1887, Briefe 785–968
785. An Emily Fynn in St. Moritz
Nizza (France) pension de Genève 1. Januar 1887.
Hochverehrte Frau,
Ihr liebenswürdiges Erinnerungszeichen, für das ich mich von Herzen bedanke, ist über Naumburg nach Nizza gewandert — wer weiß, durch wie viele Schneelandschaften und Postverzögerungen hindurch! Sie würden jeden Falls dieser Tage von mir Nachricht bekommen haben, und schon früher, wenn nicht in der letzten Zeit sich ein wunderlicher Umstand allem Briefschreiben bei mir entgegengestellt hätte: blaue Finger! Ich habe bisher hier ein Nordzimmer bewohnt, ohne Ofen, gegen einen kalten Garten gelegen — es war eine wirkliche Strapaze, zu der ich aber gute Miene gemacht habe.
Die Kälte war seit dem 14. November gründlich zu spüren, ein beständiges schönes Januar-Wetter, fast ohne Unterbrechung Sonnenschein und reiner Himmel, ganz so, wie ich’s liebe (und nöthig habe!) Es ist mir öfter der Gedanke gekommen, daß eigentlich unser beiderseitiger Geschmack und Bedürfniß auch über Nizza und nicht nur über den Engadin übereinstimmen müßte: vorgesehn, daß man nicht zu früh hierher kommt (wie ich dies Mal gethan habe, Mitte Oktober) und nicht zu spät davongeht. Die Ähnlichkeit der Luft in Hinsicht auf Energie, Trockenheit, anregende Kraft, muß bei Ihnen oben und bei mir hier unten jetzt zum Verwechseln sein. Übrigens bisher kein Stäubchen Schnee; dafür eine Sturmfluth, die zwei Tage lang über die Promenade des Anglais hinweg gieng. Übermorgen ziehe ich in ein andres Quartier und bekomme ein Sonnen-Zimmer. Glücklicherweise nährt man mich ordentlich; ich habe für Mittag wieder meine ausschließliche Milch- und Ei-Diät festgehalten, aber des Abends nehme ich an einer respektablen table d’hôte Theil, an der fast nur Engländer sind. Es war davon die Rede, daß eine Engländerin Ihres Namens, Miss Fynn, von San Remo in mein Hôtel übersiedeln wolle, und man hatte ihr den mir benachbarten Salon zugedacht: dies wäre ein artiges Quidproquo gewesen! Die Gesellschaft hier in Nizza soll diesen Winter besser sein als andre Jahre: so erzählt man mir, denn ich lebe einsiedlerischer noch als sonst. Die Villen stark occupirt, mehr als die Hôtels; viele Equipagen, viel Dienerschaft sichtbar. Der König v. Würt<t>emberg, der russische Thronfolger, auch der regierende Herzog von Sachsen-Gotha sind hier; man hat längere Zeit die russische Kaiserin erwartet (für die Villa Van-Derwies) „Die letzte Saison vor dem Kriege“ — so sagt alle Welt. Ich denke, daß das nächste Jahr auch einiges Gute bringen wird, zum Beispiel für uns ein friedliches Wiedersehn da oben in der Höhe, deren heilkräftige und bewiesene Wirkung Ihrer verehrten Freundin und Ihnen selbst schwer zu ersetzen sein wird. Mit Sils bin ich immer noch einverstanden, nicht mit dem Zimmer daselbst: oder vielmehr, meine Augen verbieten mir es fürderhin. Ich muß ein großes hohes Arbeitszimmer haben, mit den fünf nothwendigen Eigenschaften. Über den Zwischenakt noch nichts entschieden: ich fürchte die Zwischenakte. Vielleicht Venedig, wohin mein armer, durch lauter Demüthigungen stark niedergebeugter Musiker zurückgekehrt ist, der vielleicht meines Zuspruchs bedarf (oder vielmehr meines Glaubens an seine Musik: alle Künstler haben „Gläubige“ nöthig)
Möge uns Allen ein gutes Jahr beschieden sein, mit Geduld und Trost für die Leidenden, mit Tapferkeit und Sonnenschein für Alle! Bitte, sagen Sie Fräulein von Mansouroff meinen ergebensten Gruß und Glückwunsch; insgleichen Frau Bichler; und wenn Sie schreiben sagen Sie auch Ihrer Fräulein Tochter einen herzlichen Gruß.
Ihnen in Verehrung zugethan
Dr Nietzsche
Oh! ich vergaß mich für Ihren ersten Brief zu bedanken, der mir, inmitten von unangenehmen Menschen, so wohl gethan hat! —
786. An Meta von Salis in Zürich
Nice (France) pension de Genève 1 Januar 1887.
Hochgeehrtes Fräulein,
nehmen Sie meinen herzlichen Dank für Brief, Sendung, Gesinnung und Alles, was mir von Ihnen gemeldet und bezeugt wird. Auch dafür, daß Sie dem kleinen albergo in Rapallo Ehre erwiesen haben (vielleicht erzählte ich Ihnen, daß in demselben der erste Theil meines Zarathustra niedergeschrieben wurde, übrigens unter so erbärmlichen Verhältnissen des Leibes und der Seele, daß die Erinnerung daran mir übel macht) Nach meiner Erfahrung aus diesem Herbste muß ich Ihnen, für eine zweite Reise an diese Küste, einen Aufenthalt in Ruta anempfehlen (albergo d’Italia, vortreffliche Zimmer): das ist der kleine Ort auf dem Dach des promontorio, welches bis Portofino vorstößt. Da oben, in bester Luft, giebt es eine Fels- und Waldlandschaft zu erforschen, die wie ein Stück griechischer Archipelagus anmutet. Die einsamste Welt, die ich bisher fand, sehr Zarathustrisch. Leider waren daselbst zwei mißglückte Deutsche meine beständige Fußfessel: so daß mir auch dieser Ort im Gedächtniß etwas vergällt und verekelt ist. — Aus den Worten Ihres Briefs habe ich Eins herausgenommen, das Wort Gegner: habe ich Gegner? Da ist eine Lücke in meinem Bewußtsein; zum Mindesten habe ich noch nicht daran zu leiden gehabt. Das Mißverständniß über mich ist einstweilen zu groß, als daß ich wirkliche Gegner oder auch wirkliche Freunde haben könnte; auch werde ich mich weder darüber beklagen, noch die Geduld verlieren. Gewiß ist, daß mir meine „Freunde“ hundert Mal mehr Noth gemacht haben als irgendwelche Abgeneigtheiten. Auch der Dr. Welti, der mich durch ein liebenswürdiges clair-obscur von Verehrung hindurch sieht, macht es nicht besser, wie mir scheint. —
Daß Schloß Marschlins nicht verkauft ist, hat mich gefreut zu hören: obwohl es mir schwer fallen möchte zu sagen, warum. Man soll sein Altes halten: es hält uns. Eben lese ich „notre monde moderne, qui se fait de plus en plus improvisateur et momentané“. —
Ihnen, hochgeehrtes Fräulein, mich dankbar empfehlend verbleibe ich Ihr
ergebenster
Dr. Friedrich Nietzsche
787. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Postkarte)
<Nizza> 4. Jan. 1887.
Werthester Herr Verleger,
inzwischen habe ich die Wohnung gewechselt: die genaue Adresse, die dringend nöthig ist, heißt nunmehr: Nice (France) rue des Ponchettes 29 (I étage) Wahrscheinlich wird Ihnen auch Herr Köselitz eine Veränderung seiner Adresse zu melden haben. — Die Schneelawinen, die über Leipzig gefallen sind, scheinen auch der Röderschen Druckerei zugesetzt zu haben? Wenigstens ist seit der Vorrede zur „Morgenröthe“ Nichts mehr bei mir angelangt. Hoffentlich ist kein Malheur passirt, und Alles geht nun im neuen Jahr seinen Gang. Bitte nochmals, die ganze Sache schnell vorwärts zu treiben! Sie haben mir noch nichts darüber geschrieben, ob die Rödersche Druckerei im Stande sein wird, den fünften Theil der fröhl<ichen> Wiss<enschaft> analog den andren Theilen herzustellen, oder ob Teubner eintreten muß.
Hochachtungsvoll Dr. Nietzsche.
788. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Nizza, 4. Januar 1887>
Lieber Freund, das Geld ist eingetroffen, besten Dank! Seit gestern neue Wohnung (rue des Ponchettes 29 1re ét.) Sonnenlage, absolut nöthig, bei der Strenge des Winters; bisherige Situation für Geist und Leib nicht länger haltbar. Fragezeichen: ob Geld bis zur nächsten Sendung ausreichen wird? Welches wäre ungefähr der Tag des März, wo sie eintreffen könnte? — Gestern rechnete ich 21 Wohnungen nach, die ich in den 7 Wintern in Genua und Nizza bewohnt habe: ebensoviele Strapazen und Degouts in jedem Betracht. Ach die südliche Schmutzerei!! Hier habe ich in den letzten Monaten c. 40 Zimmer angesehn, ohne etwas Passendes zu finden — passend für ein denkendes und reinliches Thier wie ich bin. — Über Teneriffa bin ich gut unterrichtet; es hat einen Haken, neben vielen Vorzügen ersten Ranges — es erschlafft und deprimirt beispiellos, vermöge seiner mit Feuchtigkeit überladenen Luft: darin ist es das gerade Gegenstück von Nizza. Doch giebt es Kranke, auf welche diese Beschaffenheit der Luft kalmirend wirkt (Pau, Pisa, Palermo sind darin verwandt.)
Mit freundschaftlichem Gruße Dein
N.
789. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Nizza, 9. Januar 1887>
Mein lieber Freund, nun werden Sie wieder in Ihrem alten stillen lieben Neste sein, wo der Vogel so viele schöne Lieder schon gesungen hat. Meine herzlichsten Wünsche sind fortwährend um Sie herum; zuletzt weiß ich Sie lieber in Venedig als hier oder in Genua, weil mir der Degout zu gegenwärtig ist, in welchen Unsereiner geräth, in Gegenden, für die wir nicht „reich genug“ sind. In Venedig hat die Armut etwas Achtbares und zum Ort Stimmendes; in Nizza ist es umgekehrt… (Ich schrieb an Hegar um Ihres Csardás willen: wenn ich ihn beauftragte, meinen Chorgesang an Sie zu adressiren, so geschah es, um ihn zu einigen Zeilen an Sie zu veranlassen — Ob ich mich dabei verrechnet habe, weiß ich nicht. Nur nehme ich ausdrücklich einen ehemals geäußerten Wunsch in Betreff dieses Chors zurück; es liegt mir gar nichts jetzt an ihm) Durch eine Unpünktlichkeit in Leipzig haben sich die letzten Correkturen gekreuzt; ich sandte die Ihrige, sobald sie ankam, gleich wieder an Sie zurück. Zeit großen Schnees, wahrscheinlich lange. Treulich und mit tausend Wünschen Ihr Freund Nietzsche.
Adresse: Nice, rue des Ponchettes 29, 1re étage.
790. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Nizza, 9. Januar 1887.>
Lieber Freund, meine Karte ist kurz vor dem Eintreffen Deines Briefes abgegangen: für letzteren herzlichen Dank! Hoffentlich verbessert sich Deine Gesundheit unter der guten Pflege, die Du hast; gerade bei Augenleiden scheint mir es am wenigsten gut zu sein, „daß der Mensch allein ist“. Der Winter ist hart, auch hier; statt Schnee haben wir tagelangen Regen; die näheren Berge sind seit längerer Zeit weiß (was in der bunten und farbensatten Landschaft wie eine Koketterie der Natur aussieht —). Zu dieser „Buntheit“ gehören auch meine blauen Finger, nach wie vor; insgleichen meine schwarzen Gedanken. Eben lese ich, mit solcherlei Gedanken, den Commentar des Simplicius zu Epictet: man hat in ihm das ganze philosophische Schema klar vor sich, auf welches sich das Christenthum eingezeichnet hat: so daß dies Buch eines „heidnischen“ Philosophen den denkbar christlichsten Eindruck macht (abgerechnet daß die ganze christliche Affekten-Welt und Pathologie fehlt, „Liebe“, wie Paulus von ihr redet, „Furcht vor Gott“ usw) Die Fälschung alles Thatsächlichen durch Moral steht da in vollster Pracht; erbärmliche Psychologie; der Philosoph auf den „Landpfarrer“ reduzirt. — Und an alledem ist Plato schuld! er bleibt das größte Malheur Europas! —
Dein N.
791. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Nizza, 15. Januar 1887>
Vergebung, daß ich so spät schreibe und auch nur ein Kärtchen, meine liebe Mutter! Die Gesundheit war immerfort störend und gestört, die Härte des Winters nöthigte zum Umziehn, die Augen wollen nicht mehr, kurz es thut Geduld Noth. Meine Adresse ist nunmehr: Nizza (France), rue des Ponchettes 29 au premier. Nun habe ich wohl ein Sonnenzimmer, aber die Nachwirkung von 2 Monaten Frost und Feuchtigkeit ist noch nicht aus dem Körper und Geiste weg. — Nächstens schreibe ich Dir zum Geburtstage: bei Herrn Kürbitz ersuche ich Dich 30 Mark in Empfang zu nehmen und Dir etwas auszudenken, womit „das alte Geschöpf“ Dir ein Vergnügen machen kann. Auch die Recension des Buchs hat sich wieder gefunden (von jenem Dr. Welti) und soll Dir zugehn: wogegen ich Bedenken habe, Dir das Buch zu schicken, weil es wirklich ganz und gar kein Buch zum Lesen ist; meine gelehrtesten Freunde und Bekannten finden es unverständlich. Es ist eine Verwechslung, wenn etwa Frl. v. Salis glauben sollte, es zu verstehen. (Giebt es gute Nachrichten aus Paraguay? — Hr. Köselitz ist wieder in Venedig.)
In alter Liebe Dein altes Geschöpf.
792. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Nizza> Donnerstag früh <20. Januar 1887>
Meine liebe Mutter, inzwischen wird meine Karte bei Dir eingetroffen sein. Heute nur, nebst dem Dank für Deinen Brief, ein Wort über den Ofen! Ich bin überzeugt, daß er mir noch sehr dienstlich sein wird, nämlich im Engadin, um ein paar Monate länger es daselbst auszuhalten; die viele Herumreiserei wird mir immer mehr zuwider. Deshalb verkaufe ihn nicht, ich bitte Dich! — Vorgestern ist ein Briefchen an Hr. Kürbitz abgegangen, das in Beziehung zum 2. Februar steht. — Gestern Abend langte ein prächtiger Brief des Lama bei mir an, vom 12. November, mit lauter guten Nachrichten. Dr. Förster ist auf der Reise, um 2 Käufe abzuschließen. Ein Besuch hier in Nizza ist mir versprochen, aber erst nach vier Jahren („vielleicht macht uns der Holzhandel nach den argentinischen Ländern, welche überhaupt kein Holz haben, noch ein wenig wohlhäbig“)
Herzlich grüßend Dein
Sohn.
Nice (France) rue des Ponchettes 29 au premier
793. An Heinrich Köselitz in Venedig
Nice (France) rue des Ponchettes 29 au premier <21. Januar 1887>
Lieber Freund,
es ist mir eine wahre Erleichterung, Sie wieder in Venedig zu wissen. Ihr Brief — oh was er mir wohlthat! Es war mir wie ein Versprechen darin, daß es auch bei mir nun wieder besser gehen solle — besser das heißt heller heiterer südlicher unbekümmerter, hoffentlich auch „unlitterarischer“: denn diese ganze In-Scene-setzung meiner alten Litteratur hat mich greulich malträtirt und „persönlich“ gemacht. Ich tauge nicht für’s „Wiederkäuen“ des Lebens. Jetzt ergötze und erhole ich mich an der kältesten Vernunft-Kritik, bei der man unwillkürlich blaue Finger bekommt (und folglich die Lust verliert, zu schreiben —) Ein Generalangriff auf den gesammten „Causalismus“ der bisherigen Philosophie kommt dabei heraus, auch einiges Schlimmere noch. —
Hätten Sie doch ein Stück Ihrer Oper zur Aufführung gebracht! Man muß, wenn man sich produziren will, das am Meisten Charakteristische, also Fremdeste produziren. Daß Sie dem Levi Ihr Septett vorführten, ist, nach meinem Gefühle, mehr Höflichkeit als etwas Anderes (etwas „Sachse“ — Vergebung, alter Freund!) Das Beste an der Geschichte ist, daß Ihr Septett so aufgenommen wurde, wie Sie schreiben; hätte es gefallen, so hätte ich an eine Verwechslung geglaubt. —
Levi hat mir vom Frühling her den besten Eindruck hinterlassen. Auch was mir von anderer Seite inzwischen aus München gemeldet wurde, bestätigt, daß er eine Art Zusammenhang mit mir (er nennt’s Dankbarkeit) weder verloren hat, noch verlieren will: was übrigens von allen Wagnerianern gilt (ob ich es schon mir nicht recht zu erklären weiß) Man hat mich letzten Herbst in München erwartet „mit fieberhafter Spannung“, wie Seydlitz (jetzt Präsident des Wagner-Vereins) meldete. Im Engadin, beiläufig gesagt, hatte ich als Tischnachbarin die Schwester des Barbier von Bagdad: Sie verstehen diese abgekürzte Redeweise?
Zuletzt — neulich hörte ich zum ersten Male die Einleitung zum Parsifal (nämlich in Monte-Carlo!) Wenn ich Sie wiedersehe, will ich Ihnen genau sagen, was ich da verstand. Abgesehn übrigens von allen unzugehörigen Fragen (wozu solche Musik dienen kann oder etwa dienen soll?) sondern rein ästhetisch gefragt: hat Wagner je Etwas besser gemacht? Die allerhöchste psychologische Bewußtheit und Bestimmtheit in Bezug auf das, was hier gesagt, ausgedrückt, mitgetheilt werden soll, die kürzeste und direkteste Form dafür, jede Nuance des Gefühls bis aufs Epigrammatische gebracht; eine Deutlichkeit der Musik als descriptiver Kunst, bei der man an einen Schild mit erhabener Arbeit denkt; und, zuletzt, ein sublimes und außerordentliches Gefühl, Erlebniß, Ereigniß der Seele im Grunde der Musik, das Wagnern die höchste Ehre macht, eine Synthesis von Zuständen, die vielen Menschen, auch „höheren Menschen“, als unvereinbar gelten werden, von richtender Strenge, von „Höhe“ im erschreckenden Sinne des Worts, von einem Mitwissen und Durchschauen, das eine Seele wie mit Messern durchschneidet — und von Mitleiden mit dem, was da geschaut und gerichtet wird. Dergleichen giebt es bei Dante, sonst nicht. Ob je ein Maler einen so schwermüthigen Blick der Liebe gemalt hat als W<agner> mit den letzten Accenten seines Vorspiels? —
Treulich Ihr Freund Nietzsche
794. An Elisabeth Förster in Asuncion
Nizza, rue des Ponchettes 29 au premier am 26. Januar 1887
Meine liebe Schwester,
Donnerstag Nachmittag, als ich im Spazierengehn gerade an das fremdherrliche Lama dachte und ihm einen Brief zu schreiben beschloß, trat ein unbekannter Herr zu mir und sagte „Madame Gazzola a des lettres pour Monsieur“. Sofort gieng Monsieur zu Madame Gazzola — ah eine gazza ladra schlimmen Angedenkens vom letzten Winter her — und siehe da, es gab einen Brief mit der unverkennbaren Handschrift eines südamerikanischen Lama’s. Allerschönsten Dank! Er kam sehr erwünscht, denn die Cholera-Nachrichten der Zeitungen hatten mich recht auf ein Lebenszeichen von Dir warten machen. Das Beste aber an Deinem guten Briefe ist die in ihm über vier Jahre weg gespannte Hoffnung und Regenbogenbrücke eines Wiedersehens, und zwar hier in Nizza: — was, beiläufig gesagt, selbst auf verwöhnte Südamerikaner nicht ohne Anziehungskraft zu sein scheint, denn wir haben immer Gäste von dort, diesen Winter zum Beispiel die erste Militär-Personnage von Montevideo, eine Zeit lang auch den Präsidenten von Argentinien. Dies Mal gerade, wo Europa sich in einen Schneeberg und Eisbär verwandelt hat, verdient unser Streifen Riviera dreifache Sterne der Auszeichnung: bisher noch kein Stäubchen Schnee; und wenn auch die ferneren Berge um Nizza herum sich weiß gepudert haben, so möchte dies mehr unter die Toilettenkünste dieser südländischen Schönheit und Zauberin gehören als unter ihre Bösartigkeiten (an denen sie übrigens reich ist, comme beauté et comme femme) Wie gut, daß ich nicht in München bin! Seydlitz meldete mir kürzlich von dort eine bis dahin noch gar nicht dagewesene Verdummung bei sich (man hat ihn zum Präsidenten des Wagner-Vereins gemacht —): sicherlich die Consequenz der ewigen betrübten eisigen feuchten Sonnenlosigkeit des deutschen Winters. Rothpletzens sind allesammt nach Teneriffa entschlüpft; Herr Köselitz, nach einer langen resultatlosen Thierquälerei daselbst, die mir große Besorgnisse gab — er schrieb, um sich zu ernähren, zuletzt für die Zeitungen, die Zeile zu 4 Pfennig — hat sich wieder in die Venediger Einsiedelei davongemacht. Aus Rom meldet man (nämlich Malvida ebenso als General Simon) die große allgemeine Schmutzerei in den Gassen — man beneidet mich um das reinliche Nizza. Kurz, jenes philosophische Murmelthier, welches seine Sommer im Engadin verpfeift — denn das Murmelthier pfeift, es hat nichts Besseres von der Musik gelernt — macht dies Mal wieder seinen Winterschlaf in Nizza ab: und es ist Vernunft darin — quod erat demonstrandum. Übrigens sagt man mir, daß ich noch nie so gesund ausgesehn hätte als diesen Winter. Thatsächlich fehlt noch Viel an der wirklichen Gesundheit; ich erinnere mich aber eines ganzen Nachmittags, wo ich mir gesund vorkam, und es ist kein Zweifel, daß ich jeden Winter seit 7 Jahren einen Hops in der Richtung hin gemacht habe, wo die Gesundheit wohnt. Hoffen wir, daß ich sie bei einem längeren Leben schließlich doch noch erwische, sei es auch nur im Greisenalter, als wackeliger alter Weisheits-Greis. Was nämlich meine bisherige „Weisheit“ betrifft, so habe ich sie satt. Inzwischen wurde meine ganze bisherige Litteratur mit Vorreden und neuen Manschetten versehn: vielleicht daß sie dadurch anziehender für Andere geworden ist — für mich ist es damit aus. Wenn es Euch, meine verehrten Hinterwäldler, darnach gelüsten sollte, so wird einmal das Ganze meiner Litteratur, l’œuvre de Frédéric Nietzsche, wie man sich in Frankreich ausdrücken würde, seine Reise über den Ozean machen (in summa 4 starke Bände) Aber wer weiß, wann endlich die sächsische Verleger- und Drucker-Bummelei mit dem œuvre fertig wird! Das Letzte, was zu Stande kam, ist die „Morgenröthe“; die größte Veränderung aber begiebt sich mit der fröhlichen Wissenschaft, welche zuletzt in lauter Lieder und Liederlichkeit ausläuft, unter dem Titel „Lieder des Prinzen Vogelfrei“. — Anbei, nämlich indem ich gezwungen war, meine ganze Büchermensch-Vergangenheit still für mich wiederzukäuen, habe ich constatirt
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daß die lieben Deutschen es in fünfzehn Jahren noch nicht zu einer einzigen auch nur mittelmäßig gründlichen und ernsthaften Recension irgend eines meiner 12 Bücher gebracht haben
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daß ich selber dies Faktum erst jetzt bemerke, also wahrscheinlich innewendig nicht sehr um die Aufmerksamkeit der lieben Deutschen bemüht gewesen bin — kurz, daß ich’s „verdient“ habe —
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daß ich keinen Menschen weiß, der von dem Hintergrunde dieser ganzen Litteratur, von meinem sehr merkwürdigen eigentlichen Schicksale, etwas „wüßte“, oder es mir zu verstehen gegeben hätte, daß er etwas wüßte; ich bin folglich in der Ironie und Menschenverspottung ziemlich avancirt, jetzt bereits so weit, daß ich auf „verehrende Briefe“, wie sie nicht ganz selten eintreffen, nicht mehr antworte — ich rieche die Verwechslung immer fünfhundert Schritt weit.
