1888, Briefe 969–1231a
991. An Heinrich Köselitz in Venedig
Nizza, den 13. Februar 1888
Lieber Freund,
ich hätte Ihnen unter allen Umständen heute geschrieben und will mich am wenigsten dadurch abhalten lassen, daß eben, als schönster Morgengruß, Ihr Brief bei mir eingetreten ist. Das, was Sie mir zuerst erzählen, von einer Art Gemüths-Reconvalescenz, correspondirt angenehmer Weise mit einem eigenen inzwischen bewerkstelligten Fortschritte zur „Vernunft“: und sogar in Betreff der Art des Mittels ist unser Instinkt auf derselben Fährte gewesen. — Lieber Freund, ich sage mir jetzt in jedem gesunden Augenblick (— und dabei denke ich wenigstens so sehr an Sie als an mich): „es ist sehr Viel erreicht! Es ist trotzalledem sehr Viel erreicht! man soll bei sich den Muth zu diesem allerberechtigtsten Stolze aufrecht erhalten!“…
— In Wahrheit kommen Sie sogar, bei einer solchen Nachrechnung, was eigentlich erreicht ist, viel besser weg als ich. Ich selber bin über Versuche und Wagnisse, über Vorspiele und Versprechungen aller Art nicht hinausgekommen: aber so Etwas aus der Welt des Vollkommenen und Glücklichen, wie es Ihre ganze Oper ist, liegt ruhig in seinem eignen Lichte und winkt nicht, wie Alles bei mir, über sich hinweg —. Und was die „Idealität“ in der Musik betrifft, so habe ich noch von meinem letzten Venediger Besuche einen unauslöschlichen Geschmack von Etwas auf der Zunge zurückbehalten, für das ich gar keinen andern Namen habe als „Idealität“. Damals sagte ich mir „es steht so gut als es stehen kann mit dem Freunde Köselitz — er erfindet sich seine eignen Heilmittel und reinigt sich mit bains intérieurs von allem Unverdaulichen, das sein Leben in ihn geworfen hat (— Verzeihung für das allzu klinisch gerathene Gleichniß: eine der züchtigsten Damen Frankreichs, Madame Valmore bediente sich des Ausdrucks bains int<érieurs> in gewissen Fällen)
— Ich fand bei Plutarch, mit welchen Mitteln sich Cäsar gegen Kränklichkeit und Kopfschmerz vertheidigte: ungeheure Märsche, einfache Lebensweise, ununterbrochner Aufenthalt im Freien, Strapazen…
— Mein Einwand gegen Venedig liegt vor allem darin, daß es zu sehr einschließt: ich sollte glauben, man müsse eine Kur von Zeit zu Zeit gegen Venedigs Einfluß nöthig haben… Dann geht oder gienge es vielleicht.
— Ein Sprung in die Venediger Alpen? — Es ist erstaunlich, was die variatio sanat. Für fruchtbare und weibsartig periodische Wesen (wie es alle Künstler sind) scheint mir das brüske Einlegen von Zwischenakten, Contrasten beinahe unerläßlich. Vielleicht erwägen Sie, liebster Freund, alsbald das Problem Ihres nächsten Sommers — oder schon Frühjahrs? Die Luft in der Heimat Tizian’s vielleicht? Eine Fußreise dorthin? — Zuletzt wird Ihnen nichts übrig bleiben als sich ganz auf venetianischem Fuß einzurichten: aber dazu gehört, wie mir scheint, die Flucht vor Venedig, Land, Berg, Wald, die ganze in Venedig vergessene Welt.
Schließlich möchte ich eine Anfrage nicht unterlassen. Von welchem Orte (oder Menschen) aus glauben Sie jetzt am ersten noch, daß Etwas zu Gunsten Ihres Bekanntwerdens gethan werden könnte? Ist irgend ein Musikfest in Aussicht? (— ein Stuttgarter, erste Hälfte Juni, mit Brahms, Albert, Joachim ist das Einzige, von dem ich weiß) Haben Sie an Riedel vielleicht geschrieben? — Eben fällt mir Bologna ein: großes Fest im Mai. Ist es nicht möglich, Ihrerseits dazu etwas einzuschicken? zur Concert-Aufführung? —
— Über Spitteler werden Sie Recht haben. Die Sache ist mir verdrießlich. Fritzsch schweigt. — Mein Druck bei Naumann hat ca. 200 Thaler gekostet. — Ich habe die erste Niederschrift meines „Versuchs einer Umwerthung“ fertig: es war, Alles in Allem, eine Tortur, auch habe ich durchaus noch nicht den Muth dazu. Zehn Jahre später will ichs besser machen. —
Von Herzen
Ihr Freund Nietzsche.
(Schreiben Sie mir, bitte, etwas Genaues darüber, was und wieviel jetzt fertig geworden ist und woran Sie noch arbeiten…)
Vor der kleinen prätensiosen und absolut bis jetzt leeren Zeitschrift des Avenarius möchte ich eher warnen. Sie brauchen Athem, freien Raum.