ich halte sie nicht aus, so wie es steht) Er soll einen Laufzettel nachsenden und nun so addressiren: Castellamare (presso di Napoli) Italia. Pensione Weiss.
Ich werde zu Lande reisen, in kleineren Stücken und 2. Klasse. Hier bleibe ich bis zum 10 November. Viel Geduld. Helft mir mit der Spediteur-Sache! Und denkt meiner in Liebe, wie ich in Dankbarkeit bin
Euer Sohn und Bruder
56. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Stresa, 27. Oktober 1880>
Ja, senden Sie mir etwas, lieber Freund! Sie haben mich so streng in Bezug auf Ihre Musik gemacht, daß es mir gar nicht in den Sinn gekommen ist, Sie um etwas zu bitten: ich freute mich auf Treu und Glauben hin, ohne „den Finger erst auf die Nägelmale zu legen“ — ich meine, diese christliche Tugend sollten Sie belohnen? Bin ich je in Hinsicht auf Sie auch nur einen Augenblick ein „ungläubiger Thomas“ gewesen? Ich frage mich und prüfe mein Gedächtniß. — Aber keine Partitur! — Im Stillen zehre ich immer noch an einigen Takten Chopin’s, die mir aus Ihrem Zimmer her geblieben sind: es gab dort für mich einen Hauch Sommerluft, den ich nicht wieder fand.
F N.
57. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Stresa, 31. Oktober 1880>
Wenn ich nur, meine liebe, liebe Lisbeth, Dir was zu melden hätte, was Dir Freude machte, wie Dein Brief mir Freude machte! Ich denke so oft an Dich — „aber so ein Bruder ist zu nichts nütze in der Welt“ ist immer mein Schlußvers. —
Es geht melancholisch-geduldig weiter, böse Tage und bessere eingestreut. Immer ist es mir zu kalt, mir graut vor dem Winter mehr denn je. Gestern bei starkem Weststurm und reinem Himmel war der See wirklich südlich (wie der Gardasee im Februar) aber nicht in der Wärme. Danke herzlich für die kleine Verführung an die Riviera! Diese Woche sei der Koffer-Misère geweiht! (Ein Wort an Krugs, daß Gustav’s Wunsch nach der Partitur der Meistersinger unerfüllbar ist) In vieler Liebe
Euer F.
58. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Stresa, 31. Oktober 1880>
Meine lieben Freunde, meinen Geburtstag hatte ich diesmal vergessen, zum ersten Male — woran lag dies? Wahrscheinlich habe ich den Kopf zu voll von anderen Gedanken, und diese bringen es mit sich, daß ich mir zehnmal jedes Tags zurufe „was liegt an mir!“ (Dies ist die Art, mir Muth zu machen.) Ich weiß nämlich sehr oft nicht, wie ich meine Schwäche (an Geist und Gesundheit und andern Dingen) und Stärke (im Schauen von Aussichten und Aufgaben) mit einander ertragen könne. Meine Einsamkeit, nicht nur in Stresa, sondern in Gedanken ist außerordentlich. Um so erquicklicher ist jedes Wort und jede That der wahren Freunde, ach, ein wahres Bedürfniß!
Von Herzen dankbar Euer
F.N.
59. An Paul Rée in Stibbe (Postkarte).
<Stresa, 31. Oktober 1880>
Vielleicht, liebster Freund, sind Sie wieder heimgekehrt und haben sich und Ihre Philosophie vor den Gefahren des Meeres und des Amerikanerthums gerettet. Ich denke mit wahrer Sehnsucht an Sie, ohne irgend eine Aussicht zu haben, dieselbe zu befriedigen; denn ich mußte mich wieder nach dem Süden zurückziehn und diesmal, wie ich mir gelobt habe, auf länger. Als Recept sowohl wie als natürliche Passion erscheint bei mir immer deutlicher die Einsamkeit und zwar die vollkommne — und den Zustand, in dem wir unser Bestes schaffen können, muß man herstellen und viele Opfer dafür bringen können. Für einen solchen Einsamen ist aber „der Freund“ ein köstlicherer Gedanke als hier die Vielsamen. — Meine Verehrung Ihren Eltern.
60. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Stresa, 7. November 1880>
Theurer, Lieber! Immer krank, viel zu Bett, vom Winter überfallen, täglich 200 Male sagend „was liegt an mir!“ — nun das ist ein Mensch, der Ihnen etwas anderes sagen soll als „ich vertraue!“? Mitunter fühle ich, durch Ihre Musik hindurch, wovon Sie sich losgerissen haben und losreißen. Dann wieder kommt mir ein Ideal komischer Musik in den Sinn, welches mich fast drängen möchte, nach Venedig zu kommen, um mit Ihnen davon zu reden. Drittens: ich habe kein Klavier, viertens ich habe in meinem Leben noch keine Singstimme gehört, welche nicht die gute Musik geschändet hätte — so daß ich gar nicht mehr an Stimmen denken mag, sondern immer nur an komische Musik so denke, als ob usw. usw. Erbarmen und Geduld! Freund!
Von morgen an: Genova, poste restante.
61. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Stresa, 7. November 1880>
Inzwischen, meine Lieben, hat es Trauer und Sorgen bei Euch gegeben. Leider vermag ich auch nichts Aufhellendes hinzuzubringen, denn es ging und geht erbärmlich. Der plötzliche Eintritt des Winters — auch hier! brachte mich plötzlich in jenen Zustand vom Naumburger Januar. Ich lag viel zu Bett. Ich wollte fort, aber die Koffer! Endlich — heute! habe ich sie, ich komme soeben von Intra mit Barke zurück, es blieb nichts übrig als Jagd darauf zu machen. In summa hat mich diese Sendung c. 40 frs. gekostet, ich bedaure die Thorheit. Morgen früh um 4 will ich nach Genua weiter (Adresse: Genova, Italia, poste restante) An Dr. Rée hatte ich kürzlich geschrieben. Hat Schmeitzner sein Blatt zurück? — Für das Salz mußte ich an der Steuer Strafe zahlen, und es wurde in den See geschüttet. Intra ist viel angenehmer als das eisige Stresa. Es grüßt und umarmt Euch
Euer F.
Das gute Lama hat so viel Mühe gehabt! Danke, Danke!
62. An Gustav Krug in Köln
<Genua, 16. November 1880>
Hier in Genua, mein lieber Gustav, finde ich Deine Trauerkunde, ich schreibe schnell ein paar Zeilen, unvorbereitet, wie es auf der Reise zugeht und mehr ein Zeichen meines Mitgefühls als ein Ausdruck desselben. Dazu ist es, wie mich eben der Kalender belehrt, Dein Geburtstag — Du wirst mit einer besondren Wehmuth heute auf Dein Leben zurückblicken! Wir werden älter und damit einsamer: gerade jene Liebe verläßt uns, die uns wie eine unbewußte Nothwendigkeit liebte, nicht wegen unsrer besondren Eigenschaften, sondern oft trotz derselben. Unsere Vergangenheit zieht sich zu, wenn die Mutter stirbt: da erst wird unsere Kindheit und Jugend ganz Erinnerung. Und dann geht es weiter, es sterben die Jugendfreunde, die Lehrer, die Ideale jener Zeiten — immer mehr Einsamkeit, immer kältere Winde umblasen uns. Du hast gut gethan, einen Garten der Liebe wieder um Dich zu pflanzen, lieber Freund! Ich glaube, daß Du heute Deinem Schicksal besonders dankbar sein wirst. Sodann bist Du Deiner Kunst treu geblieben, ich höre alles, was Du davon, mir meldest, mit einer innigen Befriedigung, und vielleicht kommt ein Alter, meinem Leibe günstiger als die jetzigen Zeitläufte, wo wir wieder zusammen sitzen und Vergangenes aus Deinen Tönen heraus wieder auferstehen sehen, so wie wir wohl in unserer jugendlichen Musik Beide zusammen von unsrer Zukunft geträumt haben.