Genug. Aber ich sage dies, um auch meinerseits das Bedürfniß auszudrücken, einige Wochen nichts zu thun als zu lachen. Also: in vier Jahren, meine liebe Schwester, wird gelacht, dabei bleibt es, ich danke von ganzem Herzen für dies Versprechen.
Inzwischen die treulichsten Wünsche für Eure muthigen Unternehmungen, die fortfahren, mich in Erstaunen zu setzen.
In Liebe
F.
(Adresse für Nizza am sichersten immer: pension de Genève.)
795. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
<Nizza,> 28. Januar 1887.
Werthester Herr Verleger,
inzwischen war ich sehr beschäftigt und ganz „anderswo“, als in Leipzig mit meinen Gedanken: Vergebung, daß ich mich noch nicht einmal für Ihre letzten gefälligen Mittheilungen bedankt habe. Hiermit möchte ich Ihnen nur meine neue Adresse kundgeben: sie gilt auch nur bis zum Anfang des März.
Nizza (France) rue des Ponchettes 29 au premier
Ihnen und Ihrem Herrn Bruder mich angelegentlich empfehlend Ihr ergebenster
Prof. Dr. F. Nietzsche
Aus Zürich ist mir die Anzeige des Dr. Welti zugesandt worden. —
796. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Nizza, France rue des Ponchettes 29 au premier <30. Januar 1887>
So! meine liebe gute Mutter, da soll schnell ein Geburtstags-Briefchen an Dich flügge gemacht werden, daß es zur rechten Zeit bei Dir ist: was mir in diesem Winter, bei der allgemeinen Schnee-Noth in Europa, weniger berechenbar und sicher scheint als sonst. Es freut mich aber, daß Herr Kürbitz wenigstens sicher und berechenbar geblieben ist (— könnte ich dasselbe doch von meinem Leipziger Verleger Fritzsch sagen, der mich seit 4 Wochen in einer geradezu Besorgniß erregenden Weise in Stich läßt! Zuletzt wird es Nichts sein als die alte Sächsische Bummelei und Unpünktlichkeit) Hoffentlich macht das Wetter Dir ein freundliches Gesicht zu Deinem Geburtstage, wie es Alle thun werden, die Dir gratuliren; und hoffentlich kommt auch ein Brief aus Südamerika an, der Dich erfreut. Im Grunde sind wir jetzt Alle recht über die Erde weg verstreut; es ist wenig von gleichen Menschen und Interessen übrig geblieben. Die Idee, daß nahe Verwandte von mir sich in Südamerika mit Holzhandel bereichern wollen, ist so fremd für mich als ihnen meine „Ideen“ sein mögen (über welche sich der beiliegende Dr. Welti im Grunde zu artig und gutmüthig ausdrückt als daß ich seinem Urtheile großen Werth beizulegen vermöchte) Das Leben ist eine ungewisse und gefährliche Sache, jeden Augenblick kann Etwas passiren, das man nicht zu verdauen vermag. Um von mir nicht zu reden: so verdrießt mich jetzt die aussichtslose Lage des Herrn Köselitz aufs Äußerste. Er ist schon zu alt, als daß man ihm zu warten anrathen dürfte; in seinem Alter muß man als Künstler berühmt sein oder berüchtigt (wie es Wagner z. B. war) Das ist anders für Unsereinen, ich meine für uns Philosophen, denen jede Art Ruhm, Aufsehn, Neugierde eher lästig sein muß: denn wir dürsten nicht darnach, mit Jemanden „übereinzustimmen.“ Ein Musiker aber, dessen Musik Niemand mag, und der in seiner Ecke hocken bleibt, ist eine lächerliche Figur, gleich einer Tänzerin, mit der kein Mensch tanzen will, so schön sie sich auch geputzt hat. Daß Herr K<öselitz> ein braver Mensch ist, giebt leider in dieser Hinsicht nicht den geringsten Trost, eher umgekehrt; das Schlimmste ist, daß er sich nicht darauf versteht, andre Künstler für sich einzunehmen.
Das Wetter ist hier über alle Maaßen schön, hell, mild; auch haben wir bisher noch nicht ein Stäubchen Schnee gehabt. Was ich fürchte, das ist, es möchte der Frühling zu früh kommen (nachdem der Winter um einen Monat zu früh gekommen ist —); und die warme Jahreszeit ist allen Nervenleidenden die gefährliche Jahreszeit. —
— Und nun will ich einen Sonntags-spaziergang über die Berge machen und an meine gute Mutter dabei mit vielen herzlichen Wünschen denken. Was man doch allein ist! Dein altes
Geschöpf.
797. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Postkarte)
Nizza, 8. Februar 1887
Werthester Herr Fritzsch, haben Sie auch Herrn Köselitz je ein Exemplar der Werke übersendet, an deren Vorreden er mitgeholfen hat? Wir müssen diesem sorgsamsten aller Correktoren uns unter allen Umständen erkenntlich erweisen — zum Mindesten ist es meine Schuldigkeit. — Ich selber erwarte mit Ungeduld das fertige Exemplar der „Morgenröthe“. — Was die sämmtliche<n> Manuscript-stücke betrifft, die zur Ergänzung der „fröhlichen Wissenschaft“ bestimmt waren, so bin ich heute nicht mehr geneigt, sie diesem Zwecke zu opfern. Senden Sie mir dieselben hierher zurück, und sobald als möglich, weil mein hiesiger Aufenthalt seinem Ende entgegen sieht. Ich nehme an, daß noch Nichts davon in die Druckerei gewandert ist. — Vielleicht ist überhaupt die buchhändlerische Neu-Versendung der fröhl<ichen> Wiss<enschaft> noch zu verschieben? Doch das gehört in Ihren Interessen-Kreis, nicht in den meinen. — Meine Adresse, möglichst genau und deutlich zu schreiben, ist einstweilen noch:
Nice (France)
rue des Ponchettes 29 au premier
Ihr ergebenster Dr. Nietzsche
798. An Franz Overbeck in Basel
Nice, 12. Fevr. 87
Lieber Freund,
es hilft nichts, ich werde Dich bitten müssen, mir dies Mal noch vor dem Quartals-Termine Geld zu schicken — 200 frs. etwa, und unter meiner ehemaligen Adresse pension de Genève pet. rue St. Etienne: denn zu dem neuen Hause, in dem ich wohne, fehlt es mir noch an Zutrauen. Der Winter ist streng, auch hier; doch bringt er eine große Menge vollkommen heller Tage mit sich — und ich habe noch kein Mal geheizt. Man sagt mir, daß mein Aussehn besser sei als den letzten Winter, auch daß ich beständig heiter sei: aber das hat man mir mein ganzes Leben gesagt. Die Menschen sind hier vielleicht noch oberflächlicher als anderswo: es versteht sich also, daß auch ich meine „Oberfläche“ habe. — Vielleicht hast Du selbst schon von Herrn Köselitz gehört, daß er inzwischen nach Venedig zurückgekehrt ist. Er preist die Frische und Klarheit der dortigen Luft und fügt hinzu, in seinem letzten Briefe „aria limpida, bei der ich gewiß ein paar Sachen gemacht haben würde, wenn ich im Geschirr geblieben wäre. Aber ich war halbtodt. Mir graut, die Feder zum Niederschreiben in die Hand zu nehmen.“
So habe ich meine Sorge, zumal ich gar nicht mehr absehe, was jetzt noch etwa zu thun ist, um den allgemeinen Widerwillen und Widerspruch, der sich gegen seine Musik geltend macht, zu heben. Levi hat eine Aufführung des Septetts veranstaltet, aber „er habe ein Gesicht dazu geschnitten wie Freund in Zürich“ — „und gewiß hat er mich halb bedauert, halb ausgelacht.“
Es freut mich sehr, daß Du an der Oper solches Wohlgefallen gehabt hast; aber ich muß mir immer noch den Musiker suchen, dem sie gefällt. Köselitz hat die gebildetsten wohlwollendsten und anerkanntesten Musiker gegen sich. Trotzdem: gerade dies giebt mir Zutrauen. Es stünde bedenklicher, wenn es anders stünde… Gesetzt, daß er selbst weniger daran litte, so würde ich ihm beinahe dazu gratuliren: denn es ist das eigentliche Abzeichen des wahrhaft Neuen und Originalen (— daß man die Gebildeten gegen sich hat). Beiläufig: mir ist diese letzten Monate (wo ich mehr als mir lieb war mich genöthigt sah, meine frühere Litteratur zu berücksichtigen) zum Bewußtsein gekommen, daß in fünfzehn Jahren auch nicht eine einzige werthvolle sachlich-tiefe, interessante und interessirte Recension über eins meiner Bücher geschrieben worden ist — und daß ich’s nicht vermißt habe (was das Beste daran ist!) Dagegen will ich keinen Augenblick leugnen, daß ein andres Faktum mir schrecklich weh thut und mir auch beständig gegenwärtig ist: daß in eben diesen fünfzehn Jahren auch nicht Ein Mensch mich „entdeckt“ hat, mich nöthig gehabt hat, mich geliebt hat, und daß ich diese lange erbärmliche schmerzenüberreiche Zeit durchlebt habe, ohne durch eine ächte Liebe getröstet worden zu sein. Mein ganzer „Zarathustra“ ist aus dieser Entbehrung gewachsen — wie unverständlich muß er sein! Welche absurden Erinnerungen habe ich in Hinsicht auf die Wirkung, die er gemacht hat! Er hat erbittert, wenigstens eine gewisse Art von Menschen: dies ist bisher seine einzige tiefere Wirkung gewesen. — Indessen — indessen — ich bin „intelligent“ genug, um auch dies als gutes Zeichen zu nehmen. Zuletzt habe ich keine Zeit, mich sehr um die „Meinung über mich“ zu bekümmern: es giebt eine erschreckliche Menge von Problemen, die auf mich drücken. Und was für Probleme! Wenn ich nur den Muth hätte, Alles zu denken, was ich weiß.. (Dies ist nicht sehr deutlich ausgedrückt, lieber Freund: es ist gut, daß ich in Frankreich lebe, das unwillkürlich zur Deutlichkeit erzieht) Empfiehl mich Deiner lieben Frau und gieb mir bald Nachricht über Deinen Winter, ich meine Deine Gesundheit bei einem solchen Winter.
Dein F. N.
Habe ich Dir von H. Taine geschrieben? Und daß er mich „infiniment suggestif“ findet? Und von Dostoiewsky?
799. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig
Nice (France) rue des Ponchettes 29 au premier den 13. Febr. 1887
Werthester Herr Verleger,
voran Ihnen und Ihrer verehrten Frau Gemahlin meine aufrichtigen Glückwünsche zu dem Ereigniß in Ihrer Familie, das Sie mir heute meldeten. —
Inzwischen werden Sie aus meiner Karte (vom Dienstag) ersehn haben, daß meine Zeit hierselbst zu Ende geht und nicht nur meine Zeit, sondern auch meine Geduld — Oh wenn Sie wüßten, was ich selbst mich Anfang Winters beeifert habe, um das Manuscript zu der versprochnen Zeit in Ihre Hände abliefern zu können!
Wir Beide, werther Herr Fritzsch, sind zwar nahe genug der sächsischen Grenze geboren — damit aber haben wir noch lange kein Recht auf die verdammliche sächsische Bummelei und Unpünktlichkeit, der ich meinerseits Zeitlebens den Krieg gemacht habe. —
Ich dachte inzwischen daran, die eingesandten Manuscript-Stücke zu einer zweiten Auflage von „Jenseits von Gut und Böse“ zu verwenden. Indessen — wenn Sie mir garantiren können, daß der Druck innerhalb 5—6 Wochen zu Ende gebracht werden kann, so soll es bei meiner ersten Absicht bleiben. So lange will ich mich dann hier noch fixieren.
Das Verzeichniß der Stücke, welches Ihr heutiger Brief enthält, ist schwer von mir bloß aus dem Gedächtnisse zu controliren. Zunächst fehlt jedenfalls gerade der Anfang des fünften Buchs (Ich glaube, die Überschrift war: was es mit unsrer Heiterkeit auf sich hat) Insgleichen fehlt das zweite Stück „Inwiefern auch wir noch fromm sind, also 344. Die letzte Nummer des vierten Buchs ist übrigens 342: folglich muß die erste Nummer des fünften Buchs 343 sein (und nicht 345) Auch erkenne ich nicht aus Ihrem Register, ob Sie 371 Wir Furchtlosen richtig auch mit dem später geschickten Nachtrag versehn haben.
Diese hier angedeuteten Veränderungen belieben Sie noch zu machen: dann mag Ihr Register, das ich wieder beilege, Gültigkeit haben.
Aber warum sind nicht wenigstens die Abzüge der Vorrede in meinen Händen? Insgleichen ein fertiges Exemplar der Morgenröthe? —
Der Druckgang der gleiche, wie früher: ein Abzug mit dem Manuscript an Hrn. Köselitz (Venezia, San Canciano calle nuova 5256) zu gleicher Zeit ein Abzug an mich.
Ihr ergebenster Dr. Nietzsche
800. An Heinrich Köselitz in Venedig
Nizza, den 13. Febr. 1887.
Lieber Freund,
eben meldet Fritzsch, daß der Druck der fröhlichen Wissenschaft (resp. der verschiedentlichen Nachträge) nunmehr seinen Gang nehmen wird — und somit muß ich Sie wieder, aber hoffentlich für lange zum letzten Male, um Ihre unschätzbare Beihülfe mit Kopf und Augen bitten. Seien Sie nicht böse, lieber Freund, gerade dies Mal geht es nicht ohne Sie. Ich habe nämlich im letzten Oktober so geschwind wie möglich noch ein fünftes Buch zu besagter „Wissenschaft“ hinzu gekritzelt (um dem Ganzen eine Art Gleichwerthigkeit mit der Morgenröthe zu geben, nämlich vom buchbinderischen Standpunkt aus —) und bin jetzt selber einigermaßen neugierig, was ich damals eigentlich geschrieben haben mag. Es ist ganz weg aus meinem Gedächtnisse. Nur weiß ich, daß es einige Noth hatte, meine Ansichten gleichsam zurückzubilden und eine Art Condescendenz zu einem früheren Stand- und Gesichtspunkte des Lebens aufrecht zu erhalten. Nehmen wir an, daß es nicht immer gelungen ist: bitte aber, seien Sie dies Mal mißtrauischer als sonst gegen mich und schreiben Sie mir, unter Umständen, einfach „das und das geht nicht, gefällt mir nicht, warum nicht lieber so und so etc. etc. etc..“
Es giebt eine längere Vorrede, und, zum Schluß, hinter dem fünften Buch, eine Handvoll Lieder: so daß Alles sich schönstens in Liederlichkeit auflöst.
— Herr Fritzsch wird sich gegen Sie zu entschuldigen haben (er ist schrecklich beschäftigt, sogar mit der Verlobung einer Tochter); es versteht sich von selbst, daß Ihnen alle die Werke, an deren Vorreden Sie Ihre „liebe Noth“ gehabt haben, zugehen. —
— Der Zufall hat mir ins Ohr geflüstert, daß Mottl schließlich doch abgelehnt hat und auch von Berlin schon mit großem Bedauern fahren gelassen worden ist. In wie fern das mich gefreut hat, ist schwer auszudrücken: aber ich glaube immer noch, daß dieser Mann Ihre Oper aufführen wird…
Ganz von ferne ist mir die Einsicht aufgegangen, daß wir Beide, in Hinsicht auf Mittel und Wege, diese Oper zur Aufführung zu bringen, uns wie die Kinder benommen haben. Himmel, was wird hier in Frankreich Alles in Scene gesetzt, ehe ein Componist dazu kommt, sein Werk zu hören! Das ist ein rabbiater Kampf von Jahren, mit allen Künsten und Listen des neunzehnten Jahrhunderts. Das wesentlichste der anständigen Mittel (denn die Mehrzahl ist unanständig) ist ein aesthetisches Programm, das Lärm macht. Ein Werk, das nicht eine „Theorie“ hinter sich hat und im Stande ist, Partei zu machen, vor allem Parteien zu beleidigen, kommt nicht mehr an’s Licht der Welt, sei es ein Gemälde, sei es eine Oper. Gehört man (— zufällig… ) zu keiner Partei, so muß man hier à tout prix alle Parteien frondiren — dann geht es, vielleicht…
Dabei fällt mir ein, daß ich sehr dankbar sein würde, wenn Sie mir einen Einblick in Ihre Münchner Recensionen gestatteten. Ich will Einiges daraus lernen, das verspreche ich Ihnen.
— Kennen Sie Dostoiewsky? Außer Stendhal hat Niemand mir so viel Vergnügen und Überraschung gemacht: ein Psychologe, mit dem „ich mich verstehe“. —
Und nun habe ich Ihnen noch nicht einmal für Ihren guten Brief gedankt, und für Ihren Muth, Ihre Tapferkeit, Ihre Treue für Venedig — was mir Alles so gegenwärtig ist und so verehrungswürdig erscheint! Ich bitte Sie von Herzen darum: lassen Sie den Himmel wieder in Ihre Bäume wachsen! Ihr Freund
Nietzsche
801. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Postkarte)
<Nizza, 18. Februar 1887>
Mein lieber Herr Fritzsch! Der Zufall treibt sein Spiel mit uns — unsre Briefe haben sich wieder gekreuzt! Es bleibt mir Nichts übrig, um bei dem stehen zu bleiben was ich in meinem letzten Briefe Ihnen mittheilte, als das Manuscript zum zweiten Mal Ihnen zuzusenden: mit der herzlich dringlichen Bitte, mich aus dieser monatelangen Marter der Erwartung baldigst zu befreien. Ich habe mit dieser Druckerei-Geschichte meinen ganzen Winter zugesetzt… Zuerst also die Vorrede, dann das fünfte Buch, dann die Lieder des Prinzen Vogelfrei! — Ein einzelnes Blatt, das zum fünften Buch gehört und hier liegen geblieben war, habe ich in aller Eile direkt an Ihre Druckerei geschickt.
Die Adresse des Herrn Köselitz ist:
Venezia (Italia)
San Canciano calle nuova 5256
Ich habe das Manuscript neu numerirt; jenes einzelne Blatt bitte ich nunmehr mit der Nummer 358 zu versehen und an dieser Stelle einzuschieben (die Nummer, die darauf steht, ist falsch)
Dies fünfte Buch der fröhl<ichen> Wissenschaft ist äußerst inhaltsreich und wird, wie mir scheint, die Anziehungskraft des Ganzen bedeutend steigern. Pardon! So soll kein Autor reden —
Ihr ergebenster N.
802. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
Sonnabend. <Nizza, 19. Februar 1887>
Lieber Freund, inzwischen habe ich Fritzsch zur Rede gestellt; in Betreff der Pflicht-Exemplare, die er Ihnen schuldete: aber er antwortet, diese Exemplare seien richtig an Sie nach München abgesandt, aber von dort ihm zurückgeschickt worden — er wisse Nichts von Ihrer Übersiedlung nach Venedig. Darauf habe ich ihm sofort Ihre neue Adresse zukommen lassen. (In nächster Woche soll übrigens auch die Vorrede zur „fröhl<ichen> Wissenschaft“ in unsren Händen sein.)
Nochmals um Entschuldigung bittend
Ihr Freund N.
Hoffentlich auch bei Ihnen herrliches Wetter. Bisher kein Stäubchen Schnee.
803. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Nizza, 19. Februar 1887>
Sei nicht böse, meine liebe Mutter, daß ich gar nicht schreibe: aber es ist kein Wetter darnach. Blaue Finger; bisher noch nicht geheizt. Sehr harter Winter für mich. Es freut mich sehr, daß Du Dich hübsch gekleidet weißt, man erträgt das Leben noch einmal so gut. Ich selbst bin leider nicht mit mir zufrieden und schleppe die alten häßlichen Sachen aus einem Jahr ins andre. — Wolltest Du mir einen Gefallen thun, so sende das Zeitungsblatt mit dem Artikel des Dr. Welti nach Leipzig an Herrn E. W. Fritzsch, Verlagshandlung, Königstr. 6 — aber ohne etwas hinzuzufügen. Vielleicht dient es dazu, ihm ein wenig Muth zu machen. In herzlicher Liebe Dein altes
Geschöpf.
804. An Franz Overbeck in Basel
<Nizza,> Mittwoch. (23 Feb. 87)
Lieber Freund
heute nur meinen Dank für Deinen Brief und die Geldsendung, die mich sehr beruhigt hat; ich war selten in meinem Leben so sehr am Ende meines „Lateins“. Übrigens bin ich krank, hüstele comme il faut, fröstele: dabei spielt sich der lärmende Carneval von Nizza fast vor meinem Fenster ab ..
Anbei ein Brief des Venediger maëstro, an dem Du, wie ich glaube, Freude haben wirst. Ich war so in Sorge! Aber es dreht sich zum Besseren. Eine kleine Machination, sehr indirekt, welche darauf abzielte, Herrn Hegar in Zürich zu einer Artigkeit gegen ihn zu veranlassen, scheint mir gelungen.
Gesetzt, daß ich diesen Frühling nach Zürich komme und Hegar bereit finde, mir den Mizka-Czàrdas vorzuführen, werde ich nicht versäumen, Dich dazu einzuladen.
Von Dostoiëwsky wußte ich vor wenigen Wochen auch selbst den Namen nicht — ich ungebildeter Mensch, der keine „Journale“ liest! Ein zufälliger Griff in einem Buchladen brachte mir das eben ins Französische übersetzte Werk l’esprit Souterrain unter die Augen (ganz so zufällig ist es mir im 21ten Lebensjahre mit Schopenhauer und im 35ten mit Stendhal gegangen!) Der Instinkt der Verwandtschaft (oder wie soll ich’s nennen?) sprach sofort, meine Freude war außerordentlich: ich muß bis zu meinem Bekanntwerden mit Stendhals Rouge et Noir zurückgehen, um einer gleichen Freude mich zu erinnern. (Es sind zwei Novellen, die erste eigentlich ein Stück Musik, sehr fremder, sehr undeutscher Musik; die zweite ein Geniestreich der Psychologie, eine Art Selbstverhöhnung des γνῶθι σαυτόν). Beiläufig gesagt: diese Griechen haben viel auf dem Gewissen — die Fälscherei war ihr eigentliches Handwerk, die ganze europäische Psychologie krankt an den griechischen Oberflächlichkeiten; und ohne das Bischen Judenthum usw. usw. usw.
Diesen Winter habe ich auch Rénans Origines gelesen, mit viel Bosheit und — wenig Nutzen. Diese ganze Geschichte kleinasiatischer Zustände und sentiments scheint mir auf eine komische Weise in der Luft zu schweben. Zuletzt geht mein Mißtrauen jetzt bis zur Frage, ob Geschichte überhaupt möglich ist? Was will man denn feststellen? — etwas, das im Augenblick des Geschehens selbst nicht „feststand?“ —
Lieber Freund, über das Deutschland, dessen Zeitgenossen wir sind, kein Wort! Ich lese eben Sybels Hauptwerk, in französischer Übersetzung, nachdem ich über die einschlägigen Probleme die Schule von Tocqueville und Taine durchgemacht habe — da finde ich z. B. diesen süperben Gedanken „c’est du régime féodal et non de sa chute, que sont nés l’égoisme, l’avidité, les violences et la cruauté, qui conduisirent aux terreurs des massacres de septembre.“ Ich glaube, das fühlt und weiß sich als „Liberalismus;“ gewiß ist, daß ein solcher zur Schau getragener Haß gegen die ganze Gesellschafts-Ordnung des Mittelalters sich vortrefflich mit der rücksichtsvollsten Behandlung der preußischen Geschichte verträgt. Z. B. in Betreff der Theilung Polens. (Kennst Du Montalembert’s Moines d’Occident? Oder vielmehr: weißt Du etwas Solideres und weniger Parteiisches, als dies Werk, aber mit der gleichen Absicht, die Wohlthaten, welche die europäische Gesellschaft den Klöstern verdankt, in’s Licht zu stellen?)
