1888, Briefe 969–1231a
1009. An Georg Brandes in Kopenhagen
Nizza den 27. März 1888
Verehrter Herr,
ich wünschte sehr, Ihnen für einen so reichen und nachdenklichen Brief schon früher gedankt zu haben: aber es gab Schwierigkeiten mit meiner Gesundheit, so daß ich in allen guten Dingen arg verzögert bin. An meinen Augen, anbei gesagt, habe ich einen Dynamometer meines Gesammtbefindens: sie sind, nachdem es in der Hauptsache wieder vorwärts, aufwärts geht, dauerhafter geworden, als ich sie je geglaubt habe, — sie haben die Prophezeiungen der allerbesten deutschen Augenärzte zu Schanden gemacht. Wenn die Herren Gräfe et hoc genus omne Recht behalten hätten, so wäre ich schon lange blind. So bin ich — schlimm genug! — bei Nr. 3 der Brille angelangt, aber ich sehe noch. Ich spreche von dieser Misère, weil Sie die Theilnahme zeigten, mich darnach zu fragen, und weil die Augen in den letzten Wochen besonders schwach und reizbar waren. —
Sie dauern mich in Ihrem dies Mal besonders winterlichen und düsteren Norden: wie hält man da eigentlich seine Seele aufrecht! Ich bewundere beinahe Jedermann, der unter einem bedeckten Himmel den Glauben an sich nicht verliert, gar nicht zu reden vom Glauben an die „Menschheit“, an die „Ehe“, an das „Eigenthum“, an den „Staat“…
In Petersburg wäre ich Nihilist: hier glaube ich, wie eine Pflanze glaubt, an die Sonne. Die Sonne Nizza’s — das ist wirklich kein Vorurtheil. Wir haben sie gehabt, auf Unkosten vom ganzen Reste Europa’s. Gott läßt sie mit dem ihm eigenen Cynismus über uns Nichtsthuer, „Philosophen“ und Grecs schöner leuchten als über dem so viel würdigeren militärisch-heroischen „Vaterlande“ —
Zuletzt haben auch Sie, mit dem Instinkte des Nordländers, das stärkste Stimulans gewählt, das es giebt, um das Leben im Norden auszuhalten, den Krieg, den aggressiven Affekt, den Wikinger-Streifzug. Ich errathe aus Ihren Schriften den geübten Soldaten; und nicht nur die „Mittelmäßigkeit“, noch mehr vielleicht die Art der selbständigeren und eigeneren Naturen des nordischen Geistes mag Sie beständig zum Kampfe herausfordern. Wie viel „Pfarrer“, wie viel Theologie ist in all diesem Idealismus noch rückständig!… Dies wäre für mich schlimmer noch als bedeckter Himmel, sich über Dinge entrüsten zu müssen, die Einen nichts angehn! —
Ihr Erlebniß mit dem Leipziger Verleger Herrn Hermann Credner verstehe ich nur zu gut. Auch ich war vor zwei Jahren tief mit ihm engagirt, habe aber bei dem ersten Anzeichen seiner absurden Verleger-Selbstherrlichkeit einen solchen Schreck gehabt, daß ich brüsk mein Manuscript telegraphisch zurückforderte. Er ist voriges Jahr gerichtlich verurtheilt worden, weil er sich erlaubt hatte, in einer Geschichte der neueren deutschen Politik hinter dem Rücken des Autors durch eine heimtückische Nachcorrektur die ganze Tendenz des Werkes umzudrehn! — Er ist der Verleger des deutschen Reichsgerichts. —
So viel für dies Mal: es ist wenig genug. Ihre „deutsche Romantik“ hat mich darüber nachdenken machen, wie diese ganze Bewegung eigentlich nur als Musik zum Ziel gekommen ist (Schumann, Mendelsohn, Weber, Wagner, Brahms): als Litteratur blieb sie ein großes Versprechen. Die Franzosen waren glücklicher. — Ich fürchte, ich bin zu sehr Musiker, um nicht Romantiker zu sein. Ohne Musik wäre mir das Leben ein Irrthum. — Es grüßt Sie, verehrter Herr, herzlich und dankbar
Ihr
Nietzsche