Mehr darf ich nicht sagen, mein Leiden (das immer noch, nach wie vor, jeden Tag seine eigne Geschichte hat) legt seine gebieterische Hand auf mich. Du darfst glauben, wenn Du an mich denkst (wie Du es zu meinem Geburtstag gethan hast, den ich selber diesmal vergessen hatte) daß ich nicht des Muthes und der Geduld ermangele und hohen, sehr hohen Zielen auch so, wie es nun einmal steht und geht, nachstrebe —
Du darfst ebenso bestimmt glauben, daß ich Dein Freund bin und bleibe
In herzlicher Liebe mit Dir verbunden
Friedrich Nietzsche.
(Genova)
63. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Genua, 16. November 1880>
Endlich meine Lieben ein Wort! Inzwischen war alles Elend auf mich losgelassen, und ein solcher Wirrwarr von Anfällen und Unfällen eines Unberechenbaren, daß ich kaum schlimmere Zeiten je durchgemacht habe. Keine Einzelheiten, wozu Euch quälen! Ich bitte aller Welt zu sagen, ich sei in San Remo: in Wahrheit bin ich in Genua und will hier bleiben (Beweis: ich habe gestern schon die vierte Wohnung hier bezogen) Sagt es Niemandem. Ich bin wieder muthiger. Genova, poste restante
Italia
Letzte Carte aus Stresa Tags vor der Abreise.
64. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Genua, 17. November 1880>
Ihr Brief kam zur rechten Zeit: eben war der erste lichte und ruhige Moment erschienen, nach einer äußerst qualvollen unbegreiflichen Zeit, wo alle Übel des Leibes und der Seele über mich herfielen. O der tiefen Melancholie in Stresa! Ich sang und pfiff mir Ihre Melodien, um mir Muth zu machen: so werden sie mir im Gedächtniß bleiben! Und wahrlich, alles Gute der Musik muß sich pfeifen lassen, aber die Deutschen haben nie singen gekonnt und schleppen sich mit ihren Klavieren: daher die Brunst für die Harmonie. — Verrathen Sie Niemandem, daß ich in Genua bin und bleiben werde, sagen Sie, ich bitte, gelegentlich, ich sei in San Remo. Ich will mir die unbekannteste Dachstuben-Existenz gründen (ich habe jetzt das vierte Logis schon) Bleiben Sie muthig und so freudig-freundlich wie Ihr letzter Brief! Genova poste restante
65. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Genua, 17. November 1880>
Theurer Freund, ich gebe nur Nachricht, daß ich endlich die Ligurische Küste erreicht habe und zunächst nicht allzuweit von Genua leben werde. Seit unserm letzten Brief- und Karten-Austausch stürzten alle Übel und Unzuträglichkeiten so über mich her, daß ich mich kaum einer schlimmeren Zeit erinnere, ich habe gelitten wie ein Bär in der Klemme, und auch der Kleinmuth und die Bitterkeit nisteten im Herzen — höchst frühwinterlich, wie die Natur. Inzwischen denke ich der Asche und des Phönix: aufwärts! Denkt meiner in Liebe!
Euer Freund.
(Unter allen Umständen: Genova poste restante.)
66. An Franz Overbeck in Basel
<Genua, zweite Hälfte November 1880.>
Du wirst in tiefer Arbeit sein, lieber Freund, aber ein paar Worte von mir werden Dich nicht stören. Es thut mir immer so wohl, Dich in Deiner Arbeit zu denken, es ist wie als ob eine gesunde Naturgewalt gleichsam blindlings durch Dich wirkte, und doch ist es eine Vernunft, die im feinsten und häkelichsten Stoffe arbeitet und an der wir es wohl ertragen müßten, wenn sie sich ungeduldig und zweifelnd und gelegentlich verzweifelnd gebärdete. Ich verdanke Dir so viel, theurer Freund, daß ich dem Schauspiel Deines Lebens so in der Nähe zusehen durfte: in der That, Basel hat mir Dein Bild und das Jakob Burckhardts gegeben; ich meine, nicht nur mit der Erkenntniß einen großen Nutzen aus diesen Bildern gezogen zu haben. Die Würde und die Anmuth einer eigenen und wesentlich einsiedlerischen Richtung im Leben und Erkennen: dies Schauspiel wurde mir durch die nicht genug zu verehrende Gunst meines Schicksals „ins Haus geschenkt“ — und folglich verließ ich dies Haus anders als ich es betrat.