Dieser Winter thut mir wohl, wie ein Zwischen-Akt und Zurückschauen. Unglaublich! Ich habe in den letzten 15 Jahren eine ganze Litteratur auf die Beine gestellt und sie schließlich mit Vorreden und Zuthaten so weit „fertig gemacht“, daß ich sie als losgelöst von mir betrachte, — daß ich darüber lachen kann, wie ich im Grunde über alles Litteratur-Machen lache. Alles in Allem, so habe ich nur die miserabelsten Jahre meines Lebens dazu verwendet.
Treulich Dein alter Freund
N.
homo illitteratus
805. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Nizza, 24. Februar 1887>
Lieber Freund, vielleicht sind Sie durch die Nachrichten über unser Erdbeben beunruhigt: hier ein Wort, das Ihnen wenigstens sagen soll, wie es bei mir steht. Die Stadt ist voll zerrütteter Nervensysteme, die Panik in den Hôtels kaum glaublich. Diese Nacht, gegen 2—3 Uhr, habe ich eine Rundtour gemacht und einige mir befreundete Personen besucht, die im Freien, auf Bänken oder in Droschken, der Gefahr vorzubeugen glaubten. Mir selbst geht es gut; noch keinen Augenblick Schrecken — und sogar sehr viel Ironie!
Ihrem Verdacht gegen Fritzsch weiß ich nicht zu entgegnen. Es ist mir nicht klar, wie er jetzt zu mir steht; aber ich bin geneigt, ihm viel zu verzeihen, nachdem er die große Dummheit gemacht hat, meine unmögliche Litteratur auf seine Schultern zu nehmen.
Der Eindruck Ihres letzten Briefs war so, daß ich ein Fest feierte. Alles wendet sich zum Guten; und Unsereiner muß hübsch vom Schicksal geschmort werden, wenn anders wir — schmackhaft werden sollen.
Treulich Ihr N.
806. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Nizza,> Donnerstag morgen <24. Februar 1887>
Meine liebe Mutter, nur ein Wort der Beruhigung, für den Fall, daß die Nachrichten über unser Erdbeben Dich beunruhigt haben. Es ist wahr, daß die Mehrzahl der Fremden den Kopf dabei verloren hat; Dein altes Geschöpf aber nicht. Diese Nacht, gegen 2—3 Uhr, machte ich eine kleine Inspektions-Tour durch die Stadt, ich besuchte namentlich die mir bekannten Hôtels, die zum Theil sehr gelitten haben: ihre Inwohner brachten die scharf kalte Nacht im Freien zu, eingewickelt auf Bänken liegend, oder in Droschken usw. Gegen Abend aß ich in der Pension de Genève, natürlich im Freien: lauter zerrüttete Nervensysteme, mit Ausnahme der alten Pfarrerin, welche, gleich mir, guter Laune war. Für Nizza ist es ein großer Schlag; die Saison ist mit Einem Male zu Ende. — Herzlichsten Dank für Deinen Brief und seine heitere Beigabe! Es giebt Viel jetzt für mich zu thun: entschuldige, wenn ich nur Karten schicke!
Dein altes Geschöpf.
807. An Reinhart von Seydlitz in München
Nizza, Donnerstag den 24. Febr. 87. rue des Ponchettes 29 au premier
Glücklicher Weise, lieber Freund, bewies in Deinem eignen Falle Dein Brief ganz und gar nicht quod erat demonstrandum: sonst aber gebe ich Dir Alles zu, die verhängnißvollen Einwirkungen des bedeckten Himmels, der langen feuchten Kälte, der Nähe von Bajovaren und von bairischem Bier — ich bewundre jeden Künstler, der diesen Feinden die Stirn bietet, gar nicht zu reden von der deutschen Politik, welche nur eine andre Art permanenten Winters und schlechten Wetters ist. Mir scheint Deutschland in den letzten 15 Jahren eine förmliche Schule der Verdummung geworden zu sein. Wasser, Quark und Mist weit und breit: das blödsinnige Lächeln des alten Wilhelm über diesen Wassern schwebend — so sieht sich das aus der Ferne an. Ich bitte tausend Male um Entschuldigung, wenn ich damit Deine edleren Gefühle verletze, aber vor diesem gegenwärtigen Deutschland, so sehr es auch igelmäßig in Waffen starrt, habe ich keinen Respekt mehr. Es repräsentirt die stupideste verkommenste verlogenste Form des „deutschen Geistes“, die es bisher gegeben hat — und was hat dieser „Geist“ sich schon Alles an Geistlosigkeit zugemuthet! Ich vergebe es Niemanden, der mit ihm seinen Compromiß macht, heiße er selbst Richard Wagner, und namentlich nicht, wenn es so schändlich zweideutig und vorsichtig gemacht wird, wie dies der kluge, allzukluge Verherrlicher der „reinen Thorheit“ in seinen letzten Jahren bewerkstelligt hat — —
Hier, in unserm Sonnenlande — was für andre Dinge haben wir im Kopfe! Eben noch hatte Nizza seinen langen internationalen Carneval (mit Spanierinnen im Übergewichte, beiläufig gesagt) und dicht hinter ihm, sechs Stunden nach seiner letzten Girandola, gab es schon wieder neue und seltener erprobte Reize des Daseins. Wir leben nämlich in der interessanten Erwartung zu Grunde zu gehn — Dank einem wohlgemeinten Erdbeben, das nicht nur alle Hunde weit und breit heulen macht. Welches Vergnügen, wenn die alten Häuser über Einem wie Kaffemühlen rasseln! wenn das Tintenfaß selbständig wird! wenn die Straßen sich mit entsetzten halbbekleideten Figuren und zerrütteten Nervensystemen füllen! Diese Nacht machte ich, gegen 2—3 Uhr, comme gaillard, der ich bin, eine Inspektionsrunde in den verschiedenen Theilen der Stadt, um zu sehn, wo die Furcht am größten ist — die Bevölkerung campirt nämlich Tags und Nachts im Freien, es sah hübsch militärisch aus. Und nun gar in den Hôtels! wo Vieles eingestürzt ist und folglich eine vollkommene Panik herrscht. Ich fand alle meine Freunde und Freundinnen, erbärmlich unter grünen Bäumen ausgestreckt, sehr flanelliert, denn es war scharf kalt, und bei jeder kleinen Erschütterung düster an das Ende denkend. Ich zweifle nicht, dies macht der Saison ein plötzliches Ende, alles denkt ans Abreisen (gesetzt, daß man fortkommt und daß die Eisenbahnen nicht zu allererst „abgerissen“ sind) Schon gestern Abend waren die Gäste des Hôtels, wo ich esse, nicht dazu zu bringen, ihre table d’hôte im Innern des Hauses einzunehmen — man aß und trank im Freien; und abgesehn von einer alten sehr frommen Frau, welche überzeugt ist, daß der liebe Gott ihr Nichts zu leide thun darf, war ich der einzige heitere Mensch unter lauter Larven und „fühlenden Brüsten.“
— Eben erwische ich ein Zeitungsblatt, das diese letzte Nacht bei weitem malerischer als Dein Freund vermag Dir zu Gemüthe führen wird. Ich lege es bei, lies es, bitte, Deiner lieben Frau vor und behalte mich in gutem Angedenken!
Treulich
Dein Nietzsche
(Verzeih die Eile und Hastigkeit meiner Schrift, aber der Brief soll mit dem nächsten Zuge fort.)
807a. An Reinhart von Seydlitz in München
<Nizza, 24. Februar 1887>
NB der Verlust an Menschenseelen stellt sich, nach eingetretener Beruhigung, als unerheblich heraus: an der ganzen Riviera ungefähr 1000 Personen. Die ersten Ziffern waren viel höher. F. N.
Auf einem Zeitungsausschnitt, beigelegt dem Brief Ns an Seydlitz vom 24. Februar 1887
808. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Nizza, 24. Februar 1887.> Donnerstag Morgen.
Lieber Freund, in meinem gestrigen Briefe habe ich dem Ereignisse des Tags zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Ich sende deshalb ein Zeitungsblatt. Auch versteht es sich von selbst, daß ich thue, was ich kann, um etwas Muth und Ruhe zu verbreiten, denn die Panik ist ungeheuer und die Stadt ist voller zerrütteter Nervensysteme. — Diese Nacht habe ich, zwischen 2 und drei 1/2 Uhr, eine Rundtour gemacht, um die mir bekannten Personen aufzusuchen, die alle im Freien, in düsterer Stimmung, übernachteten — wie ich fürchte, sehr zum Nachtheil ihrer Gesundheit, denn die Nacht war kalt. Es gab kleine Erschütterungen, die Hunde heulten, halb Nizza war auf den Füßen. Ich selbst habe vor und nach meiner Inspektionstour gut geschlafen. Das Schlimmste ist, daß damit die Saison plötzlich zu Ende ist. Ich erwarte übrigens noch mehr und bin auf Alles vorbereitet, heiter bis jetzt: das Wetter herrlich. Dir und Deiner lieben Frau einen herzlichen Gruß!
Dein N.
809. An Malwida von Meysenbug in Rom
Nizza, rue des Ponchettes 29 au premier <Ende Februar 1887>
Verehrte Freundin,
— ich hoffe, daß Sie von mir keine Nachrichten über unser Erdbeben erwarten? Ich für meine Person bin dabei nicht „umgefallen“ und habe selbst an jenem Morgen des Schreckens, wo Nizza einem Tollhause glich, mit großer Gemüthsstille in meinem Zimmer gearbeitet (das Haus war sonst verlassen); auch ist es mir passirt, in einem Brief, den ich an jenem Tage schrieb, das Ereigniß des Tages zu vergessen. — Das Erdbeben hat übrigens dem Hause, in welchem der dritte und vierte Theil des Zarathustra niedergeschrieben wurde, so zugesetzt, daß es abgetragen wird. — Vergänglichkeit!…
— Eben langte ein großer Brief meiner Schwester an, der das ausführlichste Bild ihrer jetzigen mühevollen, aber wohlgemuthen Existenz giebt, überdies aber die entscheidende Nachricht von dem glänzend gelungenen Ankauf eines mächtigen Stück Landes bringt — eine lange erwartete Nachricht: das neue Besitzthum zu Coloniezwecken ist größer als manches deutsche Fürstenthum und voll des herrlichsten Hochwaldes: man will nämlich Holzhandel treiben, mit Argentinien, das keine Wälder hat. Wie ferne klingt mir das in den Ohren! Holzhandel! Südamerika! Und dabei wird selbst die antisemitische Propaganda fortgetrieben… Meine Schwester ist gründlich „ausgewandert“, gesetzt daß sie jemals bei mir heimisch gewesen ist: was ich nicht glaube. —
Was machen denn alle die jungen oder weniger jungen Mädchen, mit denen bekannt zu sein ich Ihrer Freundschaft verdanke (lauter kleine verrückte Thiere, unter uns gesagt)? — Daß ich einen „sehr verehrenden“ Brief von Frl. von Salis erhalten habe, theilte ich Ihnen wohl schon mit; dagegen keinen von Frl. Rohr außer einer Empfangsanzeige (ich hatte ihr nämlich mein letztes Buch geschickt und mag sie damit hübsch in Schrecken gesetzt haben) Von Frl. von Schirnhofer „seit Jahren“ keine Nachricht; ein Versuch, etwas über sie durch ihre Freundin Frl. Wildenow in Zürich zu erfahren, mißrieth. Ein Frl. Druscowicz soll sich neuerdings durch ein altkluges Litteraten-Geschwätz an meinem Sohne Zarathustra versündigt haben: es scheint, durch irgend ein Verbrechen habe ich die weiblichen Federkiele gegen meine Brust gerichtet — und so ist’s Recht! Denn, wie meine Freundin Malvida spricht: „ich bin schlimmer noch als Schopenhauer.“
Es scheint wirklich, daß ich in meinen letzten Briefen sei es mit Ihnen, sei es mit mir selber, ganz unerlaubte Scherze getrieben habe: und es ist schön, daß Sie dergleichen nicht krumm nehmen. Im Grunde mache ichs jetzt mit Jedermann so, instinktiv, überdies mit Wohlwollen — ich glaube nicht mehr daran, daß irgend Jemand Etwas von mir, an mir, über mich „begreift“. Fünfzehn Jahr Einsamkeit — was sage ich! Zwei und vierzig Jahre — denn so alt bin ich.
Vielleicht erfüllt sich mein Wunsch, Sie wiederzusehn, verehrte Freundin, endlich! endlich! nämlich im nächsten Winter. Nicht daß ich es versprechen möchte; aber ein Gefühl, daß meine Geduld für Nizza zu Ende geht, macht mich von besseren Orten, besseren Menschen träumen. Bis zum 3. April bleibe ich noch hier.
Es grüßt Sie in alter Verehrung
Ihr
Friedrich Nietzsche.
810. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
Nizza den 2. März 1887.
Sehr geehrter Herr Verleger,
Ihren werthen Mittheilungen habe ich eine gewisse Beruhigung über das Schicksal meines letzten Buchs entnommen. Dieses langsam und gleichsam unterirdische Weiterwirken meiner Schriften, von dem Sie reden, gefällt mir bei weitem am meisten; ich sollte sogar jede andre plötzlichere Art von Wirkung im Widerspruch mit meiner Denkungsweise finden, welche vielleicht nichts so entschieden von sich abwehrt als ein „Publikum“ im modernen Sinne. „Kammermusik“, vor Wenigen, aber vor Kennern, vor Verwöhnten —
Meine Photographie würde ich gerne selbst an Frau Röder-Wiederhold schicken: aber — aber es giebt keine Photographien mehr! Mein alter Photograph, der Maler Schultze in Naumburg, hat sein Geschäft aufgegeben, aus Melancholie über seinen Sohn, wie man mir sagt. Die letzte Photographie von mir, die sich bei ihm noch vorfand, ist in den Besitz meiner Mutter übergegangen.
Inzwischen hat Herr Dr. Adams von Neapel aus an mich geschrieben: er will mich hier auf der Rückreise besuchen.
Von unserm Erdbeben werden Sie gelesen haben: die Zeitungen geben ein übertreibendes Bild davon. Ich selbst war durchaus nicht „umgeworfen“ —
Hochachtungsvoll der Ihrige
Prof. Dr. Nietzsche
Die Adresse des Herrn Köselitz ist: Venezia (Italia) San Canciano calle nuova 5256
811. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Nizza, 4. März 1887>
Meine liebe Mutter, ich denke, es giebt hier Nichts mehr zu besorgen, an kleinen Stößen und Erzitterungen fehlt es nicht, aber das ist billig, — das „Nervensystem“ unsres Erdbodens muß sich erst beruhigen. Die Zeitungsnachrichten waren sehr übertrieben und zum Theil falsch. An der ganzen Riviera sind nicht mehr als 1000 Menschenleben zu beklagen; und wir in Nizza sind relativ am besten weggekommen. — Morgen wird, aus Neapel zurückkehrend, Dr. Adams hier eintreffen, um „seinen Meister“ kennen zu lernen, es ist ein Philologe und Schüler Rohdes, der aber nach Philosophie wie ein Fisch auf dem Trocknen schnappt. Hoffentlich giebt es keine Enttäuschungen: mein Mißtrauen ist groß geworden. Meine alte Mutter, daß Du mir keinen Mißbrauch mit der Welti-Recension treibst! Sie ist ja etwas Jämmerliches; aber nur darum, weil sie beweist, daß man mich immer noch in der Schweiz mit großer Achtung behandelt, habe ich sie Dir geschickt. — Allerschönsten Dank für den Brief des Lama, der endlich ein sehr klares Bild giebt. Aufrichtig, wenn Beide nicht so hoffnungsvolle Phantasten wären, stünde es sehr viel besser; das Lama benimmt sich so brav als möglich, aber Holzhandel! zum Teufel, dazu muß man geboren sein! — Ich bleibe bis zum 3. April.
Dein altes Geschöpf.
812. An Emily Fynn in St. Moritz
Nice (France) rue des Ponchettes 29 <um den 4. März 1887>
Hochverehrte Frau,
indem ich Ihnen meinen allerherzlichsten Dank für eine so warm geäußerte Theilnahme ausdrücken möchte, darf ich nicht verschweigen, daß es eine unverdiente Theilnahme ist: denn so wunderlich es klingen mag, ich bin viel zu gut bei der ganzen Katastrophe weggekommen als daß ich irgend ein Anrecht auf Theilnahme hätte. Die ganze Sache war äußerst interessant —, noch mehr absurd; und nicht weniger oder mehr gefährlich als etwa eine Fahrt mit einem train rapide des Nachts. Die Zeitungen haben schrecklich übertrieben; umgekehrt scheint es mir, daß die wirklich herzzerreißenden Vorgänge, die in den kleinen Küstenorten zwischen Genua und San Remo sich abspielten, viel zu wenig die öffentliche Theilnahme erregt haben. In Nizza lag das Centrum der Bewegung jedenfalls nicht unter der Erde, sondern in den Nerven: man hat hier einen Lärm gemacht, daß ganz Europa sich für unser „Schicksal“ interessiert! Wie viel Briefe bekam ich! Wie viel Aufforderungen zur Flucht! Aber in meinem persönlichen Falle muß ich bekennen, daß ich es nicht einmal zum Schrecken gebracht habe und zum Beispiel an jenem Morgen, wo das ganze Nizza ins Freie stürzte und einem Tollhause glich, in der ungestörtesten Gemüthsruhe auf meinem Zimmer arbeitete; es ist mir passiert, in zwei Briefen, die ich an jenem Tage schrieb, das Ereigniß des Tages zu vergessen!
Sie sehen, wie unwürdig ich Ihres Mitgefühls bin!
— In der ersten Nacht darauf, wo Alles im Freien campirte, schlief ich ruhig bis 2 Uhr zu Hause: da kam ein stärkerer Stoß wieder, die Hunde heulten rings, ich kleidete mich an und machte eine Wanderung durch die verschiedenen Theile Nizzas um zu sehen, zu welchen Thorheiten die Furcht die Menschen treiben kann. Dies war die interessanteste Wanderung, die ich bisher in Nizza gemacht habe: hinterdrein schlief ich so gut als vorher. —
Anbei folgt die einzige objektive Darstellung des Vorgangs, die ich bisher entdecken konnte — gemacht auf dem Cap des Vorgebirgs von Antibes, welches Sie kennen. —
Ich bleibe noch bis zum 3. April hier und hoffe auch noch über die zu erwartenden schlimmen Tage des Monats (März) den 9ten, den 22ten, und 23ten hinwegzukommen. Jener deutsche Gelehrte nämlich, der mit seiner Prophezeiung (von vorigem November) bis auf den Tag Recht bekommen hat, wird, fürchte ich, auch noch für die weiteren Prophezeiungen Recht bekommen. Doch verspricht er schwächere Stöße — Sonne und Mond sind die Bösewichte, welche unsere arme kleine Erde so beunruhigen. —
(Das Haus, in welchem zwei meiner Werke entstanden sind, ist dermaaßen erschüttert und unhaltbar geworden, daß es abgetragen werden muß. Dies hatte den Vortheil für die Nachwelt, daß sie eine Wallfahrtsstätte weniger zu besuchen hat.)
— Sagen Sie, bitte, Ihrer verehrten Freundin, daß ich diesen Winter über die Gemüths-Eigenschaften des russischen Volks viel nachgedacht habe, dank dem eminenten Psychologen Dostoiewsky dem, was Schärfe der Analyse betrifft, selbst das modernste Paris Niemanden zur Seite zu stellen hat. Man lernt die Russen durch ihn lieben — man lernt sie auch fürchten. Das ist ein Volk, das seine Kräfte noch nicht verbraucht hat, wie die meisten europäischen Völker, weder die Kräfte seines Willens noch die seines Herzens. —
Uns Allen bessere Gesundheit wünschend und mir selbst die Fortdauer einer so gütigen Gesinnung — die ihr Licht selbst über philosophische Einsiedler und Höhlenbären leuchten läßt — verbleibe ich Ihnen und Ihrem verehrungswürdigen Kreise treulich zugethan
als Ihr ergebenster Diener
Prof. Dr. Nietzsche.
813. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Postkarte).
<Nizza, 6. März 1887>
Werther Herr Verleger, endlich, nämlich nach Empfang der letzten Correcturbogen, begreife ich, daß Sie die Vergrößerung der fröhlichen Wissenschaft durch das von mir projektirte „fünfte Buch“ nicht wünschen, also wahrscheinlich irgendwie buchhändlerisch unrathsam finden. Aber warum schreiben Sie mir das nicht einfach? und zur rechten Zeit? Ich kann diese Art Interessen schlecht beurtheilen und bin viel zu wenig dabei betheiligt: was liegt mir daran, ob Etwas von mir heute oder morgen gedruckt wird! Das Einzige, was ich perhorrescire, ist dagegen, durch das monatelange verfluchte Warten um Zeit und gute Laune gebracht zu werden. — Also wir lassen das fünfte Buch, Vorrede und Lieder genügen. (Schade, daß ich mich dieses fünften Buchs wegen hier in diesem Erdbeben-Neste noch bis zum 3. April fest gemiethet habe!) Ergebenst
Ihr Dr. Fr. Nietzsche.
814. An Heinrich Köselitz in Venedig
Montag. <Nizza, 7. März 1887>
Lieber Freund,
soeben empfieng ich, dankbar Ihrer Hülfe eingedenk, die Correktur der „Lieder“ — das ist die letzte Correktur, es freut mich dies Ihnen melden zu können. Mit dem „fünften Buche“, dessen Manuscript seit mehreren Monaten in Fritzschens Händen ist und dessen Drucklegung ich selber zu bezahlen gewillt war, scheint besagter Leipziger wenig einverstanden. Genug, wir lassen es vor der Hand ungedruckt; vielleicht gehört es seinem Tone und Inhalte nach überdies mehr zu Jenseits von G<ut> und B<öse> und dürfte diesem Werke bei einer zweiten Auflage einverleibt werden —, mit mehr Recht, wie mir jetzt scheint als jener fröhl<ichen> Wissenschaft: so daß zuletzt hinter dem Widerstreben des Verlegers ein „höherer Sinn“, ein Stück blauen Himmels von Vernünftigkeit sichtbar wird. Und welcher Verleger dürfte nicht etwas furchtsam sein, nachdem er sich ungeschickter Weise mit meiner Litteratur beschwert hat? Ich habe es noch nicht einmal zu Widersachern gebracht; seit 15 Jahren ist überhaupt über keines meiner Bücher eine tief gemeinte, gründliche, sach- und fachgemäße Recension erschienen — kurz, man muß dem Fritzsch Einiges zu Gute halten. —
In welcher Lage wäre ich, gesetzt, daß die zehn Jahre Philologie und Basel in meinem Leben fehlten! —
Eben ist ein Philologe mit verwandter Vorgeschichte hier bei mir zum Besuche, ein Dr. Adams, aus der Schule Rohde’s und v. Gutschmidts erwachsen und von seinen Lehrern sehr gewürdigt, aber — leidenschaftlich degoutirt und gegen alle Philologie eingenommen. Er flüchtet zu mir, „seinem Meister“ — denn er will sich schlechterdings der Philosophie weihen; und nun überrede ich ihn langsam, langsam, keine Dummheiten zu machen und sich durch keine falschen Vorbilder fortreißen zu lassen. Ich glaube, es gelingt mir, ihn zu „enttäuschen“. — Dabei erfuhr ich, wie selbst im Tübinger Stift meine Schriften heimlich und gierig verschluckt werden; ich gelte dort als einer der „negativsten Geister“. — Dr. Adams ist halb Amerikaner, halb Schwabe. —
Mit Dostoiewsky ist es mir gegangen wie früher mit Stendhal: die zufälligste Berührung, ein Buch, das man in einem Buchladen aufschlägt, Unbekanntschaft bis auf den Namen — und der plötzlich redende Instinkt, hier einem Verwandten begegnet zu sein.
Bis jetzt weiß ich noch wenig über seine Stellung, seinen Ruf, seine Geschichte: er ist 1881 gestorben. In seiner Jugend war er schlimm daran: Krankheit, Armut, bei vornehmer Abkunft; mit 27 Jahren zum Tode verurtheilt, auf dem Schaffot noch begnadigt, dann 4 Jahre Sibirien, in Ketten, inmitten schwerer Verbrecher. Diese Zeit war entscheidend: er entdeckte die Kraft seiner psychologischen Intuition, mehr noch, sein Herz versüßte und vertiefte sich dabei — sein Erinnerungs-Buch an diese Zeit „la maison des morts“ ist eins der „menschlichsten“ Bücher, die es giebt. Was ich zuerst kennen lernte, eben in französischer Übersetzung erschienen, heißt l’esprit souterrain, zwei Novellen enthaltend: die erste eine Art unbekannter Musik, die zweite ein wahrer Geniestreich der Psychologie — ein schreckliches und grausames Stück Verhöhnung des γνῶθι σαυτόν, aber mit einer leichten Kühnheit und Wonne der überlegenen Kraft hingeworfen, daß ich vor Vergnügen dabei ganz berauscht war. Inzwischen habe ich noch, auf Overbeck’s Empfehlung hin, den ich in meinem letzten Briefe befragte, Humiliés et offensés gelesen (das Einzige, was O<verbeck> kannte), mit dem größten Respekt vor dem Künstler Dostoiewsky. Auch merke ich bereits, wie die jüngste Generation von Pariser Romandichtern von dem Einflusse und der Eifersucht auf D<ostojewsky> vollständig tyrannisirt wird (zb. Paul Bourget)
— Ich bleibe bis zum 3. April, hoffentlich ohne noch weitere Bekanntschaft mit dem Erdbeben zu machen: jener Dr. Falb nämlich warnt vor dem 9. März, wo er eine Recrudescenz der Erscheinungen für unsre Gegend erwartet, insgleichen vor dem 22. und 23. März. Bisher bin ich kaltblütig genug dabei geblieben und habe mitten unter tollgewordnen Tausenden mit dem Gefühl der Ironie und der kalten Neugierde gelebt. Aber man kann nicht für sich gut sagen: vielleicht bin ich in wenig Tagen unvernünftiger als irgend Jemand. Das Plötzliche, das imprévu hat seine Reize…
Wie geht es Ihnen? Nein, wie mich Ihr letzter Brief erquickt hat! Sie sind so tapfer!
Treulich Ihr Freund N.
815. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Postkarte).
Nizza, Montag <7. März 1887>
Nachtrag zur eben abgesandten Correktur der Lieder. Der fünfte Vers des letzten Liedes muß so hergestellt werden:
Sah dich aus dem Wagen springen,
Schneller dich hinabzuschwingen,
Sah dich wie zum Pfeil verkürzt
Senkrecht in die Tiefe stossen, —
Wie ein Goldstrahl durch die Rosen
Erster Morgenröthen stürzt.
F. N.
816. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Nizza, 10. März 1887>
Lieber Freund, Ihre Karte, mit dem sehr berechtigten Anstoße und Winke, kam zufällig um eine Post später als Ihre Correktur; und da letztere schon an F<ritzsch> abgegangen war, blieb mir Nichts übrig als eine Karte nachzusenden, auf welche ich in aller Geschwindigkeit ein Quidproquo von Vers hingekritzelt habe. — Eben kam ein lustiger Brief von Seydlitz, Präsident des Wagner-Vereins in München, — er citirt die „Bayreuther Blätter für Einseitigkeit und Epigonenthum“ und schildert seine Existenz „unter der Nation mißrathener Knödel und dem ganzen schief aufgegangenen Teige germanischer Rasse“. Er verlangt nach einer Kur, „in Licht, Farbe und Linie“ und ist intelligent genug, um von sich zu sagen „auch der japonisme ist nur Morphium“. „Sonne, Ruhe und vielleicht hier und da einen schönen Menschen“ — das sind seine Wünsche; er nähme selbst ein Erdbeben in den Kauf. Ich selber werde beneidet ob meiner „olympischen Serenität“ — dies gab mir zu denken. Es ist Alles Optik…
Treulich Ihr N.
817. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig
<Nizza> Sonnabend <12. März 1887>
Werther Herr Fritzsch,
Um so besser, wenn es sich nur um ein Mißverständniß handelt! Mißverständnisse lassen sich heben: überdieß sollten Sie wissen, daß ich Ihnen, Alles in Allem, sehr zugethan bin — wenn auch, im Einzelnen, sehr wüthend ..
Somit bleibt es dabei, daß das fünfte Buch gedruckt wird.
Das Mißverständniß war übrigens erklärlich genug: ich erwartete die Druckbogen des fünften Buchs und bekam statt desselben die „Lieder“, mit Seitenzahlen, welche ein fünftes Buch auszuschließen schienen.
Es versteht sich, daß diese Seitenzahlen nunmehr verändert werden müssen: bitte, dies dem Drucker mitzutheilen.
Eine besondre Notiz über dieses fünfte Buch auf dem Titelblatte der fr<öhlichen> Wiss<enschaft> halte ich nicht für nöthig.
In Betreff meiner Pünktlichkeit, insgleichen der des Herrn Köselitz bitte ich keine Zweifel zu haben. Die Correktur der „Vorrede“ habe ich zwei Stunden nach ihrem Empfang selber auf die Post gebracht und an Ihre Adresse abgesandt.
Das Erdbeben soll eine ungeheure Confusion und Überbürdung der Post zur Folge gehabt haben.
(Wir hatten gestern noch ein Nachspiel, ganz entsprechend den Prophezeiungen des Dr. Falb. Jetzt sind uns der 23. und 24. März noch als schlimme Tage angekündigt.)
Ergebenst der Ihre
Dr. Nietzsche.
818. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Nizza, 22. März 1887>
Meine liebe Mutter, immer noch in Nizza, aber in keiner erfreulichen Stimmung und überdies krank. Den 3. April will ich davon; wahrscheinlich geht es nach Zürich. Es fehlt mir recht an Menschen, bei denen ich mich Etwas erholen könnte. Was ich dieses Herumreisen satt habe! Hier ist es triste geworden; in der Pension de Genève sitzen wir zu 6 Personen zu Tisch (statt 68, die wir vor dem Erdbeben waren). Das vierte Stockwerk bricht man ab: in ihm habe ich 2 meiner Bücher geschrieben. — Wenn ich nur wüßte, warum ich so müde bin! Mein Gedanke ist, eine kleine Kaltwasserkur zu brauchen. Mit Fritzsch giebt es Verdruß und Bedenken, er scheint mir eine Schlafmütze. Herr Köselitz sitzt wieder still und arbeitsam in Venedig: so mag es wieder gehn! Der Brief aus St. Moritz brachte keine guten Nachrichten.
Ein Dr. Adams ist hier angelangt, ein Philologe aus der Schule Rohdes; er will bei mir zum „Philosophen“ werden! Comödie!! —
In alter Liebe Dein altes Geschöpf.
819. An Theodor Fritsch in Leipzig
Nizza, den 23 März 1887
Geehrtester Herr,
Sie erweisen mir in Ihrem eben angelangten Briefe so viel Ehre, daß ich nicht umhin kann, Ihnen noch eine Stelle aus meiner Litteratur zu verrathen, die sich mit den Juden beschäftigt: sei es auch nur, um Ihnen ein doppeltes Recht zu geben, von meinen „schiefen Urtheilen“ zu reden. Lesen Sie, bitte, „Morgenröthe“ p. 194.
Die Juden sind mir, objektiv geredet, interessanter als die Deutschen: ihre Geschichte giebt viel grundsätzlichere Probleme auf. Sympathie und Antipathie bin ich gewohnt bei so ernsten Angelegenheiten aus dem Spiele zu lassen: wie dies zur Zucht und Moralität des wissenschaftlichen Geistes und — schließlich — selbst zu seinem Geschmack gehört.
Ich gestehe übrigens, daß ich mich dem jetzigen „deutschen Geiste“ zu fremd fühle, um seinen einzelnen Idiosynkrasien ohne viel Ungeduld zusehn zu können. Zu diesen rechne ich in Sonderheit den Antisemitismus. Der auf S. 6 Ihres geschätzten Blattes gerühmten „klassischen Litteratur“ dieser Bewegung verdanke ich sogar manche Erheiterung: oh wenn Sie wüßten, was ich im vorigen Frühling über die Bücher jenes ebenso gespreizten als sentimentalen Querkopfs, der Paul de Lagarde heißt, gelacht habe! Es fehlt mir offenbar jener „höchste ethische Standpunkt“, von dem auf jener Seite die Rede ist.
Es bleibt nur übrig, Ihnen für die wohlwollende Voraussetzung zu danken, daß ich nicht „durch irgend eine gesellschaftliche Rücksichtnahme zu meinen schiefen Urtheilen verführt“ bin; und vielleicht dient es zu Ihrer Beruhigung, wenn ich zuletzt noch sage, daß ich unter meinen Freunden keinen Juden habe. Allerdings auch keine Antisemiten.
Giebt mein Leben irgend eine Wahrscheinlichkeit dafür ab, daß ich von irgend welchen Händen „die Schwingen verschneiden lasse“? —
Mit diesem Fragezeichen empfehle ich mich Ihrem ferneren Wohlwollen — und Nachdenken…
Ihr ergebenster
Professor Dr. Nietzsche
Ein Wunsch: geben Sie doch eine Liste deutscher Gelehrter, Künstler, Dichter, Schriftsteller, Schauspieler und Virtuosen von jüdischer Abkunft oder Herkunft heraus! (Es wäre ein werthvoller Beitrag zur Geschichte der deutschen Cultur (auch zu deren Kritik!)
820. An Franz Overbeck in Basel
Nizza, Donnerstag 24. März <1887>
Lieber Freund,
eben erhalte ich Deine Nachrichten, — und in Anbetracht, daß ich Ende nächster Woche von hier fort will (auch fort muß), — so giebt es einen Grund mehr, Dir sofort zu antworten. Ich wünschte schreiben zu können: „auf Wiedersehn!“, aber meine Gesundheit verbietet mir einstweilen Zürich und was damit zusammenhängt: ich bin sonderbar angegriffen, die ganze Zeit über, müde, geistig und leiblich unlustig und zu Nichts nutz, auch gegen Lärm und das ganze kleine Ärgerniß des Lebens so ungeduldig, daß ich mich in Etwas ganz Stilles und Abgezogenes flüchten will: nämlich in einen waldigen und spaziergeherischen Ort am Lago maggiore — Canobbio mit Namen. In der Nähe davon steht ein mir gut empfohlenes Pensionshaus Villa Badia; die Besitzer sind Schweizer. Dorthin habe ich mich für den 4. April angemeldet. Venedig, das um diese Zeit des herankommenden Frühlings die Tradition für sich hat, auch meine ernsthafte Liebe (der einzige Ort auf Erden, den ich liebe) ist mir jedes Jahr schlecht bekommen: der Grund liegt in ganz bestimmten meteorologischen Faktoren, die mir nur zu gut bekannt sind. — Ist es möglich, daß ich etwa am Mittwoch oder Donnerstag nächster Woche die 1000 frs. in den Händen habe? —
Ein Dr. Adams ist, seit einem Monat etwa, hier, ein anscheinend begabter und tüchtiger Philologe aus der Schule Rohde’s und Gutschmidts, aber an aller Philologie leidenschaftlich degoutirt und durchaus entschlossen, sich der Philosophie zu weihen: weshalb er seine Wallfahrt hierher, zu seinem „Meister“, gemacht hat. Vielleicht gelingt es mir, ihn zu enttäuschen und aus der Unklarheit solcher Absichten herauszuziehn: ich führe ihn sanft zur Geschichte der Philosophie hinüber (er hat bisher „de fontibus Diodori“ gearbeitet), — es ist bereits nicht unmöglich, daß er meine im Stich gelassenen Laërtiana wieder aufnimmt! Das Ganze ist übrigens für mich eine Strapaze, die mich an eine frühere Strapaze (Tautenburger Sommer 1882) erinnert; und zuletzt kenne ich die Welt genug, um zu wissen, was in dergleichen Fällen „der Welt Lohn“ ist. — Die „jungen Leute“ sind mir zuwider. —
Anbei ein komisches Faktum, das mir mehr und mehr zum Bewußtsein gebracht wird. Ich habe nachgerade einen „Einfluß“, sehr unterirdisch, wie sich von selbst versteht. Bei allen radikalen Parteien (Socialisten, Nihilisten, Antisemiten, christl<ichen> Orthodoxen, Wagnerianern) genieße ich eines wunderlichen und fast mysteriösen Ansehens. Die extreme Lauterkeit der Atmosphäre, in die ich mich gestellt habe, verführt .. Ich kann meine Freimüthigkeit selbst mißbrauchen, ich kann schimpfen, wie es in meinem letzten Buche geschehn ist — man leidet darunter, man „beschwört“ mich vielleicht, aber man kommt nicht von mir los. In der „antisemitischen Correspondenz“ (die nur privatim versandt wird, nur an „zuverlässige Parteigenossen“) kommt mein Name fast in jeder Nummer vor. Zarathustra „der göttliche Mensch“ hat es den Antisemiten angethan; es giebt eine eigne antisemitische Auslegung davon, die mich sehr hat lachen machen. Beiläufig: ich habe „an zuständiger Stelle“ den Vorschlag gemacht, ein sorgfältiges Verzeichniß der deutschen Gelehrten Künstler Schriftsteller Schauspieler Virtuosen von ganz- oder halbjüdischer Abkunft herzustellen: das gäbe einen guten Beitrag zur Geschichte der deutschen Cultur, auch zu deren Kritik. (Bei dem Allen bleibt, unter uns gesagt, mein Schwager völlig aus dem Spiele; ich verkehre mit ihm sehr höflich, aber fremd, und so selten als möglich. Seine Unternehmung in Paraguay prosperirt übrigens; meine Schwester gleichfalls.)
Gesetzt, daß es mir in Canobbio nicht besser geht, gedenke ich einen Versuch mit einer kleinen Kaltwasserkur in Brestenberg zu machen. Ach, es ist Alles so unsicher und wacklig in meinem Leben; und dabei diese abscheuliche Gesundheit! Die Nöthigung andererseits liegt auf mir mit dem Gewicht von hundert Centnern, einen zusammenhängenden Bau von Gedanken in den nächsten Jahren aufzubauen — und dazu brauche ich fünf sechs Bedingungen, die mir alle noch fehlen und selbst unerreichbar scheinen! — Der vierte Stock der Pension de Genève, in dem der 3. und 4. Theil meines Zarathustra entstanden ist, wird jetzt völlig abgetragen, nachdem ihn das Erdbeben gründlich durcheinandergeschüttelt hat. Diese „Vergänglichkeit“ thut mir wehe. — Der Boden zittert immer noch gelegentlich. — Mit herzlichem Gruß und Wunsch, auch an Deine liebe Frau,
Dein Nietzsche
(Hoffentlich giebt es gute Nachrichten aus Teneriffa?)
Lecky habe ich selbst in Besitz: aber solchen Engländern fehlt „der historische Sinn“ und auch noch einiges Andre. Das Gleiche gilt von dem sehr gelesenen und übersetzten Amerikaner Draper. —
821. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Postkarte)
(Nizza) <27. März 1887>
Werthester Herr Verleger,
gestern (Sonnabend) ist der erste Bogen des 5. Buchs hier angelangt; hoffentlich kommt der zweite noch vor meiner Abreise von hier, welche auf: Sonntag den 3. April festgesetzt ist. Meine nächste Adresse wird diese sein:
Canobbio (Lago maggiore)
Villa Badia
Italia
Herr Köselitz wird von mir über diesen Ortswechsel benachrichtigt. (Haben Sie ihm die drei umsonst nach München gesandten Exemplare an seine Venediger Adresse geschickt? Ich bin ihm sehr dankbar, Niemand hat soviel für das Zustandekommen meiner „Litteratur“ gethan wie er — es scheint ihn gekränkt zu haben, daß die Vorreden nicht in seinen Besitz gekommen sind).
Ihr ergebenster Nietzsche
(sehr augenleidend, — es ist viel zu
hell an dieser Küste)
822. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Nizza, 27. März 1887>
Lieber Freund, ich bin augenleidend: Vergebung, wenn ich nur mit einem Kärtchen mich bedanke, für Brief und die eben eintreffende Dostoijewsky-Übersetzung. Es freut mich, daß Sie, muthmaaßlich, zuerst dasselbe von ihm gelesen haben wie ich, — „die Wirthin“ (französisch als erster Theil des Romans l’esprit Souterrain) Ich sende Ihnen dagegen „Humiliés et offensés“: die Franzosen übersetzen delikater als der greuliche Jüd Goldschmidt (mit seinem Synagogen-Rhythmus) — Seltsam! Inzwischen habe ich mir eingebildet, daß Sie zu Ihrer Nausicaa zurückgekehrt sind: und ich habe Ihnen schon Glück und Heil dazu gewünscht, im Traume natürlich, — und mir gleichfalls: denn mein Bedürfniß nach einer goldenen gesättigten gereinigten leuchtenden Kunst ist heftig geworden wie ein Durst. —
Es giebt doch noch Druckbogen: helfen Sie, lieber Freund! — Sonntag den 3. April reise ich ab; meine Adresse von da an: Canobbio (Lago maggiore) Villa Badia. Italia.
Treulich Ihr Freund N.
823. An Theodor Fritsch in Leipzig
Nizza, den 29. März 1887 (vor der Abreise)
Sehr geehrter Herr,
hiermit sende ich Ihnen die drei übersandten Nummern Ihres Correspondenz-Blattes zurück, für das Vertrauen dankend, mit dem Sie mir erlaubten, in den Principien-Wirrwarr auf dem Grunde dieser wunderlichen Bewegung einen Blick zu thun. Doch bitte ich darum, mich fürderhin nicht mehr mit diesen Zusendungen zu bedenken: ich fürchte zuletzt für meine Geduld. Glauben Sie mir: dieses abscheuliche Mitredenwollen noioser Dilettanten über den Werth von Menschen und Rassen, diese Unterwerfung unter „Autoritäten“, welche von jedem besonneneren Geiste mit kalter Verachtung abgelehnt werden (z. B. E. Dühring, R. Wagner, Ebrard, Wahrmund, P. de Lagarde — wer von ihnen ist in Fragen der Moral und Historie der unberechtigtste, ungerechteste?), diese beständigen absurden Fälschungen und Zurechtmachungen der vagen Begriffe „germanisch“, „semitisch“, „arisch“, „christlich“, „deutsch“ — das Alles könnte mich auf die Dauer ernsthaft erzürnen und aus dem ironischen Wohlwollen herausbringen, mit dem ich bisher den tugendhaften Velleitäten und Pharisäismen der jetzigen Deutschen zugesehen habe.
— Und zuletzt, was glauben Sie, das ich empfinde, wenn der Name Zarathustra von Antisemiten in den Mund genommen wird?…
Ihr ergebenster
Dr. Fr. Nietzsche
824. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Nizza, 1. April 1887>
Lieber Freund, Ihre Karte traf eben ein, ich sitze mitten in der Abreise — aber ein aesthetisches Glaubenssätzlein und Fragezeichen muß schnell an Sie fort, zugleich als Antwort für Etwas an Ihrer Karte, das mich fragen macht. Ich bin jetzt so antitheatralisch, antidramatisch; die „Sottise“, von der Sie reden, haftet dem Drama essentiell an. Die Verderbniß der Musik durch die Rücksichten und Conventionen des Dramas wird mir immer sichtbarer, das „Publikum“ erzwingt sich mit ihm immer mehr eine demokratisirte Kunst, es hat, durch R<ichard> W<agner> hindurch, seinen Willen zur Tyrannei bereits in gefährlicher Weise bekundet. (Wie weit mein Mißtrauen geht? Zwei Theater haben hier diesen Winter „Carmen“ vorgeführt, eins französisch, eins italiänisch — und Ihr Freund hat obstinat sich selbst Carmen versagt!) Rückkehr der Musik, aus der Schauspieler-Unnatur, zur Natur der Musik — die zuletzt die idealste Form der modernen Redlichkeit ist!
Treulich Ihr N.
Adresse Cannobbio (Lago Maggiore) Villa Badia.
825. An Malwida von Meysenbug in Rom (Postkarte)
<Nizza, 1. April 1887>
Verehrte Freundin, ich habe mir ernstlich überlegt, ob ich nicht jetzt gleich zu Ihnen nach Rom eilen sollte — was der Wunsch und Ausdruck meines Herzens wäre —; aber die dumme Gesundheit sagt hartnäckig, wie so oft in meinem Leben, zu meinen Wünschen Nein! Ich bedarf kälterer und weniger südlicher Gegenden; Nizza ist mir dies Mal nicht zum Besten bekommen, seine vehemente Lichtfülle zwingt mich jetzt, Schatten zu suchen. Meine Adresse ist für den nächsten Monat Canobbio (Lago Maggiore, Italia) Villa Badia. Geben Sie mir, bitte, Ihre Versailler Adresse, sei es auch nur, um Sie mit einem Briefe daselbst jeder Zeit erreichen zu können… Sie errathen gewiß, daß mir von Menschen fast Nichts übrig geblieben ist (obschon ich nicht alt bin — oder doch?) Die Jahre gehn dahin, und man hört kein Wort mehr, das Einem noch ans Herz kommt. Folglich!! Oh wie gern möchte ich meine treue verehrte Freundin Malvida wieder hören! Dankbar Ihr F. N.
826. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Postkarte)
Cannobio den 4. April 1887.
Nächste Adresse:
Zürich (Schweiz)
poste restante
Prof. Dr. Nietzsche.
827. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Cannobio, 4. April 1887> Montag.
Lieber Freund, bitte, adressiren Sie von nun an Alles an mich nach
Zürich, poste restante
Hier, in Cannobio, ist nicht meines Bleibens. Sonne in Überfluß, der Himmel seit 2 Tagen von unvergleichlicher Reinheit.
Meine Augen sagen zu Alle Dem „Nein!“, so sehr meine inwendigen Augen dazu Ja sagen möchten.
Treulich Ihr
Nietzsche.
NB. Der zweite Bogen des 5. Buchs ist noch nicht in meinen Händen.
828. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Postkarte)
<Cannobio, 12. April 1887>
Meine Adresse ist wieder (bis zu Ende des Monats noch)
Cannobio (Lago Maggiore)
Villa Badia
Gesundheitsgründe. Mit ergebenstem Gruße Ihr
Nietzsche
829. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Cannobio, 12. April 1887>
Lieber Freund, eben kam Ihr nach Zürich gesandter Brief mir zu: er macht mir große Freude, ich gestehe es gern ein — denn ich hörte noch niemals über meine „Litteratur“ so gewählte und glückliche Worte. Sie empfinden, wovon meine sonstigen Leser keine Ahnung haben, „das Ganze“, Sie sehen, daß es ein Ganzes giebt, Etwas, das wächst, zugleich, wie mir scheint, in die Erde hinein (hinab!) und hinaus in den blauen Himmel… Auch bin ich gerade die letzte Zeit gegen Menschl<iches>, Allzum<enschliches> dankbarer und nicht nur duldsamer geworden: in Zeiten des Mißtrauens und der Unsicherheit (ich stecke in solchen) geht mir der besonnene, klare, wohlwollende Klang dieser Schriften besonders zu Herzen. —
Ich bleibe diesen Monat noch hier. Es giebt, seit Ihrem Briefe, einen Grund weniger für mich nach Zürich zu gehn. Adresse genau: Cannobio (Lago maggiore) Villa Badia.
Diese Stelle ist schöner als irgend eine Stelle der Riviera, rührender — wie komme ich so spät zu dieser Einsicht? Das Meer hat wie alle großen Dinge etwas Stupides und Indezentes, das hier fehlt.
Treulich Ihr Freund N.
(Eben langt der Correcturbogen an: danke!)
830. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Arona-Magadino, 12. April 1887>
Dein Brief, meine liebe Mutter, kam spät, nach allen möglichen Zufällen und Abenteuern, in meine Hände, überdies fast zerrissen, so daß die Post ihn mit einer Bandage versehn und versiegelt hatte! so gab er ein trauriges Sinnbild für Deinen eigenen Zustand, der mich herzlich beunruhigt hat. Hoffentlich giebst Du bald bessere Nachricht — und zwar unter dieser Adresse:
Cannobio (Lago maggiore)
Villa Badia
bitte sehr genau, es geht so Viel verloren wegen der Ähnlichkeit der Namen. — Mir selbst geht es noch nicht besser, der trübe Himmel setzt mir sehr zu. Vielleicht mache ich eine kleine Kaltwasserkur im Monat Mai durch. Bis Ende des April denke ich hier auszuhalten
Die Sachen mit Fritzsch rücken langsam vorwärts.