Jetzt ist mein ganzes Dichten und Trachten darauf aus, eine idealische Dachstuben-Einsamkeit zu verwirklichen, bei der alle jene nothwendigen und einfachsten Anforderungen meiner Natur, wie viele, viele Schmerzen sie mich gelehrt haben, zu ihrem Rechte kommen. Und vielleicht gelingt es mir! Der tägliche Kampf gegen mein Kopfübel und die lächerliche Mannigfaltigkeit meiner Nothzustände erfordert eine solche Aufmerksamkeit, daß ich Gefahr laufe, dabei kleinlich zu werden — nun, es ist das Gegengewicht gegen sehr allgemeine, sehr hochfliegende Triebe, die mich so beherrschen, daß ich ohne große Gegengewichte zum Narren werden müßte. Eben habe ich mich von einem sehr bitterbösen Anfalle erhoben, und kaum ist die Noth zweier Tage abgeschüttelt, so läuft meine Narrheit schon wieder ganz unglaublichen Dingen nach, vom frühsten Erwachen an, und ich glaube nicht, daß irgendwelchen Dachstubenbewohnern die Morgenröthe lieblichere und wünschbarere Dinge beleuchtet hat. Hilf mir diese Verborgenheit festzuhalten, verleugne meine Existenz in Genua, — für eine gute Spanne Zeit muß ich ohne Menschen und inmitten einer Stadt, deren Sprache ich nicht kenne, leben, muß ich — ich wiederhole es; fürchte nichts für mich! Ich lebe, wie als ob die Jahrhunderte ein Nichts wären und gehe meinen Gedanken nach, ohne an das Datum und die Zeitungen zu denken.
Ich will auch mit den Bestrebungen des jetzigen „Idealismus“, zumal des deutschen, nichts mehr zu thun haben — Thun wir Alle unsre Arbeit, die Nachwelt mag dann uns so und so in Ordnung stellen, oder sie mag es auch nicht thun: nur will ich mich frei fühlen und nicht Ja! und nicht Nein! sagen müssen, z. B. zu solchem echt-idealistischen Büchlein, wie das ist, welches ich Dir mitsende. Es ist das Letzte, was ich vom jetzigen „deutschen Geiste“ kennen lernen will — ebenso rührend als anmaaßend als unsäglich geschmacklos: lies es nur einmal, mit Deiner Frau zusammen, versteht sich! Und dann verbrennt es und lest zur Reinigung von diesem deutschen Schwulste Plutarchs Leben des Brutus und des Dion. — Lebe wohl, lieber Freund! Habe ich Dir denn zu Deinem Geburtstag gratulirt? Nein. Aber mir habe ich dazu gratulirt. In Liebe der Deine.
Genova, poste restante.
67. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Genua, 24. November 1880>
Lieber Freund, ich lasse ein Kärtchen zu Ihnen fliegen, bloß um Ihnen zu sagen, was ich eben stark empfinde: ich glaube, Sie und ich, wir sind auf dem rechten Wege! Einsamkeit, und Strenge gegen uns vor unserm eignen Richterstuhl, kein Hinhorchen mehr nach Anderen, Mustern und Meistern! Ein Leben, das unserm innersten Wunsche gemäß ist und wird, eine Thätigkeit ohne Hast, kein fremdes Gewissen über uns und unserm Thun! So versuche ich’s nun wieder einmal, mir herzurichten: und Genova scheint mir der rechte Ort, drei Mal jedes Tages ist mir hier das Herz übergegangen, bei dieser in die Ferne weisenden Größe und unternehmenden Mächtigkeit. Hier habe ich Gewühl und Ruhe und hohe Bergpfade und das, was schöner ist als mein Traum davon, das campo santo.
In Liebe und Treue der Ihre
F.N.
68. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Genua, 24. November 1880>
Meine Lieben, ich mache wieder den Versuch, ein Leben zu finden, das mit mir selber harmonisch ist, und glaube, es sei auch der Weg zur Gesundheit; mindestens habe ich auf allen andern Wegen bisher meine Gesundheit nur eingebüßt. Ich will mein eigner Arzt sein, und dazu gehört bei mir, daß ich mir selber im Tiefsten treu bin und auf nichts Fremdes mehr hinhöre. Ich kann nicht sagen, wie sehr die Einsamkeit mir wohl thut! Glaubt ja nicht, daß es meine Liebe zu Euch verringere! Helft mir vielmehr, meine Einsiedelei verborgen zu halten: nur so kann ich mich selber in jedem Sinne fördern (und zuletzt vielleicht auch Andern nützlich werden) Hier, die große bewegte Meerstadt, an der jährlich über 10,000 Schiffe anlanden — die giebt mir Ruhe und Für-mich-sein. Dazu eine Dachstube mit ausgezeichnetem Bett: einfache gesunde Kost (alles habe ich vereinfacht) Meerluft, unentbehrlich für meinen Kopf; Wege mit herrlicher Pflasterung, und für November eine allerliebste Wärme! (Viel Regen leider)
Für den schönen Brief den herzlichsten Dank. In Liebe Euer F.
Genova poste restante
69. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Genua, 5. Dezember 1880>
Meine liebe Lisbeth, unsre Nachrichten haben sich gekreuzt, ich gehe alle Wochen einmal zur Post. Gehen! Ja gegangen wird viel! Auch gestiegen! Denn ich habe, um in mein Dachstübchen zu kommen, im Hause 164 Stufen zu steigen, und das Haus selber liegt sehr hoch, in einer steilen Pallast-Straße, die wegen ihrer Steilheit und weil sie auf eine große Treppe ausläuft, sehr still ist und etwas Gras zwischen den Steinen hat. — Meine Gesundheit ist in einer abscheulichen Unordnung, auch der Magen. Aber die Luft des Meeres thut mir unsäglich wohl. Verrathet meine Einsiedelei nicht. Geduld! Wie oft denke ich an Eure Güte vom Herbste! Euer F.
70. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Genua, 5. Dezember 1880.>
Genova poste restante.
Theurer Freund, so geht es, wenn man so selten zur Post geht, wie ich! Da finde ich Deinen gütigen aufmunternden Freundesbrief vor, und hätte ihn haben können, bevor ich meinen an Dich absandte — aus ihm wirst Du wenigstens ersehen haben, daß immer noch etwas Kapital von Muth und Geduld da ist, um verbraucht zu werden. Übrigens geht es mir übel — doch preise ich die Meeresluft und die guten Wege in und um Genova. — Mit dem Geld und Schmeitznern bleibt es bei der Verabredung, er ist benachrichtigt. Mit dem herzlichsten Gruße an Deine liebe Frau.
F.N.
71. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Genua, 15. Dezember 1880>
Meine Lieben, was für hübsche Bilder gebt Ihr von Eurem Leben! Es thut mit ordentlich wohl, daß mein peinlicher Zustand nichts daran verdirbt; ich meine, daß ich diesen Winter nicht in Naumburg bin. Erzählt mir vom Wetter recht genau. Ich habe noch nicht daran gedacht einzuheizen (und leider! könnte es auch nicht, es giebt keinen Ofen) Die Luft, hell und mild, thut mir wohl. Aber trotzdem: täglich Kampf der Gesundheit, keine Diät will anschlagen, ewige Magenleiden, alle zwei Tage krank u.s.w. Seit Marienbad geht es so! In Venedig war es besser geworden. — „Schöne Gedanken“ habe ich nicht, es ist nicht meine Jahreszeit dafür. Was kosten 5 Stearinkerzen gewöhnl<icher> Länge bei Euch? Und ein Pfund Zucker? — Um Alles!! ich bitte nichts zu senden! Denkt aber gütigst etwas für Euch aus und gebt es Euch in meinem Namen (nehmt, ich bitte, 10 Thaler: so viel habe ich doch noch?)
Mit den allerherzlichsten Wünschen Euer dankbarer
F.
72. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Genua, 22. Dezember 1880>
Lieber Freund, von Keinem hätte ich lieber etwas über meinen guten alten Gersdorff gehört als von Ihnen. Er scheint also noch derselbe zu sein: was mir wohlthut, denn ich fürchtete, er wäre unter das ihm mögliche Maaß von Wohlbefinden hinabgesunken. — Und Sie, Freund? Was haben Sie für ein November- und Dezember-Wetter gehabt? Hier war es unvergleichlich — so daß ich sehr mißtrauisch für den Rest des Winters bin. Es fehlt mir der Ofen, wie Ihnen. Aber bis jetzt konnte man Tag und Nacht im Freien sitzen (und liegen — ich komme eben von der einsamen Felsenküste) Meine Gesundheit war in Venedig viel besser, aber ich habe meine Jahreszeiten im Leiden: nach dem Sommer zu bin ich gesünder, von da sinkt es. Schreiben Sie recht viele solche Takte, wie die am Schluß von „Arm und elend muß ich sein“ (scherzando): sie gehören zur guten alten, sehr guten und stets guten Zeit: wohin wir Alle gehören möchten!
Treulich F.
73. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Genua,> 25 December 1880.
Heute, meine innig Geliebten, ist Weihnachten, folglich ist Neujahr vor der Thür — so muß denn doch ein Briefchen geschrieben werden, was auch die Herren Augen sagen! —
Gestern lag ich auf meinem Bette und dachte über das Leben nach und kam zum Schlusse, daß doch sehr Vieles unvollkommen ist, und man die Zähne oft übereinander beißen muß: daher solle man sich etwas Gutes sagen und thun, so oft es angeht, der Eine dem Anderen, damit doch etwas bei dem ganzen Leben herauskomme! (dabei fiel mir ein, daß ich die Tante Cäcilie niemals besucht habe, ebenfalls daß ich Euch den vorigen Herbst verdorben habe, durch meine Ungeduld und mürrisches Wesen) Und plötzlich merkte ich, daß es fünf Uhr sei und also die Stunde, wo bei Euch und allenthalben Bescheerung ist. —
In der Stadt war es etwas regnerisch, aber milde, wie ich mir nie einen 24. Dezember bisher vorgestellt habe. Ich bin doch sehr damit zufrieden, im Süden und am Meere sein zu können — mein Kopf hat ganz gewiß eine Wohlthat davon. Sonst geht es immer noch drunter und drüber, hin und her; ich will immer durch strenge Regelmäßigkeit und Gleichheit für einen wie den anderen Tag es zwingen — aber meine Natur scheint gerade das Umgekehrte zu wollen: dasselbe was ihr gestern gut that, thut es heute nicht, es bedarf einer lächerlichen Aufsicht, und doch ist alle Augenblicke etwas versehen und wieder mit Mühe und Noth gut zu machen. Ich bin sehr viel krank, aber unvergleichlich besserer Stimmung als andere Jahre zur gleichen Zeit. Das ist etwas! —
In Venedig (das zehnmal weniger für mich paßt als Genua) ist jetzt Gersdorff, er verkehrt viel mit Köselitz. Er malt, aber, nach Köselitzens Urtheil, mit viel Übertreibung, alle Köpfe zu heftig, roth, aufgeblähte Nüstern u.s.w. Kann mir’s recht gut denken! —
Gehen wir also friedlich in’s neue Jahr, meine Lieben! Ich weiß nicht, was aus ihm wird, glaube überhaupt nicht so recht mehr an wesentliche Veränderung meines Zustandes, er will eben abgewartet und ertragen sein, ohne daß man deshalb allen Lebensmuth verlieren müßte. Dagegen: bei Euch soll noch Gutes kommen, das nicht da ist, und alles Gute bleiben, das da ist: das wünsche ich in herzlicher Liebe!
Lebt wohl! Euer F.
NB. Ich war die letzte Woche desperat über Lärm im Hause und wollte zum vierten Male ausziehn, dachte mir eine Zornrede aus — und brachte es doch nur zu einer sehr verbindlichen Ansprache. Hinterher bilde ich mir gar noch ein, dieselbe habe die selbe Wirkung gethan, wie jene gethan haben würde. — So geht es.
Ich habe nicht für die guten Briefe dem Lama gedankt.