Nächstens schicke ich Dir ein Bild meines jetzigen Aufenthalts. Ehemals war es eine Abtei.
In Liebe Dein altes Geschöpf.
831. An Franz Overbeck in Basel
Cannobio, Villa Badia 14. April 1887.
Lieber Freund,
seit dem 3. April bin ich hier am Lago maggiore, das Geld kam noch zur rechten Zeit in meine Hände, auch war es mir lieb, daß Du nicht Alles schicktest: denn auch heute weiß ich noch nicht genau, wo ich den Sommer verleben werde. Mein altes Sils-Maria muß, wie ich mir ungern eingestehe, ad acta gelegt werden, ebenso wie Nizza: es fehlt mir jetzt an beiden Orten jene erste und wesentlichste Bedingung, die Einsamkeit, die tiefe Ungestörtheit, Abseitigkeit, Fremdheit, ohne welche ich nicht zu meinen Problemen hinunter kann (denn, unter uns gesagt, ich bin in einem geradezu erschrecklichen Sinn ein Mensch der Tiefe; und ohne diese unterirdische Arbeit halte ich das Leben nicht mehr aus) Mein letzter Winter in Nizza ist zur Marter geworden, ebenso wie mein letzter Aufenthalt in Sils: weil mir jene stille Verborgenheit abhanden gekommen ist, welche eine Existenz-Bedingung für mich ist, auch der einzige Weg, es zur Gesundheit zu bringen. Es ist von Jahr zu Jahr wieder schlechter gegangen mit dieser Gesundheit; und sie ist ein zuverlässiger Maaßstab für mich, ob ich auf meinen Wegen bin — oder auf denen Anderer. Die Probleme, die auf mir liegen, denen ich nicht mehr ausweiche (was habe ich alle Ausweichungen büßen müssen! Z. B. meine Philologie) vor denen ich wörtlich bei Tag und Nacht keine Ruhe habe — sie nehmen für jede fehlerhafte Beziehung (zu Menschen, Orten, Büchern) eine grausame Vergeltung. Ich sage das Dir ins Ohr, denn wie dürfte ich voraussetzen, daß die absonderlichen Voraussetzungen meines Schaffens sich von selber verstünden? Es scheint mir, daß ich gegen Menschen zu mild, zu rücksichtsvoll bin, auch werde ich, wo ich nur gelebt habe, alsbald so sehr von Menschen in Anspruch genommen, daß ich mich zuletzt gegen sie nicht mehr zu vertheidigen weiß. Diese Überlegung hindert mich zb. es einmal mit München zu versuchen, wo eine Menge Wohlwollen für mich parat liegt, wo aber Niemand lebt, der Ehrfurcht vor den ersten und wesentlichsten Bedingungen meines Daseins hätte — oder gar Willens wäre, sie mir zu schaffen. Nichts agaçirt die Menschen so sehr als merken zu lassen, daß man sich mit einer Strenge behandelt, der sie sich selber nicht gewachsen fühlen. Es giebt für mich gar nichts Lähmenderes, Entmuthigenderes als hinein in das jetzige Deutschland zu reisen und mir die vielen gutartigen Personen näher anzusehn, welche sich mir „wohlgesinnt“ glauben. Einstweilen fehlt eben alles* Verständniß für mich; und, wenn mich ein Wahrscheinlichkeits-Schluß nicht trügt, so wird es vor 1901 nicht anders werden. Ich glaube, man hielte mich einfach für toll, wenn ich verlauten ließe, was ich von mir selber halte. Es gehört zu meiner „Humanität“, die allgemeine Unklarheit über mich bestehn zu lassen: ich würde meine achtbarsten Freunde gegen mich erbittern und Niemandem damit wohlthun.
Inzwischen habe ich ein tüchtiges Stück Arbeit abgethan, mit der Revision und Neu-Herausgabe meiner älteren Schriften. Gesetzt, es wäre bald mit mir zu Ende — und ich verschweige nicht ein immer tieferes Verlangen nach dem Tode — so bleibt Etwas von mir zurück, ein Stück Cultur, das einstweilen durch kein andres sich ersetzen läßt. (Diesen Winter habe ich mich reichlich in der europäischen Litteratur umgesehn, um jetzt sagen zu können, daß meine philosophische Stellung bei weitem die unabhängigste ist, so sehr ich mich auch als Erbe von mehreren Jahrtausenden fühle: das gegenwärtige Europa hat noch keine Ahnung davon, um welche furchtbaren Entscheidungen mein ganzes Wesen sich dreht, und an welches Rad von Problemen ich gebunden bin — und daß mit mir eine Katastrophe sich vorbereitet, deren Namen ich weiß, aber nicht aussprechen werde.)
Nimm an, lieber Freund, daß ich etwa bis Ende April noch hier bleibe. Wie erreiche ich von hier jenes Brestenberg, wo ich gerne eine Massage-Kur durchmachen möchte (Monat Mai)? Auch Mammern ist mir empfohlen.
Ich lege einen Brief meines Venediger Corrector’s bei, wir sind eifrig beim Druck der fröhl<ichen> Wissenschaft. Aus dem Briefe magst Du auch meine Entschuldigung entnehmen, wenn ich meine Einladung nach Zürich, zum Anhören des Mizka-Czardàs, hiermit zurückziehn muß.
Jedenfalls möchte ich Dich in diesem Frühjahr ein Mal sprechen.
Treulich Dein Freund
N.
Adresse: Cannobio (Lago maggiore) Villa Badia
In der Fremdenliste der Villa Badia von 1885 finde ich: Mademoiselle Maria Overbeck, de Dresde. Herzlichen Gruß an Deine liebe Frau und Dank für die guten Nachrichten aus Teneriffa. Die Reise hierher, sehr winterlich, unterbrochen (wie alle meine Reisen) durch einen heftigen Ausbruch meines Kopfleidens. In Laveno eine entsetzliche eiskalte Nacht mit beständigem Erbrechen. — Vorgestern und gestern Wiederholung des Krankheits-Anfalls. Heute Erleichterung.
832. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
Cannobio (Lago Maggiore) Villa Badia <15. April 1887>
Lieber Freund, das Verschwinden des russischen Romans betrübt mich um Ihretwillen; daß es beim Einpacken nicht an der nöthigen Sorgfalt gefehlt hat, kann mir Dr. Adams bezeugen. Zuletzt liegt ein Vortheil vielleicht auch in diesem Mißgeschick: gewiß ist, daß Sie sich mit viel mehr Vernunft in den Sonnenschein Ariost’s gesetzt haben als ich in diese Petersburger Winter-Dämmerung. — Über Beichtväter-Psychologie giebt es im nächsten Bogen noch ein Wort mehr. — Haben Sie eigentlich bemerkt, daß der Schlußchor vom ersten Bande „Menschl<iches>, Allzum<enschliches>“ („Schön ist’s, mit einander etc“) nach der Melodie eines andren Schlußchors abgesungen werden darf? — Gestern Abend hatte ich eine förmlich verliebte Sehnsucht nach Ihrem Venediger „Löwen“ — und was gieng mir Alles durch den Kopf dabei! Andre Jahre war ich um diese Zeit immer bei Ihnen. Die Glocken Osterns über Venedig wegklingend, die Vormittage in Ihrem Zimmer und Ihrer Musik, die Abendlichtfarben auf der piazza — das war bisher für mich Frühling! Herzlichen Dank!!!!
833. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)
<Cannobio, 15. April 1887>
Sehr geehrter Herr Verleger, es fällt mir ein, daß Sie meine gegenwärtige Adresse nicht haben, und daß ich folglich umsonst auf eine Mittheilung in Betreff der Ostermesse warte. Bis Ende April bleibe ich noch hier, nämlich in
Cannobio (Lago maggiore) Villa Badia
Hoffentlich sind Sie im Stande, mir noch hierher Nachricht zu geben: meinen späteren Aufenthaltsort vermag ich heute schlechterdings noch nicht anzugeben.
Können Sie mir irgend etwas mittheilen, das sich auf den neuen Besitzer meiner ganzen früheren Litteratur, Herrn E. W. Fritzsch, bezieht? Mein Verdacht ist, daß er ein Bummelhans ist: aber ich möchte gern mit diesem Verdachte Unrecht haben! Ihr ergebenster
Nietzsche Prof.
834. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Cannobio, 19. April 1887> Villa Badia, Dienstag.
Wirklich, lieber Freund, meine Karte war ohne alle Hintergedanken, ein reiner Ausdruck der Dankbarkeit gegen Sie und Venedig (Vergebung, wenn das in mir durcheinander gewachsen ist: Frühling, Venedig und Ihre Musik weiß ich nicht mehr auseinander zu halten — wozu auch! ich habs zusammen erlebt!) Nun aber, nach Ihrer Karte, nach Ihrem verführerischen Bilde, mit dem auch größere Asketen zu verlocken wären als ich bin, nun kommen die Hintergedanken: oder vielmehr, ich bin bereits entschlossen, am 1. Mai meine Frühlings-Pilgerschaft zu Ihrer Stadt anzutreten. Vielleicht aber reden Sie es mir noch aus? Vielleicht ist die Stadt überfüllt? Wohnung nur zu extremen Preisen zu haben? (Beiläufig, hat die alte Östreicherin am Canale grande vermiethet?) Dann aber — es ist kein Zweifel, daß mir jetzt eine Erholung, eine Abziehung von mir im höchsten Grade noth thut: ich hatte an eine Kaltwasserkur in der Schweiz gedacht, fürchte mich aber vor den Schweizern noch mehr als vor der Einsamkeit. Ich würde Viel darum geben, mit Ihnen einige aesthetika zu reden, Principielles, wozu mich Ihre eigne Musik immer wieder treibt. („Wir“ entbehren eigentlich aller musikalischen Aesthetik und wissen unsre Werthe, wie wir sie stark genug empfinden, nicht recht mehr zu begründen: bei mir ein wahrer Nothstand!) Die ganze Stellung der Kunst ist mir zum Problem geworden: und, psychologisch geredet, was gieng eigentlich in Ihnen vor, als Sie den Muth zu Ihrem jetzigen Geschmack gewannen? und was in mir, als ich mich Wagnern entfremdete (und vor W<agner> schon der Schumann’schen Musik) Ich will dahinter kommen, warum Ihre „Löwenmusik“ mir in dem Maaße erquicklich, heilkräftig, innig, heiter, verklärt erscheint, wie — nun zum Beispiel wie Goethe’s Löwennovelle (Sie kennen sie doch? es ist der frühste und stärkste Eindruck, den ich von Goethe habe) oder wie Stifters Nachsommer. In dieser Richtung liegt noch eine ganze Welt der Schönheit: und es gäbe kaum ein größeres Leidwesen für mich als zu denken, daß die traurigen Cruditäten der letzten Jahre Sie, lieber Freund, von dieser einmal entdeckten Welt abspänstig machen sollten. Ich segne Venedig, das alte und das neue, weil es nun einmal Ihre Muschel ist: und ich ehre Ihre Conchylien-Abgeschlossenheit zu hoch in meiner Seele, als daß mir nicht immer einiges Mißtrauen kommt, wenn ich eine Reise nach Venedig ins Auge fasse.
Ihren Aufsatz habe ich mit ungeheurem Vergnügen gelesen: er ist, wenn mir dies zu sagen erlaubt ist, in einem Stile geschrieben, der Nietzschischer gar nicht gedacht werden kann. Es giebt so viel Geheimnisse des Rhythmus, der Satz-Cadenzen, von denen meine Leser nichts wissen, meinen Leser ausgenommen!
Eben sendet Fritzsch den vorletzten Bogen des 5. Buchs. Wollen wir das Fertigwerden der fröhl<ichen> Wissenschaft, im Grunde das Fertigwerden meiner ganzen bisherigen „Litteratur“ zusammen feiern? Ich fühle, daß es jetzt einen Abschnitt in meinem Leben giebt — und daß ich nun die ganze große Aufgabe vor mir habe! Vor mir und, noch mehr, auf mir!
Im Übrigen würde ich in Venedig still und abseits, wie ein Englein leben, kein Fleisch essen, und alles vermeiden, was die Seele düster und gespannt macht. Kürzlich noch schrieb ich an Overbeck, daß ich nur einen einzigen Ort auf der Erde liebe, nämlich Venedig.
Bitte, alter Freund, sagen Sie, soll ich kommen? ......
Ihr Nietzsche.
835. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Cannobio, 26. April 1887>
Lieber Freund, Verzeihung! Aber es wird Nichts mit meiner Reise nach V<enedig>. Inzwischen protestirt Alles, voran die Augen und der Kopf: vier Mal in letzter Zeit meine abscheulichen Anfälle; eine abscheuliche Melancholie und Reizbarkeit als Consequenz; ein tiefes Bedürfniß nach Stille… Mir fiel ein, daß ich jetzt nicht werth bin, so schöne Dinge zu sehn (und zu hören!) Verzeihung nochmals! Sie wissen, mit welchem Bedauern ich dergestalt von Ihnen Abschied nehme, nachdem ich im Geiste schon wieder ganz mit Ihnen zusammengewesen war!
Der letzte Bogen bekommt noch mehrfache Zusätze und Veränderungen, sodaß er zu einem Doppelbogen anschwellen dürfte. Dies wird veranlassen, daß er nochmals zu Ihnen wandert. Verzeihung auch dafür! Was für Mühe mache ich Ihnen!
Ich habe diesen Schlußbogen übrigens noch nicht von Fritzsch erhalten. (C. G. Naumann schrieb mir, F<ritzsch> sei vielleicht kein Geschäftsmann, aber ein trefflicher Charakter, ich solle ihn in Ehren halten)
Treulich Ihr Freund N.
Vom „Jenseits“ sind wir 200 Exemplare wirklich los geworden.
836. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Postkarte)
<Cannobio, 27. April 1887>
Adresse von nun an:
Zürich (Schweiz)
poste restante
Herr Köselitz hat sich bei mir für die Übersendung der Bücher auf das Schönste bedankt: von diesem Danke kommt aber Dreiviertel billigerweise Ihnen zu, werthester Herr Verleger!
Immer bei sehr schlechter Gesundheit
Ihr ergebenster
Nietzsche.
837. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Cannobio, 27. April 1887>
Adresse von nun an:
Zürich (Schweiz) poste restante
Wahrscheinlich geht es nach Brestenberg oder Mammern, wo ich eine Massage-Kur versuchen will; doch erst ein Zwischenakt in Zürich!
Ihrer herzlich gedenkend (meine gestrige Karte wird doch angekommen sein? eine Absage-Karte?)
Ihr Freund N.
838. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig
Zürich, Pension Neptun Freitag den 29. April 1887
Lieber und werther Herr Fritzsch,
bei abscheulicher Gesundheit in Zürich angelangt; ich weiß noch nicht, wo ich die nächste Zeit zubringe, das hängt von ärztlichen Consultationen ab.
Ich habe den letzten Bogen (der mich noch in Cannobio erreichte) noch mit etlichen Zusätzen und Einschiebungen bereichern müssen, so daß er zum Doppelbogen anschwellen dürfte. Meine Absicht dabei war, ihm noch mehr den Charakter einer Vorbereitung „für Also sprach Zarathustra“ zu geben (welches Werk der Zeit nach auf die fröhl<iche> Wissenschaft folgt) Andererseits wird damit erreicht, daß die fröhl<iche> Wissenschaft nunmehr meinen andren Büchern im Umfange gleich wird, also — ebenso wie die beiden Bände Menschl<iches> Allzumenschliches, wie die Morgenröthe, wie Zarathustra c. 350 Seiten bekommt. (Auch „Jenseits von Gut und Böse“ wird bei der zweiten Auflage auf diese Stärke anwachsen)
Was will ich froh sein, wenn wir erst fertig sind und meine ganze ältere Litteratur damit auf die Beine gestellt ist! Ich betrachte es als einen der besten Glücksfälle meines Lebens, daß wir, Frühling voriges Jahr, so zufällig miteinander in Leipzig zusammengetroffen sind. Sie wissen es, werthester Herr Verleger: ich hatte Grund zu einer tiefen Erbitterung, denn es schien mir als ob meine Bücher in einen Sumpf gerathen seien, aus dem es kein Entrinnen gäbe. Ein solches jahrelanges Mißtrauen, wie ich es gegen meinen frühern Verleger hatte, war eine Tortur, deren Folgen ich jetzt noch bisweilen spüre. —
Geben Sie, bitte, Ihrem Drucker noch den Wink, diesen letzten Theil Text recht sorgfältig zu behandeln. Sobald ich eine feste Adresse habe, melde ich sie Ihnen; aber auch Alles, was hierher kommt (Zürich, Pension Neptun) gelangt in meine Hände und wird mir nachgeschickt.
Mit herzlichem Gruße
Ihr ergebenster
Dr Nietzsche.
NB. Die Correktur dieses letzten Bogens ist natürlich nochmals an Hrn. Köselitz und an mich zu senden, sobald die 8 neuen Nummern eingeschoben sind.
839. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Zürich, 29. April 1887>
Lieber Freund, gestern (Donnerstag) Abend bin ich hier in Zürich angelangt, Pension Neptun: und heute schon begreife ich, daß es absolut unmöglich für mich ist, hier länger zu bleiben — daß ich in die Kühle und in den Schatten flüchten muß. Diese schlaffe weichliche Luft und noch mehr dieser Sonnenschein sind Feinde, mit denen mir jetzt am wenigsten der Kampf erlaubt ist. Nun wäre es mir im höchsten Grade erwünscht, Dich jetzt zu sehn: wäre ich nicht so tief angegriffen (es gab in der letzten Zeit einen Anfall nach dem andern) so würde ich nach Basel kommen. Aber was meinst Du? könntest Du vielleicht morgen (Sonnabend) hier eintreffen und die Nacht bleiben, am Sonntage zurückreisen? (als mein Gast natürlich) Diesen Wunsch lege ich Dir nahe, es wird mir sonst unwahrscheinlich, daß wir uns zu sehen bekommen: sowohl Brestenberg wie Mammern liegen in der für mich zu warmen Zone, deren verhängnißvolle Einwirkung ich vom vorigen Jahre her im Gedächtniß habe (Mai in Naumburg) Treulich und
in Liebe Dein
Nietzsche.
840. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Zürich, 1. Mai 1887>
Meine Lieben,
Lieber Freund, Karte und Correktur, aus Cannobio nachgeschickt, sind hier in Zürich in meine Hände gelangt: es gab mir einen Stich, was Sie zuletzt meldeten, ich darf gar nicht daran denken, worauf ich Verzicht leisten mußte. Selbst gegen Cannobio habe ich einen abscheulichen Tausch gemacht. Luft feucht-weichlich, peinlicher Sonnenglanz, häßliche Menschen. Ich logire in Pension Neptun. — Ihr Gedanke der „Berichtigungen“, auf letzter Seite, ist sehr gut: helfen Sie einen Fehler mehr noch entdecken (ich habe kein Exemplar der fröhl<ichen> Wissenschaft da) Im Anfange des 2. Buches, gegen die Realisten redend, sage ich ungefähr „eine Maske, die man einem unbekannten X aufsetzen und auch wohl wieder abnehmen usw. usw. Da ist das X ausgefallen, wenn ich mich recht erinnere. Wollen Sie eventuell, wenn der allerletzte Correkturbogen kommt, diese Berichtigung in die Liste eintragen? —
Herzlich Ihrer gedenkend und immer noch recht betrübt
Ihr N.
(Männerchor schon in meinen Händen!)
(Herzliches und gescheutes Gespräch über Sie mit Hegar - - -)
841. An Meta von Salis in Zürich (Postkarte)
<Zürich, 1. Mai 1887>
Hochgeehrtes Fräulein, wo und wann werde ich das Vergnügen haben, Sie hier in Zürich begrüßen zu dürfen? Ich selbst bin in der Pension Neptun, meinem gewöhnlichen Standquartier, abgestiegen. Geben Sie mir mit Einem Wort eine gefällige Auskunft.
Ihr ergebenster
Dr. Fr. Nietzsche
842. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Zürich, 4. Mai 1887> Mittwoch.
Lieber Freund, hier in Zürich geht es nicht: sonnig, schwül, lärmend und mesquin, eine beständige Aufforderung zum Tanz der Abreise. Adresse für die nächste Zeit Chur, poste restante: dorthin werden Sie, hoffe ich, den allerletzten Correkturbogen in Kürze absenden können, der, wenn Röder pünktlich ist, nächsten Sonntag oder Montag in Ihren Händen sein dürfte. Mein Recept sollen starke Gebirgsmärsche sein; die Städte taugen jetzt nichts, Kaltwasserkuren sind gefährlich, als bloße Stimulantia. Dagegen empfehle ich die Massage, auch Ihnen, lieber Freund, natürlich zur Selbstbehandlung (eine Schrift zur Anleitung folgt in Kürze). Der Besuch Overbecks hat mich sehr erquickt; der Rest — ist Zürich.
Treulich Ihr Freund N.
843. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Zürich, 4. Mai 1887>
Lieber Freund, Dein Besuch war mir eine wahre Erquickung, ich danke Dir von Herzen dafür. Übrigens bleibt es dabei, daß Zürich zu sonnig und zu unruhig für mich ist: ich verlasse es in den nächsten Tagen. — Bleibtreu giebt mir eine bittre Empfindung: ein Deutschland, in dem das die Unzufriednen sind, ist gewiß nicht meine Heimat und noch viel weniger meine Hoffnung! — Am gleichen Tage las ich einen unzufriednen Franzosen, einen Unabhängigen (denn zu seinem Katholicismus gehört jetzt mehr Unabhängigkeit als zur Freidenkerei): Barbey d’Aurevilly, Œuvres et hommes. Sensations d’histoire. Lies ihn, auf meine Verantwortung: er gehört auf die Lesegesellschaft. (Als romancier ist er mir nicht erträglich.) Danke insgleichen für die Mutter Bertz und die vortrefflichen Zahnbürsten. Adresse vorläufig Chur, poste restante.
Treulich und in Liebe Dein N.
844. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Chur, 10. Mai 1887>
Meine liebe Mutter, endlich wieder ein Lebenszeichen! Es gieng nicht zum Besten, und auch jetzt noch ist Nichts erreicht, was mich muthiger stimmen könnte. Ich war 10 Tage in Zürich: abgesehn von einem Besuche Overbecks habe ich daselbst wenig Gutes erlebt, und der Zustand von Schwäche war ähnlich wie voriges Jahr in Naumburg. Der Frühling ist mir zur Last, für das Engadin ist es noch zu früh: so sitze ich denn in Chur und suche für meine Augen Ruhe in den Wäldern. Meine Adresse ist bis zum 10. Juni: Chur (Schweiz) Rosenhügel. — Sende mir aber Nichts hierher! Wir wollen bis zum Aufbruch in meinen eigentlichen Sommeraufenthalt warten. Dein lieber Brief ist mir aus Cannobio nachgesendet worden; die neuen Nachrichten, die er über unsre Südamerikaner gab, haben mich sehr beruhigt. Daß Herr Lüber-Sonnemann noch nicht Willens ist, Deutschland zu verlassen, war in der antisemitischen Correspondenz zu lesen (als ausdrückliche Erklärung seinerseits) In herzlicher Liebe Dein altes
Geschöpf F.
845. An Malwida von Meysenbug in Rom
den 12. Mai 1887. Adresse: Chur (Schweiz), Rosenhügel — bis zum 10. Juni — nachher: Celerina, Oberengadin.
Hochverehrte Freundin.
Seltsam! Was Sie zuletzt mir mit solcher Güte ausdrückten, ob es nicht für uns Beide jetzt fruchtbar und erquicklich sein müßte, unsre zwei Einsamkeiten wieder einmal in die allernächste herzlichste Nachbarschaft zu rücken, das habe ich selbst oft genug in der letzten Zeit gedacht und gefragt. Noch Einen winter mit Ihnen zusammen, vielleicht gar von Trina gemeinsam gepflegt und gewartet — das ist in der That eine äußerst verlockende Aussicht und Perspektive, für die ich Ihnen nicht genug Dank sagen kann! Am liebsten schon noch einmal in Sorrent (δὶς καὶ τρὶς τὸ καλὸν sagen die Griechen: „alles Gute zwei Mal, drei Mal!“) Oder in Capri — wo ich Ihnen wieder Musik machen will, und bessere als damals! Oder in Amalfi, oder Castellammare. Zuletzt selbst in Rom (obschon mein Mißtrauen gegen römisches Klima und gegen die großen Städte überhaupt auf guten Gründen steht und nicht leicht umzuwerfen ist) Die Einsamkeit mit der einsamsten Natur war bisher mein Labsal, mein Mittel der Genesung: solche Städte des modernen Treibens wie Nizza, wie sogar schon Zürich (von wo ich eben komme) machen mich auf die Dauer reizbar, traurig, ungewiß, verzagt, unproduktiv, krank. Von jenem stillen Aufenthalte da unten habe ich eine Art Sehnsucht und Aberglauben zurückbehalten, wie als ob ich dort, wenn auch nur ein Paar Augenblicke, tiefer aufgeathmet hätte als irgendwo sonst im Leben. Zum Beispiel bei jener allerersten Fahrt in Neapel, die wir zusammen nach dem Posilipp zu machten. — —
Am Ende, Alles erwogen, sind Sie allein mir zu einem solchen Wunsche übrig geblieben: im Übrigen fühle ich mich zu einer Einsamkeit und Burg verurtheilt. Da giebt es keine Wahl mehr. Das, was mich noch leben heißt, eine ungewöhnliche und schwere Aufgabe, heißt mich auch den Menschen aus dem Wege zu gehn und mich an Niemanden mehr anzubinden. Es mag die extreme Lauterkeit sein, in die mich eben jene Aufgabe gestellt hat, daß ich nachgerade „die Menschen“ nicht mehr riechen kann, am wenigsten die „jungen Leute“, von denen ich gar nicht selten heimgesucht werde (— oh, sie sind zudringlich-täppisch, ganz wie junge Hunde!)
Damals, in der Sorrentiner Einsamkeit, waren mir B<renner> und R<ée> zu viel: ich bilde mir ein, daß ich damals gegen Sie sehr schweigsam gewesen bin, selbst über Dinge, über die ich zu Niemandem lieber geredet hätte als zu Ihnen.
Auf meinem Tische liegt die neue Auflage (die zweibändige) von Menschliches, Allzumenschliches, deren erster Theil damals ausgearbeitet wurde — seltsam! seltsam! gerade in Ihrer verehrungswürdigen Nähe! In den langen „Vorreden“, welche ich für die Neuherausgabe meiner sämmtlichen Schriften nöthig befunden habe, stehen kuriose Dinge von einer rücksichtslosen Aufrichtigkeit in Bezug auf mich selbst: damit halte ich mir „die Vielen“ ein für alle Mal vom Leibe, denn nichts agaçirt die Menschen so sehr als etwas von der Strenge und Härte merken zu lassen, mit der man sich selbst, unter der Zucht seines eigensten Ideals, behandelt und behandelt hat. Dafür habe ich meine Angel nach „den Wenigen“ ausgeworfen, zuletzt auch dies ohne Ungeduld: denn es liegt in der unbeschreiblichen Fremdheit und Gefährlichkeit meiner Gedanken, daß erst sehr spät — und gewiß nicht vor 1901 — die Ohren sich für diese Gedanken aufschließen werden.
Nach Versailles zu kommen — ach wäre es nur irgendwie mir möglich! Denn ich verehre den Kreis Menschen, den Sie dort vorfinden (sonderbares Bekenntniß für einen Deutschen: aber ich fühle mich im heutigen Europa nur den geistigsten Franzosen und Russen verwandt, und ganz und gar nicht meinen gebildeten Landsleuten, die alle Dinge nach dem Princip „Deutschland, Deutschland über Alles“ beurtheilen) Aber ich muß wieder in die kalte Luft des Engadins: der Frühling setzt mir unglaublich zu: ich mag gar nicht eingestehn, bis in welche Abgründe von Muthlosigkeit ich mich unter seinem Einflusse verirre. Mein Leib fühlt sich (wie übrigens auch meine Philosophie) auf die Kälte als sein conservirendes Element angewiesen — das klingt paradox und ungemüthlich, ist aber die bewiesenste Thatsache meines Lebens.
— Damit verräth sich zuletzt keineswegs eine „kalte Natur“: das verstehen Sie gewiß, meine hochverehrte und treue Freundin!…
In alter Liebe und Dankbarkeit Ihr
Nietzsche.
Frl. Salomé hat mir gleichfalls die Verlobung mitgetheilt; aber auch ich habe ihr nicht geantwortet, so aufrichtig ich ihr Glück und Gedeihen wünsche. Dieser Art Mensch, der die Ehrfurcht fehlt, muß man aus dem Wege gehn. Wer Dr. Andreas ist, weiß Niemand mir zu sagen. —
In Zürich habe ich das vortreffliche Fräulein von Schirnhofer aufgesucht, eben von Paris zurückkehrend, über ihre Zukunft, Absicht, Aussicht ungewiß, aber, gleich mir, für Dostoiewsky schwärmend.
846. An Erwin Rohde in Heidelberg
Chur (Graubünden) Rosenhügel den 18. Mai 1887
Lieber Freund,
diesen Winter hat mir in Nizza ein junger Gelehrter, der Dir bekannt ist, seinen Besuch gemacht, ein Dr. Heinrich Adams. Er gefiel mir nicht zum Besten, aber in Hinsicht darauf, daß er von Dir mit großer Anhänglichkeit und Verehrung redete, ist er von mir so gut als möglich aufgenommen worden. Seinem ungestümen und wenig begründeten Verlangen, sich der Philosophie zu widmen, bin ich, wie sich von selbst versteht, mit allem möglichen Mißtrauen entgegengetreten; so viel scheint mir wenigstens erreicht, daß er jetzt guten Willen hat, sich ernstlich auf das Studium der Geschichte der antiken Philosophie zu werfen: vielleicht mit der Aussicht auf eine spätere Lehrthätigkeit an einer Universität.
Nun schreibt er heute von Zürich (Seilergraben 29, 2) und erbittet sich von mir eine Auskunft, die er billigerweise sich von Dir direkt holen sollte: nämlich ob Du für ihn nicht eine kleine Stellung an einer Bibliothek ausfindig machen könntest. Ich würde großen Werth darauf legen, daß er etwas unter Deinen Augen und unter Deiner Kritik und Disciplin lebte, denn es ist ein unsicherer Mensch, in dem Selbstüberhebung und Selbstverachtung in bedenklicher Weise abwechseln: so daß es nicht ohne Gefahr wäre, wenn er sich selbst überlassen bliebe.
Ich selbst — denn Du wirst fragen, warum ich mir nicht selber diese Last auflade? — ich mache mir aus den „jungen Leuten“ nichts und habe außerdem Erfahrung genug, um zu zweifeln, ob ich ihnen wirklich zu Nutze bin. Meine Erholung sind die alten Männer, solche wie J<acob> Burckhardt oder H<ippolyte> Taine: — und selbst mein Freund Rohde ist mir lange nicht alt genug… Aber „einst wird kommen der Tag“ usw.
Mit einem herzlichen Gruße
Dein
Nietzsche
847. An Franz Overbeck in Basel
Chur, Rosenhügel 13. Mai 1887.
Lieber Freund,
bis jetzt giebt es nichts Gutes zu vermelden, meine Versuche unterwegs sind allesammt mißrathen; ich habe mich hier, einen Sprung weit von Chur, im Hause eines Lehrers festgesetzt und warte die Zeit ab, wo man ins Engadin abreisen kann, ohne daselbst zu erfrieren. Jedenfalls warte ich den 10. Juni ab. Trübes feuchtes Wetter, gelegentlich sogar Wintertage; eine entsprechende Trübsal bei mir, Muthlosigkeit, Fragezeichen ohne Antworten, keine „Wünsche“ selbst, nirgends etwas Erfreuliches am Horizonte, weder Mensch, noch Buch, noch Musik, alle animalischen Funktionen gedrückt, die Augen beständig schmerzhaft, das Spazierengehn eine Last, insofern ich eigentlich zu müde dazu bin, aber nichts anderes „zu thun“ habe. Ebenso stand es voriges Jahr in Naumburg, ebenso die früheren Jahre in Venedig: es scheint, daß der Frühling mein Feind ist? Leider auch der Herbst; und wahrscheinlich würde es auch der Sommer sein, wenn ich ihn mir nicht zu einem räsonabeln Winter umgeschaffen hätte (denn der Durchschnittsgrad des Engadiner Sommers, 10 Grad Celsius, entspricht dem Januar in Nizza)
Unser Zusammensein in Zürich war das gute Erlebniß der ganzen letzten Monate: ich sage Dir nochmals meinen besten Dank dafür. Gestern habe ich an Rohde in Angelegenheiten des Dr. Adams geschrieben: letzterer wünscht irgendwo eine kleine Stellung und Beschäftigung an einer Bibliothek. Gesetzt, daß Du selbst etwas dergleichen weißt, so habe die Güte, es mir gelegentlich mitzutheilen. — Natürlich hatte der genannte „junge Mann“, als ich ihn am Tage vor meiner Abreise gerade noch erwischte, ganz und gar kein Geld (ich sagte Dir, daß er mir etwas schuldig ist)
Die „jungen Leute“ sind mir zur Last, in Sonderheit, wenn sie als Verehrer meiner Litteratur zu mir kommen. Denn es liegt auf der Hand, daß das keine Litteratur für „junge Leute“ ist. — Beiläufig: der Druck bei Fritzsch stockt wieder, Gründe nicht klar; aber ich bin zum Mißtrauen jetzt leider zu gut präparirt. —
Ich lege eine „Recension“ meines letzten Buches bei, die, ganz ausnahmsweise, dies Mal in meine Hände gelangt ist. (Meine Verleger haben im Allgemeinen die Weisung, mich mit dergleichen zu verschonen) „Nord und Süd“: ist das nicht das Blatt des Paul Lindau? — Was mir immer an deutschen Bücher-Anzeigen auffällt, ist die Stumpfheit des Blicks für das eigentlich Charakteristische und „In die Augen-Springende“ eines Buchs. Dieser Recensent z. B. ist ersichtlich beim Lesen in Zweifel darüber gewesen, ob es sich nicht am Ende um eine „witzige Persiflage“ handelt: während Taine, wie es sich von selbst versteht, zu allererst an meinem Buche das „Tief-Leidenschaftliche“ empfand. —
Ich lege auch noch ein andres Aktenstück bei: die „Proklamation“ meines Schwagers in Sachen Paraguays. Es scheint in der That, daß meine Angehörigen sehr stolz und glücklich über ihre nunmehr vollendete Besitzergreifung sind: das Land, groß wie ein kleines Fürstenthum (12 Quadrat-Meilen) enthält herrlichen Hochwald, und alle Arten edlen Nutzholzes: man ist auf Holzhandel mit dem holzarmen Argentinien angewiesen und hat dazu eine Wasserstraße. Bis jetzt ist Alles sehr gut gegangen, von Seiten der dortigen Regierung ist der Dr. Förster in aller Weise ausgezeichnet worden, und meine Schwester hat viel zu thun gehabt, weil ihr Haus eine Art Rendez-vous der Sozietät von Parag<uay> geworden war, wo man spanisch, englisch, deutsch, französisch redete und selten unter 14 Personen zu Tische saß. Die neueste Acquisition ist ein deutscher Bäcker und ein deutscher Fleischer, insgleichen ein sehr zu schätzender deutscher Arzt.
Zuletzt sende ich Dir auch noch den „Bleibtreu“ zurück, dem ich nicht einen Augenblick treu bleiben möchte: ich kann durchaus nicht ersehen, daß seine Prätensionen auf wirkliche Qualitäten gegründet sind: so sehr ich auch gewohnt bin, bei „jungen Leuten“ mich nicht ohne Weiteres durch die Prätension als solche schon abschrecken zu lassen. Für einen Menschen, der für nichts als für „Litteratur“ Sinn und Auge hat, schreibt dieser Bl<eibtreu> wie ein Schwein inmitten des allergewöhnlichsten Zeitungs-Düngers, vollkommen stumpf gegen alle nuances der Worte; sein Zorn überredet nicht, sein Witz geht nicht über das hinaus, was man „Geschnotter“ nennt — und gar sein Hintergrund von Philosophie! Selbst keine Aesthetik! Byron und Skott im jetzigen Deutschland! Damit verträglich die Verehrung Zola’s! Und welche psychologische Armseligkeit, zb. in dem kurzen Abweise, mit dem er das letzte Werk Dostojewsky’s bedenkt! (Gerade daß die höchste psychologische Mikroscopie und Feinsichtigkeit noch ganz und gar nichts zum Werthe eines Menschen hinzuthut, das ist ja eben das Problem D<ostojewsky>’s, das ihn am meisten interessirt: wahrscheinlich weil er es in russischen Verhältnissen zu oft aus der Nähe erlebt hat! (Ich empfehle dafür übrigens das zuletzt ins Französische übersetzte kleine Werk D<ostojewsk>)’s „l’esprit souterrain“ dessen zweiter Theil jenes sehr thatsächliche Paradoxon auf eine beinahe fürchterliche Weise illustrirt). —
Adieu, mein lieber Freund! Und die herzlichsten Grüße an Deine Frau!
Treulich
Dein Nietzsche.
NB. Ich mache eine kleine Kur mit Karlsbader Salz frühmorgens (— wovor hat man sich da diätetisch in Acht zu nehmen? Ich denke vor Saurem, vor Butter, Obst usw?)
848. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Postkarte)
<Chur, 17. Mai 1887>
Werthester Herr Verleger, meine Adresse bleibt noch bis zum 10ten Juni:
Chur (Schweiz) Rosenhügel
Den vorletzten Correkturbogen (20) habe ich Montag den 9. Mai an Sie abgeschickt; es beunruhigt mich einigermaßen, daß bis jetzt (Dienstag den 17 Mai) der letzte (21) noch nicht in meinen Händen ist.
Hoffentlich ist Nichts verloren gegangen? —
Mit ergebenstem Gruße
der Ihrige
Prof Dr Nietzsche.
849. An Erwin Rohde in Heidelberg
Chur, den 19. Mai 1887.
Nein, mein alter Freund Rohde, ich erlaube Niemanden über Ms. Taine so respektwidrig zu reden, wie Dein Brief es thut — und Dir am wenigsten, weil es wider allen Anstand geht, Jemanden so zu behandeln, von dem Du weißt, daß ich ihn hochhalte. Magst Du, wenn es Dir gefällt, von mir selber nach Herzenslust und Gewohnheit Unsinn reden — das liegt in der natura rerum, ich habe mich nie darüber beklagt, noch es je anders erwartet. Aber in Bezug auf einen Gelehrten wie Taine, der Deiner species verwandter ist, solltest Du Augen im Kopfe haben. Ihn „inhaltlos“ nennen ist ganz einfach eine rasende Dummheit, studentisch zu reden — es ist zufällig gerade der substantiellste Kopf im jetzigen Frankreich — und die Bemerkung dürfte am Platze sein, daß dort, wo Einer keinen „Inhalt“ sieht, deshalb doch recht wohl ein Inhalt sein könnte, nur eben kein Inhalt für ihn. In der schmerzlichen Geschichte der modernen Seele, die in vielem Betrachte sogar eine tragische Geschichte ist, nimmt Taine seinen Platz ein als ein wohlgerathener und ehrwürdiger Typus mehrerer der nobelsten Qualitäten dieser Seele, ihres rücksichtslosen Muthes, ihrer unbedingten Lauterkeit des intellektuellen Gewissens, ihres rührenden und bescheidenen Stoicismus inmitten tiefer Entbehrung und Vereinsamung. Mit solchen Eigenschaften verdient ein Denker Ehrfurcht: er gehört zu den wenigen, die ihre Zeit verewigen. Mich erquickt der Anblick eines solchen tapferen Pessimisten, der geduldig und unerbittlich seine Pflicht thut, ohne den großen Lärm und die Schauspielerei nöthig zu haben, ja der ehrlich von sich sagen kann: „satis sunt mihi pauci, satis est unus, satis est nullus“. Sein Leben wird dergestalt, ob er es will oder nicht, zu einer Mission, er steht eben zu allen seinen Problemen nothwendig (und nicht so beliebig, so zufällig, wie Du, gleich den meisten Philologen, zur Philologie)
Nichts für ungut! Aber ich glaube, wenn ich nur diese Eine Äußerung von Dir wüßte, ich würde Dich auf Grund des damit ausgedrückten Mangels an Instinkt und Takt verachten. Glücklicherweise bist Du mir anderweitig ein bewiesener Mensch.
— Aber Du solltest Burckhardt über Taine reden hören!
Dein Freund N.
850. An E. Kürbitz in Naumburg
Chur (Schweiz) Rosenhügel 20. Mai 1887.
Sehr geehrter Herr,
mein Schwager, Herr Dr. Förster, stellt an mich (wie ich eben aus einem Briefe meiner Schwester erfahre) das Verlangen, daß ich für Ausgaben im Betrag von 4500 Mark für ihn gut stünde; genauer, daß drei Rechnungen in der Höhe der genannten Summe jetzt durch Sie bezahlt werden möchten, und daß ich dafür einträte, gesetzt diese drei Rechnungen bis Juli durch Einzahlungen auf Land oder eine Anleihe nicht gedeckt würden. Ich fühle mich außer Stande, auf diese Proposition einzugehn und bitte bei Gelegenheit Herrn Dr. Förster davon Mittheilung zu machen.
Mit bekannter Hochschätzung
Ihr ergebenster
Prof. Dr. Fr. Nietzsche.
851. An Heinrich Köselitz in Venedig
Chur, Schweiz, Rosenhügel 20. Mai 1887.
Lieber Freund,
inzwischen gieng es nicht besser: und fast bilde ich mir ein, daß der Frühling, meine verhängnißvolle Jahreszeit, mir überall gleich zusetzt — und daß ceteris paribus Venedig bei weitem das Wählenswertheste auch für diese Zeit bleibt. Ein paar gute Minuten helfen mir über lange böse Strecken weg — selbst weniger noch, ein kleiner Ruck des Herzens beim Anhören einer Musik, die ich liebe: aber es gab bisher keinen solchen Ruck! Es gab keine Musik, keinen St. Markusplatz, keine Gondel — nichts als die häßlichen Gebirgsbauern, deren Bewegungen und Laute mir wehe thun. Doch hat Chur schöne Wälder um sich: aber ich wurde auch in ihnen nicht „ohnig der Melancholei“, von der ich besessen bin. Dazu fehlten stupide Zufälle nicht, die mich aus meinem „Willen zur Sorglosigkeit“ immer wieder in die Sorge hineintrieben. Die Behauptung Plato’s, daß man mit Massage sogar Gewissensbisse heilen könne, verdiente erprobt zu werden: — doch bin ich bisher auch mit ihrer Hülfe nicht über den Gewissensbiß hinweggekommen, dies Mal Venedig und meinen Freund Köselitz in Stich gelassen zu haben.
Was mag denn wieder mit Fritzsch vorgegangen sein? Der allerletzte (modifizirte) Correkturbogen des 5. Buchs ist bis heute nicht in meinen Händen: der vorletzte, mit Ihrer Correctur, ist am 9. Mai von Chur nach Leipzig abgereist. Seitdem — silentium. —
Hoffentlich ist Nichts verloren gegangen? —
Haben wir Geduld, es kommt eigentlich Nichts darauf an, wann meine Schriften „fertig“ werden. Eben habe ich Rohden einen allerliebst-groben Brief geschrieben, wegen einer respectwidrigen Aeußerung über Taine. Insgleichen einen Geldbrief Paraguay betreffend: ich hüte mich weislich, mich irgendwie in diese Antisemiten-Unternehmung einzulassen. Übrigens ist ein grandioses Stück Erde von mehr als 12 □ Meilen (größer als Lippe) im Besitz meiner Angehörigen als propriedad del Sg. Don Bernardo Förster — unter dem Namen „Neu-Germanien“. Es ist möglich, daß eine der größten Eisenbahnen der Welt, welche unten von der Mündung des La-Plata nach dem Panamakanal geht, entweder durch die Colonie hindurch oder nahe vorbei führt (die Bahnlinie durch Bolivia und Peru). Schon bei dem Bahnbau läßt sich ein Vermögen erwerben, denn die Colonie ist mit prachtvollem Hochwald bedeckt und hat 2 Wasserstraßen nach dem Hauptstrom. Der General Osborne, früher Gesandter der Verein<igten> St<aaten> in Argentinien, verhandelt jetzt mit der Regierung über diese Bahn, die sein „Ideal“ und Lebenszweck ist (er hat meiner Schwester gesagt, beim Abschiede, „sein schönster Gedanke sei, wenn er eines Tages mit dem Zuge käme to see the little Queen of Nueva Germania“)
Die Bibliothek in Chur, ca. 20 000 Bände, giebt mir dies und jenes, das mich belehrt. Zum ersten Male sah ich das vielberühmte Buch von Buckle „Geschichte der Civilisation in England“ — und sonderbar! es ergab sich, daß B<uckle> einer meiner stärksten Antagonisten ist. Übrigens ist es kaum glaublich, wie sehr E. Dühring sich von den plumpen Werthurtheilen dieses Demokraten in historischen Dingen abhängig gemacht hat: ganz derselbe Fall, wie mit Carey, von dem er alle wesentlichen Oeconomica sich angeeignet hat. In philosophicis steht es noch schlimmer: es ist wirklich einer der unoriginellsten Köpfe, der aber mit seiner Agitatoren-Dreistigkeit gerade über diesen Thatbestand hinweg zu täuschen versteht. Ich hätte ihn mit dem gleichen Rechte einen Amalgamisten nennen können, wie ich E. v. Hartmann genannt habe.
Ob ich diesen Sommer in Sils-Maria sein werde, ist ungewiß; vielleicht Celerina, noch vielleichter die Lenzer Haide (wo es tiefen Wald giebt) Aber erst muß die „liebe Seele“ wieder ruhig werden und die dumme Spannung verlernen, in der ich mich so lange befinde, als die Redaktion meiner früheren Litteratur dauert: sie hat mir allzu sehr deutlich gemacht, daß ich ohne Halt bin und leicht durch einen Sturm über Nacht fortgeblasen werden kann. Verklettert, sehr hoch, aber in der beständigen Nähe der Gefahr — und ohne eine Antwort auf die Frage „wohin?“ — —
Oh was liebe ich die Musik meines Freundes Peter Gast!
Treulich und von Herzen Ihr
Nietzsche.
852. An Erwin Rohde in Heidelberg
<Chur, 23. Mai 1887.> Montag Nachmittag.
Lieber Freund, es ist nicht schön, daß ich vorgestern dergestalt einem plötzlichen Zorn gegen Dich nachgegeben habe, aber zum Mindesten ist es gut, daß er herausgekommen ist: denn er hat mir Etwas sehr Werthvolles eingebracht, nämlich Deinen Brief, der mich wesentlich erleichtert und meinem Gefühle gegen Dich andre Bahnen giebt.
Dein Wort über T<aine> klang mir über die Maaßen ablehnend und ironisch: was in mir dagegen revoltirte, war der Einsiedler, der aus einer allzureichlichen Erfahrung weiß, mit welcher erbarmungslosen Kälte alle Abseitslebenden bei Seite gethan und auch wohl abgethan werden. Es kommt dazu, daß Taine, außer Burckhardt, in langen Jahren der Einzige gewesen ist, der mir ein herzhaftes und theilnehmendes Wort über meine Schriften gesagt hat: so daß ich ihn und Burckhardt einstweilen für meine einzigen Leser halte. Wir sind in der That gründlich aufeinander angewiesen, als drei gründliche Nihilisten: obschon ich selbst, wie Du vielleicht spürst, immer noch nicht daran verzweifle, den Ausweg und das Loch zu finden, durch das man in’s „Etwas“ kommt.
Wenn man dergestalt in seinen tiefen Bergwerken steckt und gräbt, wird man „unterirdisch“, zum Beispiel mißtrauisch. Es verdirbt den Charakter: Zeugniß mein letzter Brief. Nimm fürlieb!
Dein N.
853. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Postkarte)
Chur (Schweiz) Rosenhügel den 1. Juni 1887.
Werthester Herr Verleger! Anbei folgt der corrigirte letzte Bogen des 5ten Buchs: womit nunmehr meine Arbeit zu Ende gekommen ist. Heute bitte ich Sie, mir den Zeitpunkt anzugeben, in dem „Morgenröthe“ und „fröhliche Wissenschaft“ versandtfähig sein werden: es liegt mir daran in Hinsicht eines Geburtstags. Ebenfalls bitte ich Sie um die Rechnung für den Druck des fünften Buchs: welche sofort in Ordnung gebracht werden soll.
Mit bestem Gruße Ihr
ergebenster
Dr. F. Nietzsche.
854. An Elisabeth Förster in Asuncion (Entwurf)
<Sils-Maria, kurz vor dem 5. Juni 1887>
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Mein liebes Lama, Du findest Deinen Bruder ganz und gar widerwillig, Geld herauszurücken: seine Lage ist zu unsicher, und die Eure nicht bewiesen genug als daß es erlaubt wäre, hier bloß auf den Augenblick hin zu handeln.
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Das Schlimmste ist zu alledem, daß unsere Interessen und Wünsche jetzt gerade recht auseinander laufen. Soweit Eure Unternehmung eine antis<emitische> Unternehmung ist — und man hat mir das inzwischen ad oculos demonstrirt —
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habe ich im innersten Herzen kein Vertrauen zu ihr ja nicht einmal viel Wohlwollen fromme Wünsche. Gelingt das Werk des Dr. F<örster>, so will ich mich um Deinetwillen damit zufrieden geben und möglichst wenig daran denken, daß es zugleich der Triumph einer von mir geringgeschätzten Bewegung ist, gelingt es ihm nicht, so werde ich mich am Zugrundegehn einer antisem<itischen> Unternehmung freuen und Dich um so mehr bedauern, daß Du Dich aus Pflicht und Liebe an eine solche Sache gebunden hast.
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Ich sage das ein- für alle Mal: mit Betrübniß darüber, daß es durchaus gesagt werden muß.
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Mein Wunsch ist zuletzt, daß man Euch deutscherseits etwas zu Hülfe käme, und nämlich dadurch daß man die Antisemiten nöthigte, Deutschland zu verlassen: wobei ja nicht zu zweifeln wäre, daß sie Euer Land der „Verheißung“ P<araguay> anderen Ländern vorziehen würden. Den Juden andererseits wünsche ich immer mehr, daß sie in Europa zur Macht kommen, damit sie jene Eigenschaften verlieren (nämlich nicht mehr nöthig haben) vermöge deren sie als Unterdrückte sich bisher durchgesetzt haben. Im Übrigen ist es meine ehrliche Überzeugung: ein Deutscher, der bloß daraufhin, daß er ein D<eutscher> ist, in Anspruch nimmt mehr zu sein, als ein Jude, gehört in die Komödie: gesetzt nämlich daß er nicht ins Irrenhaus gehört
855. An Elisabeth Förster in Asuncion
Chur, den 5. Juni 1887.
Weißt Du noch, mein liebes Lama, wie wir einstmals — es war im Herbst 1879 — in Chur zusammen auf dem Rosenhügel frühstückten? Du hattest einen Band Middlemarch von der braven Eliot bei Dir? Eben da wohnt jetzt Dein Bruder, bei einem Lehrer, wartend, wartend, ob das Wetter endlich die Auffahrt ins Engadin erlaubt: denn dies Jahr haben wir einen widerspänstigen und bösen Frühling, der den Mai ebenso mit Wintertagen durchspickt hat, wie der vorjährige Frühling (in Naumburg, schlimmen Angedenkens!) seinen Mai mit Hundstagen. Damals gieng es hinauf bis zu 30 Grad Cels. im Schatten, dies Mal hinunter bis 1 Grad unter Null: das ist das „europäische Gleichgewicht“! Das Üble daran ist, daß beide Natur-Anomalien mir gleichmäßig zusetzen, ja ich erinnere mich, wenige solche Depressions-Zeiten durchgemacht zu haben wie die letzten Frühlinge. Es steht überhaupt unheimlich mit mir: ich muß als Maximum meines überhaupt erreichten relativen Wohlbefindens jenen Sommer in Tautenburg betrachten, seit welchem Alles schief gegangen ist. Es kostet mich jetzt eine ernsthafte Überwindung, mit jedem einzelnen Tage fertig zu werden; dazu bin ich excessiv mißtrauisch geworden und habe eigentlich Niemanden übrig behalten, vor dem ich Lust hätte, mich etwas gehen zu lassen und guter Dinge zu sein. Wie sich von selber versteht, verhalten sich die „lieben Mitmenschen“ entsprechend zu mir: Alles hat mich seitdem verlassen, selbst das Lama ist davon gesprungen und unter die Antisemiten gegangen (was ungefähr das radikalste Mittel ist, um mit mir „fertig“ zu werden) Nun, ich sage das am wenigsten im Tone eines Vorwurfs, es ist bei weitem vernünftiger, in südamerikanischen Wäldern die „Försterei“ im großen Maaßstabe zu treiben als die „Brüderlichkeit“ im kleinen. Bevor ich hierher kam, habe ich mich ein paar peinliche Wochen in Zürich durchgewunden, zum ersten Mal wieder in der Pension Neptun seit jenen Herbsttagen, wo wir so heiter waren, gleichsam als ob —: ich wohnte in jenem kleinen Kämmerchen, das Du die erste Nacht inne hattest und dachte Viel an Dich (ebenso wie vorher bei der Reise über den Gotthard) Ich suchte Hegars auf, die sich Dir herzlich empfehlen lassen, auch Fräulein von Salis, eben vor der „Prüfung“, nämlich der Doctorpromotion stehend und sehr angegriffen; insgleichen Frl. v. Schirnhofer, die eben von Paris zurückkam und auch von dem Gespenst des nahen Examens überschauert war; übrigens war mit demselben Zuge auch Frl. Wildenow von Paris gekommen, doch ohne daß die beiden ehemaligen Freundinnen das gleiche Coupé benutzt hätten (sie erzählten vielmehr beiderseits mit einigem Stolze, sich nicht einmal auf dem Perron gegrüßt zu haben) Die Medizinerin schien mir übrigens vollendet langweilig und von Flöten-gegangener Weiblichkeit: sie sprach klug wie ein dummes Buch. Ich erwähne noch, daß Frl. Salomé sich jetzt verheirathet, mit einem Dr. Andreas; ebenfalls daß Malvida ihre ältere Schwester verloren hat und nunmehr glaubt „an der Reihe“ zu sein; auch daß in Basel die uns bekannten Menschen rapid aussterben (Thurneysen-Merian, der Prof. Vischer, Frau Prof. Hagenbach-Bischoff, der lustige Dr. Burckhardt), daß Jakob Burckhardt seine Geschichtsprofessur aus Altersschwäche niedergelegt hat und unglücklich über seinen insipiden Nachfolger ist; auch daß Overbeck zu mir nach Zürich gekommen ist (sein Haar ist nun auch weiß geworden) daß die Familie Rothpletz auf Teneriffa war, daß Prof. Moriz Wagner (der Freund von Frau Rothpletz) sich eben in München erschossen hat; auch daß ich mich mit Rohden verzürnt habe; daß ich in Nizza gründlich angepumpt worden bin und natürlich nichts wieder bekommen habe; daß bei der Leipziger Ostermesse mein letzterschienenes Buch einen schlechten krebsartigen Charakter an den Tag gelegt hat (es sind im Ganzen 114 Exemplare verkauft worden); endlich daß die verschiednen Druckereien, die ich mir in den letzten Jahren habe „zu Schulden kommen“ lassen, die Summe von 450 Thalern verschluckt haben. (Mein liebes Lama, Du findest Deinen Bruder jetzt ganz und gar abgeneigt, Geld heraus zu rücken: seine Lage ist zu unsicher, und die Eure nicht bewiesen genug als daß es erlaubt wäre, hier bloß auf den Augenblick hin zu handeln. Dagegen habe ich, einer Vorstellung unsrer guten Mutter nachgebend, so viel wenigstens mir abgerungen (denn ich bin ein Geizhals und überdies mißtrauisch, wie gesagt, bis zum Exceß), daß 800 Thaler für Dich flügge worden sind, insofern ich das, was Du bisher noch auf dem Haus in Naumburg stehen hattest, auf meine Kappe genommen habe, hoffentlich mit Deiner Billigung? Im Übrigen muß ich mich zu einer plötzlichen Veränderung meines Looses bereit halten: denn meine Schriften sind compromittirend und ich habe keinen Hinterhalt mehr, auch in Basel nicht. Verzeihung, daß ich so viel von mir rede und nichts Erquickliches noch dazu! Um so besser mag es Dir gehen, mein liebes Geburtstagslama!
F.
Meine besten Wünsche Deinem Dr. Förster zu seiner großen Unternehmung! Mir fiel, als ich die Karte mit dem äußerst respektablen Besitzthum anstaunte, der Satz ein „wer besitzt, ist auch besessen“. Man giebt damit viel Freiheit auf. —
Freund Köselitz sitzt enttäuscht und melancholisch wieder in Venedig, auch ohne Geld: denn alle Aussichten, seinen „Löwen von Venedig“ zum Brüllen zu bringen, sind vorbei. Die Deutschen schwärmen nur noch für Wagner und Neßler.
Es scheint ein Brief an Dich verloren gegangen zu sein, ein sehr heiterer Brief aus Nizza abgeschickt, etwa einen Monat vor dem Erdbeben (die Etage, in der mein Zarath<ustra> entstanden ist, stürzte ein und ist jetzt abgetragen worden)
856. An Heinrich Köselitz in Venedig
Adresse, nach wie vor: Chur, Rosenhügel. d. 8. Juni 1887.
Lieber Freund,
noch schnell ein paar Worte, bevor ich mich auf die Wanderschaft begebe: wer weiß, wie lange es dauert, bis ich wieder Tinte und Feder zur Hand nehmen kann — denn mein Reiseziel ist dies Mal ungewiß (Lenzer Haide oder Celerina oder Sils oder?) Zudem drängt es mich, Ihnen ein Faktum zu melden, auf das hin von Ihnen vielleicht etwas combinirt werden könnte: nämlich der Hamburger Pollini (zu dem, wie ich mich erinnere, Sie einiges Vertrauen in puncto Muth und Unabhängigkeit haben) ist für diesen Winter mit Hans von Bülow einig geworden: dabei soll es unter anderem eine vollständige Mozart-Serie abgeben. Nun scheint es mir immer noch, daß Bülow der Mann ist, der Ihre Oper aufzuführen wagen wird: er steht unabhängiger da als Mottl und Levi, ja er liebt gelegentlich eine outrance von Unabhängigkeit ad oculos zu demonstriren. Es wäre der Versuch zu machen, ob er es nicht in Ihrem Falle thäte. Daß Sie ehemals ein kleines Brief-rencontre mit ihm gehabt haben, kommt einfach nicht in Betracht: Bülow hat in Hinsicht auf solche Dinge eine noblesse, auf die man bauen kann. Er hat sich zehn Mal mit Brahms überworfen (und mit wem nicht?) aber das hindert ihn nicht: umgekehrt, es spornt ihn an, einer von ihm einmal erkannten Kraft und Originalität sich zu widmen. Erwägen Sie, lieber Freund: sagen Sie ihm, weshalb Sie Ihr Werk unaufführbar glauben, wenn es nicht von ihm gewagt wird, — charakterisiren Sie Ihre Musik mit sieben unzweideutigen Prädikaten (im Gegensatz zu Wagner und zu Neßler, den einzigen „Zeitgemäßen“ der jetzigen deutschen Seele); vielleicht schadet es nichts, wenn Sie die Verantwortung für den ganzen Schritt auf mich legen (obwohl ich aus allen möglichen Gründen nicht von mir aus zuerst an Bülow über diese Sache schreiben möchte)
Ich erzähle noch nebenbei, daß Brahms eine romantische Oper componirt — er ist am Thunersee — der Text ist von V. Widmann, zurechtgemacht nach dem Lustspiel von Gozzi „das laute Geheimniß“. Dabei habe ich mir gesagt, daß der genannte Dr. Widmann zuletzt auch Ihren Corsischen Text ausdichten könnte.
Endlich habe ich eine Bitte: sagen Sie mir, wie viel Exemplare vom 4ten Theil Zarathustra bei Ihnen in Venedig liegen. Vielleicht habe ich damit etwas vor.
Die Leipziger Buchhändlermesse hat mir ein lehrreiches Resultat abgeworfen. Dies Mal, in Bezug auf Jens<eits> von G<ut> und B<öse> ist buchhändlerischer Seits Alles, was noth thut (und etwas mehr sogar!) gethan worden: also dem Herrn Schmeitzner ist nichts mehr in die Schuhe zu schieben, wie ich es bisher that. Trotzdem — ist das Ergebniß dasselbe wie bei Schmeitzner: oder vielmehr, es ist noch schlechter! Es sind überhaupt nur 114 Exemplare verkauft worden (während allein 66 Exemplare an Zeitungen und Zeitschriften verschenkt worden sind)
Lehrreich! Nämlich man will partout meine Litteratur nicht: und ich — darf mir den Luxus des Druckes nicht mehr gestatten. —
Wenn Sie sich eines alten Wunsches erinnern möchten! Ich würde so gern Ihre critica aus der Münchner Zeit lesen: sind sie frei? (Aber warum bieten Sie Ihre unvergleichlichen Artikel über Venedig nicht lieber der Frankfurter Zeitung an, statt der Süddeutschen Presse?..) Treulich und herzlich Ihr Freund
N.
Schönsten Dank für die ganze Correctur-Noth, die ich Ihnen gemacht habe!!! Wer weiß, vielleicht habe ich fürderhin nichts mehr zu „corrigiren“, ausgenommen mich selbst…
857. An Lendi, Wirt in Celerina (Entwurf)
<Chur, um den 8. Juni 1887>
Im letzten Herbst hat mir einer der treusten Gäste Ihres Hauses H. G.<eneral> Simon die Mittheilung gemacht, daß Sie mir mit ausnahmsweisen Bedingungen entgegenkommen würden, wenn ich gesonnen wäre einen längeren Aufenthalt in Celerina zu nehmen.
Ich habe bisher sechs Sommer hintereinander in Sils-Maria zugebracht, in einem Privathause, dessen Bewohner ich schätze und ungern verlasse: doch macht die Rücksicht auf meine immer mehr leidenden Augen es nöthig, ein Zimmer mit günstigeren Lichtverhältnissen zu suchen als jenes Haus mir zu bieten vermag. Nun glaubt Frl. Simon in dem Ihnen benachbarten Hause Rocco ein solches Zimmer gefunden zu haben; und man theilt mir mit, daß Sie mir für das Zimmer, hinzugerechnet Mittag- und Abendessen an Ihrer table d’hôte, täglich den Preis von 4 1/2 frcs. rechnen würden. Mit der Bitte, mich darüber zu benachrichtigen, wann jenes Zimmer mir bereit stehen könnte und wann Ihr Haus selbst seine Gäste zu erwarten hat, bin ich — — —
858. An Franz Overbeck in Basel (Entwurf)
<Chur, um den 8. Juni 1887>
An Overbeck
Es ging inzwischen mit der Gesundheit schlecht und schlechter: dem Frühling darf ich dafür nicht mehr die Schuld geben, er hat sich aus dem Staube gemacht und selbst nicht einmal „aus dem Staub“ … Wir hatten Schnee bis tief ins Thal herab.
Nachdem ich meiner gesamten bisherigen Litteratur nunmehr eine Art letzter Oelung gegeben und von ihr mit Zärtlichkeit Abschied genommen habe will es mir scheinen, als ob es überhaupt mit allem Veröffentlichen von Büchern bei mir jetzt vorbei sei (Gott sei Dank, werden meine Freunde sagen) Facta loquuntur: kein deutscher Verleger wagt es mit mir noch (oh sie haben Recht, diese Herren!), ich habe in den letzten 3 Jahren bei den Unbefangensten und Muthigsten immer nur das harte Wörtchen „Nein“ zu hören bekommen. Andererseits ist mir die deutsche Presse abgeneigt (oh sie hat ein Recht dazu, diese Dame!) sie möchte am liebsten meinen Namen gar nicht vorbringen, wie das mir von Litteraten selbst bezeugt ist, dazu gehört z. B. daß von den 50—60 Recensionsex<emplaren> meines letzten Buches kaum 1/5 die Wirkung gehabt hat, die man von einer derartigen Zusendung erwartet. Am wichtigsten ist dies: ich hatte bisher geglaubt daß Schm<eitzner> dem Vertrieb meiner Schriften den größten Nachtheil gethan habe: auch mit seinen unsinnigen Preisen. Nun kann man sich nicht sorgsamer und thätiger benehmen als sich mein jetziger Verleger, Herr C. G. Naumann benommen hat; und der Preis war räsonnabel: das Resultat ist trotzdem dasselbe, ja sogar noch schlimmer als bisher — es sind, wie bei der Ostermesse constatirt wurde, im Ganzen nur 114 Exemplare verkauft worden. Somit ist, von der Geb<urt> der T<ragödie> an bis jetzt, eine stetig wachsende Gleichgültigkeit gegen meine Schr<iften> ziffernmäßig constatirt. Ich selbst habe in den letzten 3 Jahren erhebliche Unkosten durch Selbst-Drucke gehabt: für den 4. Th<eil> Z<arathustras> c. 100 Thl., für Jenseits von Gut und Böse c. 300, das Jahr für die mannigfachen Zurechtmachungen und Bereicherungen meiner älteren Schriften c. 150 Thaler. Das hat nun ein Ende. Weder ich, noch irgend ein Verleger kann den Luxus einer Litteratur aufrechterhalten, deren Liebhaber kaum die Zahl 100 überschreiten.
Ein peinliches Erlebniß, das mich einige Tage krank gemacht hat, war ein Zwischenfall mit Rohde, dem Niemand besonders viel Takt und Delikatesse nachrühmen wird. Er beging in einem Briefe eine solche Rüpelei gegen mich, daß ich mich dazu hinreißen ließ, ihm eine sehr grobe Antwort und Abfertigung zu theil werden zu lassen. Ich muß hinzufügen, daß er hierauf in einer Weise zurück geantwortet hat, die seinem Charakter alle Ehre macht. Im Ganzen ein recht überflüssiges Erlebniß, zumal in meinem jetzigen Zustande. —
859. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Sils-Maria, 13. Juni 1887>
Glück zu, lieber Freund! Das nehme ich als ein sehr gutes Zeichen, daß Sie wieder Muth und gute Laune zu einem neuen Wagniß haben. Die Adresse Bülow’s fehlt mir; nach meiner ungefähren Erinnerung wollte er diesen Frühling nach Frankfurt a. M. gehn, um dort an der Musikschule eine Anzahl Muster-Lektionen zu geben. Zuletzt erfahren Sie etwas Gewisses schneller als ich, da wir noch nicht den Sommerkours der Post haben und also sehr langsam von der Außenwelt afficirt werden. In jedem Falle empfehle ich die größte Eile. Was den Titel betrifft, so bin ich beinahe gleicher Meinung geworden; haben Sie übrigens gehört, daß bei Verdi Othello vom Volke als il leone di Venezia begrüßt wird? — Schönsten Dank für die zwei guten Briefe; heute bin ich noch krank, darum die Karte. Es bleibt bei Sils. Treulich Ihr N.
Hinter dem Haus Rest einer Lawine. Ich der erste Gast. Reiner Himmel. —
860. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Postkarte)
Sils den 14. Juni 1887.
Werthester Herr Verleger, von nun ab bin ich wieder in Sils-Maria, Oberengadin zu erreichen: hoffentlich haben Sie recht bald mir etwas zuzusenden! Meine letzte Karte, von Chur aus abgesandt, wird, wie ich denke, in Ihre Hände gelangt sein? —
— Ich bin um die Adresse H. von Bülow’s angegangen worden: können Sie mir dazu verhelfen? —
Hochachtungsvoll der Ihrige
Dr F. Nietzsche
861. An Fräulein Simon in Siena (Entwurf)
<Sils-Maria, Mitte Juni 1887>
Mit tiefer Betrübniß las ich eben Ihre Trauerbotschaft, die erst spät und nach mancherlei Umwegen in meine Hände gelangt ist. Nein! Das hatte ich nicht erwartet: es schien mir umgekehrt, daß eine gewisse kritische Zeit der Gesundheit nunmehr überwunden sei und daß der verehrte Mann unter Ihrer unvergleichlichen Pflege noch einem langen, freundlichen wolkenlosen Alter entgegensehn dürfe
Wie oft habe ich diesen Winter an Sie Beide gedacht. Wie oft auch mir Glück dazu gewünscht, daß ein Versuch den ich letzten Herbst machte, Ihren Herrn Vater für Nizza zu überreden durch einen Zufall mißglückt ist und daß ihm auf diese Weise der Schrecken des Erdbebens erspart blieb, der in jener 4. Et<age> meines H<otels> de G<enève> vielleicht größer als irgendwo gewesen ist.
jetzt muß ich dreifach dem damaligen Zufall dankbar sein, ich würde andernfalls glauben müssen, irgendwie an dem so unerwarteten Ausgange mitschuldig zu sein, — — —
Seien Sie überzeugt, verehrtes Fl., daß das Bild Ihres verehrungswürdigen Vaters, wie er jetzt vor mir steht, diese seltene Vereinigung von Güte, Ernst, Gewissenhaftigkeit und Tiefe des Gemüths, niemals aus meinem Gedächtnisse schwinden wird.
862. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Fragment)
<Sils-Maria, Mitte Juni 1887>
[+ + +] <an Lisbeth habe ich von> Chur aus geschrieben, ich denke, daß der Brief zum Geburtstage in ihren Händen sein wird. Es ist ein Jammer, Brief für Brief immer nur Nein schreiben zu müssen: man sollte mir das ersparen und gar nicht mich um Geld angehen.
Meine liebe Mutter, obwohl Du mir erst kürzlich ein schönes Kistchen geschickt hast, so bitte ich Dich heute nochmals um ein Kistchen: nämlich mir wäre Schinken (die feinste Schinkenwurst) sehr nützlich und insgleichen möchte ich der kleinen Adrienne ein hübsches (ansehnlicheres) Geschenk machen. Die Leute hier im Hause sind gut gegen mich, und Dein altes Thier hat wenige Winkel auf der Erde übrig, wo die Leute gegen ihn gut sind. Natürlich rechnest Du mir die Unkosten an, die es macht: mir wäre aber ein Kästchen mit 12 Dutzend Stahlfedern sehr erwünscht, aber genau dieser Adresse entsprechend (man wird sie aus Berlin bestellen müssen —)

S. Roeder Hoflieferant, Berlin
Stahlfeder Nr. 15. Breit
Es sind die einzigen Stahlfedern, mit denen ich schön schreiben kann (so schön wie z. B. dieser Brief geschrieben ist)
Es mag sehr heiß bei Euch sein: auch hier ist es warm, trotzdem daß der Schnee noch tief hinunter geht und hinter meinem Hause der Rest einer Lawine liegt. Mir scheint es aber lästig schwül: so daß ich viel weniger als sonst gehe. Dies hängt aber wohl von meiner Schwäche ab.
Natürlich bin ich ganz allein, bei weitem der erste Gast. —
Der alte General Simon ist gestorben. — Herzlich und dankbar Dein altes
Geschöpf.
863. An Franz Overbeck in Basel
Sils-Maria Oberengadin d. 17. Juni 1887.
Lieber Freund,
bis jetzt habe ich auch hier oben nicht viel Besseres gethan als krank sein. Ich kam mit einem heftigen Anfall meines Kopfleidens an, hatte ein 12 stündiges Erbrechen und befand mich in einem jener Zustände, an die mein kleines Zimmer hierselbst leider zu gut gewöhnt ist. Dieser Zustand wurde von einer gründlichen allgemeinen Erkältung abgelöst, mit Fieber, Schlaf- und Appetitlosigkeit, Schwindel, Dumpfheit, Schwäche: so daß ich weniger gehen kann als ich möchte und sogleich in Schweiß gerathe (trotz der Nähe des Schnees: vor meinem Fenster liegt der Rest einer Lawine) Trotzdem freue ich mich, wieder hier zu sein und überhaupt noch da zu sein. …Diese letzten Jahre auszuhalten — das war vielleicht das Schwerste, was mir überhaupt mein Schicksal bisher zugemuthet hat. Nach einem solchen Anrufe, wie mein Zarathustra es war, aus der innersten Seele heraus, nicht einen Laut von Antwort zu hören, nichts, nichts, immer nur die lautlose, nunmehr vertausendfachte Einsamkeit — das hat etwas über alle Begriffe Furchtbares, daran kann der Stärkste zu Grunde gehn — ach, und ich bin nicht „der Stärkste“! Mir ist seitdem zu Muthe als sei ich tödtlich verwundet, es setzt mich in Erstaunen, daß ich noch lebe. Aber es ist kein Zweifel, ich lebe noch: wer weiß, was ich noch Alles zu erleben habe!
Mit Celerina ist es Nichts, stelle Dir vor, der alte General Simon ist eben gestorben, und der Wirth will die ausgemachten Bedingungen nicht aufrecht erhalten. Der Verlust dieses alten strengen mir sehr zugethanen Militärs ist wirklich für mich ein Verlust: er hat so oft mir, um Kantisch zu reden, die „Kritik der praktischen Vernunft“ dargestellt, daß ich nunmehr, im Ausland, wirklich noch ein gut Theil verlassener und „unpraktischer“ daran bin als vorher. Er starb in Siena, 71 Jahre alt. Bei einer kleinen Verschiebung der Dinge im Jahre 1848 wäre er vielleicht einer der einflußreichsten und höchstgestellten Militärs im damaligen Deutschland geworden; er gehörte zur Familie jener begabten Revolutionärs Simon.
In Chur hörte ich, zu meiner wahren Erbitterung, Schumanns Paradis und Peri. Nein, welche schändliche Verweichlichung des Gefühls! Und was für ein Philister und Biedermann schwimmt mitten in diesem See von Limonade gazeuse! Ich bin davon gelaufen — mit einer wahren Sehnsucht nach den kurzweiligen und lustigen Melodien unseres Venediger maëstro. Beiläufig: ich habe ihn zu einem letzten Versuch, seine Oper anzubringen, überredet — Bülow (der jetzt von dem Hamburger Pollini engagirt ist) soll das Werk aufführen. Wenn B<ülow> es nicht thut, thut’s Niemand nicht! Man muß dazu Muth, selbst Paradoxie im Leibe haben.
Treulich Dein N.
Ich bin hier natürlich „bei weitem der erste“ Gast. Wenn Ende des Monats das Geld flüssig wird, sende es, bitte, recommandirt, wie gewöhnlich, Sils-Maria: das genügt. Herzliche Grüße an Deine liebe Frau.
864. An Heinrich Köselitz in Venedig
Sils-Maria, Mittwoch. <22. Juni 1887>
Lieber Freund,
woran das hängt, — ich weiß es nicht: aber eine förmliche décadence ist bei mir ausgebrochen, meine Gesundheit übt ihre alten miserabelsten Weisen wieder ein, die Ermattung selbst an sogenannten „gesunden“ Tagen ist unheimlich, nachts versinke ich oft in eine Muthlosigkeit und Desperation, die mir Scham einflößt — und selbst das sublim-helle und bewiesene Wetter von Sils hilft mir nicht aus diesem „Verfall“! Dabei kommt nicht ein Laut aus der weiten weiten Welt, der meinem Herzen erquicklich klänge: Ihre „Laute“ abgerechnet, lieber Freund, — alles, was Sie mir geschickt haben — beide Sendungen glücklich angelangt! — klang mir wie Musik: und zuletzt bin ich ein alter Musikant, für den es keinen Trost giebt außer „in Tönen“! Glauben Sie mir, alle die kleinen Winke eines „Glaubensbekenntnisses“, wie sie Ihnen dem Kritiker entschlüpfen, machten mir ein Vergnügen, als ob es Musik aus dem segreto matrimonio selbst sei (— es ist nämlich kein Zweifel, daß ich im alleruntersten Grunde die Musik machen können möchte, die Sie machen — und daß ich meine eigne Musik (Bücher eingerechnet) immer nur gemacht habe faute de mieux…
Das erinnert mich an die eben erfolgte Ankunft der ersten fertigen Exemplare von Morg<enröthe> und Fröhl<iche> Wissenschaft: hoffentlich sind diese Bücher auch auf der Reise zu Ihnen? Und Sie werden sich die Laune nicht durch diese Ankömmlinge verderben lassen, an denen viel zu viel deutsches Ungenügen und trüber Himmel ist, als daß man ihnen nicht lieber aus dem Weg gienge? Himmel, was habe ich Alles ausgestanden, und wie sparsam sind die goldenen Tropfen des Lebens auf mich bisher niedergeträufelt! — Trotzdem: ich glaube, wie Sie, an diese goldenen Tropfen und mache mir nichts aus den Künstlern, die keinen Geschmack davon auf der Zunge haben. —
Ich las über Gozzi: z. B. daß Rich<ard> Wagner einen seiner ersten Texte aus ihm genommen hat („die Frau eine Schlange“); auch daß das „laute Geheimniß“ von Calderon ist und nur bearbeitet von Gozzi. — Der Dr. Widmann des „Bund“ lobt als angenehme Privatwohnung an der Riva die casa Petrarca, auch als Winteraufenthalt: eben da wohnen auch Paul Bourget und Gregorovius. Kennen Sie das Haus? — Ich selber habe mich für diesen Winter nach Rom versprochen: Malvida, die ihre jüngere Schwester verloren hat und nun ihrerseits glaubt an der Reihe zu sein, möchte mich noch einmal bei sich haben. Vielleicht, daß ich meine Hinreise über Venedig und Bologna einrichte… Denken Sie sich, daß in Zürich der treffliche Weber gestorben ist: allgemeine Trauer. —
Ein Wunsch zuletzt, den ich nicht unterdrücken kann: es sollte möglich sein, Ihre Urtheile und Werthschätzungen in Hinsicht auf Musik und Musiker beisammen zu haben, als ein hübsches Bändchen Aphorismen — sie müssen nämlich beieinander stehn und sich gegenseitig tragen, das Einzelne mag dann so kühn und auffallend klingen als es heute klingen muß… Ein solches kleines Buch und „Glaubensbekenntniß“ wäre unschätzbar als Herold Ihrer Musik — Sie sind der Einzige, der mit Wissen den ausgesuchten Geschmack auch vertreten kann, der als Instinkt in dieser Musik regiert. Treulich
Ihr Freund N.
865. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig
Sils-Maria, Oberengadin den 24. Juni 1887
Lieber und werther Herr Fritzsch,
die ersten Exemplare habe ich mit Dank empfangen, die Rechnung gleichfalls. Was letztere betrifft, so hat Herr C. G. Naumann (Universitätsstr.) von mir den Auftrag, die 282 M 26 Pf. ungesäumt Ihnen auszuhändigen (ich habe ihm nur gesagt, daß ich so viel Ihnen schuldig bin; nichts Näheres)
Es thut mir wohl, daß wir so weit sind; und ich bitte Sie den Glauben aufrecht zu erhalten, der auch mein Glaube ist, daß alle diese Bücher, die Sie nunmehr in Ihrem Verlage haben, durch ihre unabhängige und radikale Gesinnung ebensowohl als durch Reichthum und Form der Gedanken es verdienen, fortzuleben. Verzeihung, daß ich selbst das ausspreche! —
Sie haben vielleicht schon Herrn Köselitz mit Exemplaren bedacht? Jedenfalls muß ich darum bitten. Ein Exemplar der fröhl<ichen> Wissenschaft soll Dr. V. Widmann (Redaktion des „Bund“, Bern) erhalten: er hat vorigen Sommer etwas sehr Intelligentes über mein damals erschienenes Jenseits von G<ut> und B<öse> veröffentlicht. Mir selber bitte ich ebenfalls noch einmal Exemplare aus, zum Zweck eines Geburtstages; auch hätte ich gern von der Geburt der Tragoedie ein Exemplar der 2. Auflage (die einiges Verschiedene von der ersten hat z. B. auf der 2.ten Seite des Textes ein Citat aus Wagners Meistersingern (anstatt des Epigramms von Hebbel)
Einige weitere Wünsche für später vorbehalten.
— Nun sind wir noch nicht fertig mit Drucken, lieber Herr Fritzsch, aber dies Mal handelt es sich um Musik. Der beifolgende „Hymnus an das Leben“ (Chorgesang mit Orchester) ist inzwischen reif zur Veröffentlichung geworden, ich hätte ihn gern in Ihrem Verlag. Was die Herstellungskosten betrifft, so werden wir uns verständigen; mir liegt aber an einer vornehmen und würdigen Ausstattung — denn der Hymnus ist bestimmt, von mir „übrig zu bleiben“ und später einmal „zu meinem Gedächtnisse“ gesungen zu werden.
Thun Sie, wenn ich bitten darf, umgehend die Schritte zum Druck des Hymnus: denn ich möchte im Herbst schon ihn in Zürich mir vorführen lassen (durch die Güte Hegar’s, die in solchen Fällen mir bewiesen ist.)
Die Correktur wird auch in diesem Falle, wie es sich von selbst versteht, mein „ständiger“ Correktor und Freund Herr Köselitz mit besorgen.
Herzlich grüßend
der Ihrige
Prof Dr. F. Nietzsche
Nachschrift. Ich sehe eben die Rechnungen durch und entdecke, daß Sie sich um 100 M. zu Ihren Ungunsten verrechnet haben. Somit bin ich Ihnen
282 M. 26 Pf.
schuldig
F. N.
866. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
Sils-Maria, Oberengadin den 24. Juni 1887
Sehr geehrter Herr Verleger,
Ihre Mittheilungen über das Ergebniß der Ostermesse, für die ich Ihnen auf das Verbindlichste zu danken habe, gaben mir reichlich Anlaß zum Nachdenken: ich habe mich ersichtlich, obschon ich in meinen Erwartungen nicht unbescheiden war, etwas verrechnet. Das thut mir umso mehr leid, als ich gerne gerade das Buch möglichst bald neu herauszugeben gedachte, etwa im Umfange verdoppelt. Ich nahm an, daß man besser auf dieses kleine Buch „anbeißen“ werde, und daß es dann leichter sein dürfte, das vervollständigte und stärkere Werk zum Verkauf zu bringen. Aber es ist klar, daß ich den Geschmack der gegenwärtigen Deutschen zu wenig kenne.
Wollen Sie die Gefälligkeit haben, eine kleine Schuld, die ich Herrn E. W. Fritzsch (Leipzig, Königsstraße 6) abzutragen habe, in meinem Namen zu berichtigen? Ich schulde ihm* 282 Mark 26 Pf.; er ist bereits davon benachrichtigt, daß die Zahlung durch Ihre Hand erfolgen wird.
Meine Adresse ist, wie alle Sommer, Sils-Maria, Oberengadin (Schweiz), muthmaßlich bis gegen Ende September.
Hochachtungsvoll und dankbar
Ihr ergebenster
Prof Dr. Nietzsche
867. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Sils-Maria, 25. Juni 1887>
Meine liebe Mutter, herzlichen Dank für Deine Karte; ich nehme an, daß inzwischen ein Brief von mir in Deine Hände gelangt ist? Darin standen ein paar Wünsche; ich möchte gerne auch wieder etwas Honig haben (einen Sommerüberzieher habe ich mir noch aus Nizza mitgenommen) Die Gesundheit, wie es wenigstens scheint, geht wieder vorwärts. Bis jetzt bin ich immer noch der einzige Gast von Sils. —
Meine Druckrechnung bei Fritzsch betrug nur 282 Mark: was mich erfreut hat. In Chur habe ich Kleidung, Wäsche (Hemden, Strümpfe, Stiefeln usw.) revidirt und ausbessern lassen: so daß ich jetzt wieder hübsch in Ordnung bin.
Dein Sohn, mit lauter guten Wünschen für Dich.
Bitte die Adresse von Gustav Krug!
868. An Heinrich Köselitz in Venedig
Sils-Maria d. 27 Juni 1887
Lieber Freund,
eine schöne Überraschung sonder Gleichen! Etwas, das ich Ihnen niemals vergessen will! Eine umanità und delicatezza, Jemandem erwiesen, der neuerdings vielleicht ein wenig zuviel vom Gegentheil heimgesucht worden ist! Haben Sie Dank: ich gehe den einzelnen Stimmen nach und entdecke überall Feinheiten und Einfälle, mit denen Sie mich beschenkt haben! Was für eine schöne Kunst, wo man so viele nuances in einem minimum von Zeit bemerkbar machen kann! —
Aber nein, Ihre „Lust zu Bülow“ muß wieder kommen, lieber Freund, Sie müssen den Würfel noch einmal werfen — es ist etwas an dieser Combination Bülow-Pollini, das dazu drängt, das Schicksal herauszufordern. Mir scheint dieser Zufall ein Wink: ich habe ziemliches Vertrauen zu dem Wagniß, zu dem ich Sie ganz von Herzen überreden möchte. Bülow’s Charakter erlaubt mancherlei, was den Herrn Mottl und Levi nicht „freisteht“ (obschon Hegar mir noch zuletzt sagte, er begriffe Levi nicht, warum er Ihr Werk nicht aufführe „was könne es ihm machen?“… )
Ich selbst möchte in Bezug auf Bülow jetzt nicht „dazwischen treten“: auch aus delicatezza. Bülow wird über Ihr Werk unbefangener, „unvorsichtiger“, Bülowscher urtheilen, wenn er nicht zugleich meinen Namen hört.
— Ich kann das Ereigniß nicht verschweigen, mit dem ich schlecht fertig werde: oder vielmehr, ich bin innewendig immer noch ganz außer mir. Heinrich von Stein ist todt: ganz plötzlich, Herzschlag. Ich habe ihn wirklich geliebt; es schien mir, daß er mir aufgespart sei für ein späteres Alter. Er gehörte zu den ganz wenigen Menschen, an dessen Dasein ich Freude hatte; auch hatte er großes Vertrauen zu mir. Er sagte noch zuletzt, in meiner Gegenwart kämen ihm Gedanken, zu denen er sonst nicht den Muth fände; ich „befreite“ ihn. Und was haben wir hier oben zusammen gelacht! Er stand im Rufe, nicht zu lachen. Sein zweitägiger Besuch hier in Sils, ohne Nebenabsichten von Natur und Schweiz, sondern direkt von Bayreuth hierher kommend und direkt von mir zu seinem Vater nach Halle zurückreisend — ist eine der seltsamsten und feinsten Auszeichnungen, die ich erfahren habe. Es machte hier Eindruck; er sagte im Hôtel: „ich komme nicht wegen des Engadin“. — Sein letztes Werk, eine Geschichte der Anfänge der Aesthetik (Descartes und so weiter bis Baumgarten, Kant: sehr gelehrt) ist mir gerühmt worden. — Es war bei weitem die schönste species Mensch unter den Wagnerianern: wenigstens soweit ich sie kennen gelernt habe. — Diese Sache thut mir so weh, daß ich immer wieder nicht daran glaube. Nein, was ich mich einsam fühle! Zuletzt stirbt mir auch die gute Malvida weg — wie Viele bleiben dann übrig?? Ich fürchte mich, zu zählen. —
Bleiben Sie mir gut und treu, mein lieber Freund Köselitz! Dankbar
der Ihrige FN.
869. An Josef Viktor Widmann in Bern
Sils-Maria, Ober-Engadin, den 28. Juni 1887.
Hochgeehrter Herr Doktor,
vorigen Sommer haben Sie mich in keinen kleinen Schrecken versetzt: ich fand eines Tages hierselbst im Café die vortrefflichen Einwohner von Sils über ihren regelmäßigen Sommer-Gast stutzig und nachdenklich geworden, — sie hatten allesammt den Bund gelesen. „Wie! dieser anscheinend so harmlose Einsiedler und Höhlenbär ist also im Grunde etwas ganz Gefährliches?“ — Das las ich in Aller Augen. Ich selbst, nachdem auch ich den Bund gelesen, hatte freilich einen andren Eindruck: nämlich als ob ich über mich etwas sehr Liebenswürdiges und Wohlwollendes gelesen hätte. Ein paar Aeußerungen, die sich im Munde des Redacteurs eines demokratischen Blattes ganz von selbst verstanden, habe ich vielleicht überhört oder vergessen — in der Hauptsache muß ich Ihnen dankbar bezeugen, nach Jahresfrist nunmehr, daß Ihre Besprechung jedenfalls bei Weitem die ‚intelligenteste‘ Besprechung gewesen ist, die dieses unsympathische Buch bisher erfahren hat. Die Dichter sind nun einmal ‚divinatorische‘ Wesen: ein solches Räthselbuch wird zuletzt immer noch eher von einem Dichter errathen und ‚aufgeknackt‘, als von einem sogenannten Philosophen und ‚Fachmann‘.
Zum Danke dafür erlaube ich mir, Ihnen ein älteres Buch von mir zu überreichen, das eben jetzt neu erscheint, mehrfach verändert und verbessert (oder verbösert?) — in der Annahme, daß es Ihnen unbekannt geblieben ist. Vielleicht erscheint es Ihrem Geschmacke im Ganzen annehmbarer und erquicklicher, als jenes ‚Jenseitige‘ vom letzten Jahre. Doch mag es ebenfalls ‚ein gefährliches Buch‘ sein: wenigstens hat mir gerade das seiner Zeit Gottfried Keller in artigster Weise brieflich zu Gemüthe geführt.
Mit hochachtungsvollem Gruße
Ihr ergebenster
Dr. F. Nietzsche,
weiland Professor in Basel.
870. An Franz Overbeck in Basel
Sils-Maria den 30. Juni 1887.
Lieber Freund,
Deine Nachricht vom Tode Steins (die mir inzwischen auch von Seiten des Vaters zugegangen ist) hat mich auf das Allerschmerzlichste berührt: oder vielmehr, ich bin immer noch ganz außer mir darüber. Ich hatte ihn so lieb, er gehörte zu den wenigen Menschen, deren Dasein an sich mir Freude machte. Auch zweifelte ich nicht daran, daß er mir gleichsam für später aufgespart sei: denn solchen Menschen, die, reich und tief, nothwendiger Weise eine langsame Entwicklung haben, muß man viel Zeit geben. Und man hat sie ihm nicht gegeben! Warum bin ich nicht an seiner Stelle abgerufen worden — es hätte mehr Sinn gehabt. Aber Alles ist so unsinnig: und diese noble Creatur, die schönste Species Mensch, deren ich in Folge meiner Wagnerischen Beziehungen überhaupt ansichtig geworden bin, ist nicht mehr! —
Für Deinen Brief meinen angelegentlichen Dank, lieber Freund, um so mehr, als er einem sehr unerquicklichen Zustande zum Trotz entstanden ist. Ich nehme an, daß ungefähr zu gleicher Zeit auch meine „Morgenröthe“ in Deine Hände gelangt ist, deren nachdenkliche, aber vielleicht nicht unbedenkliche Vorrede sich Deiner Aufmerksamkeit empfehlen mag. Zuletzt gehört das Alles einer Generation zu, die wir Beide wahrscheinlich nicht mehr erleben werden: dieselbe, in welcher die großen Probleme, an denen ich leide, so gewiß ich auch durch sie und um ihretwillen noch lebe, leibhaft werden müssen und in That und Wille übergehn müssen. In kurzer Zeit darf ich Dir auch die neue „fröhliche Wissenschaft“ schicken. —
Sobald ich mich etwas erholt habe, sollen ein paar Zeilen an Frau Rothpletz nach München abgeschickt werden. Meine Gesundheit kommt nur langsam von der Stelle: und in der Hauptsache stockt sie: es giebt irgend eine tiefe physiologische Hemmung, deren Ursache und Sitz ich nicht nachzuweisen vermag, Dank welcher die Durchschnittsempfindung („das Gemeingefühl“, wie die Physiologen sagen) beständig unter dem Nullpunkte ist; — ohne alle Übertreibung, ich habe jetzt ein Jahr lang nicht Einen Tag gehabt, wo ich an Geist und Leib frisch und wohlgemuth gewesen wäre. Diese beständige Depression (Tags und auch Nachts) ist schlimmer als jene heftigen und extrem schmerzhaften Crisen, denen ich so oft unterworfen bin. — Carlsbad hat nichts genützt; überhaupt ist der Magen bei mir immer nur ganz indirekt betheiligt und niemals die causa prima.
Zuletzt eine Bitte an Deine liebe Frau. Seit drei Monaten fehlt mir ein Thee, der mir zuträglich ist. Der einzige Thee, zu dem ich Vertrauen habe und der in meinem Falle bewiesen ist, ist der englische Thee Horniman, den man auch in Basel haben kann (— ich kaufte ihn seiner Zeit am Markte) Es giebt Blechbüchsen von ein Kilo Inhalt, zum Preise von 12 frs: darf ich um die Zusendung einer solchen Büchse ersuchen? Die Verpackung übernimmt unzweifelhaft das Geschäft selbst. — Dieser Thee ist nichts besonders Feines, aber er bleibt sich absolut gleich (seit 40 Jahren) und ist folglich nicht, wie alle Thees, die man sonst kauft, eine Sache des Versuchs.
Mit den herzlichsten Wünschen für Deine Besserung bin und bleibe ich treulich
Dein Nietzsche
871. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig
Sils-Maria, Oberengadin den 2. Juli 1887.
Werthester Herr Verleger,
hier sind meine Wünsche in Betreff von noch zu vertheilenden Exemplaren.
I
Für mich selbst bitte ich um je ein Exemplar von Geburt der Tragödie (2. Aufl.)
Morgenröthe
fröhliche Wissenschaft
II
Für Herrn Professor Dr. Overbeck in Basel
Menschl. Allzumenschl. in 2 Bänden.
III
Für Mad. Malvida de Meysenbug
(Versailles, villa Amiel)
Morgenröthe
fröhliche Wissenschaft
IV
Für Monsieur H. Taine
Menthon, Lac d’Annecy (Haute Savoie)
Morgenröthe
fröhliche Wissenschaft
Haben Sie die Gefälligkeit, die Versendung umgehend anzuordnen: ich möchte, daß meine zugehörigen Briefe gleichzeitig mit den Büchern anlangten.
Was den Hymnus anlangt, so erwarte ich die Stichproben. Vielleicht erinnern Sie sich, daß Sie diesen Hymnus schon einmal gesehn haben, in seiner ersten Ausarbeitung: nämlich im Herbst 1882, bei einem Besuche, den Sie mir in der Waldstraße machten. Inzwischen hat er sich aber wesentlich verbessert; ich nehme an, daß er „reif und süß“ geworden ist und ohne alle Bedenken jetzt der Öffentlichkeit übergeben werden darf. Ich habe in dieser Beziehung Musiker, deren Urtheil ich hoch schätze, um Rath gefragt.
Ihr ergebenster N.
872. An Hippolyte Taine in Genf
Sils-Maria, Oberengadin, den 4. Juli 1887.
Hochverehrter Herr!
es gäbe so viele Gründe für mich, Ihnen Dank zu sagen: für die nachsichtige Güte Ihres Briefes, in dem die Worte über Jakob Burckhardt mir besonders erquicklich zu Ohren klangen; für Ihre unvergleichlich starke und einfache Charakteristik Napoleon’s in der Revue, deren ich in diesem Mai beinahe zufällig habhaft wurde (ich war zuletzt nicht übel auf sie vorbereitet durch ein neuerdings erschienenes Buch Ms. Barbey d’Aurevilly’s, dessen Schlußkapitel — über neuere Napoleon-Litteratur — wie ein langer Schrei des Verlangens klang — wonach doch? Unzweifelhaft gerade nach einer solchen Erklärung und Auflösung jenes ungeheuren Problems von Unmensch und Uebermensch, wie Sie sie uns gegeben haben). Ich will auch das nicht vergessen, daß ich mich freute, Ihrem Namen in der Widmung des letzten Romans von Mr. Paul Bourget zu begegnen: obwohl ich das Buch nicht mag — es wird Mr. B<ourget> niemals möglich sein, ein wirkliches physiologisches Loch in der Brust eines Mitmenschen glaubwürdig zu machen (dergleichen ist für ihn bloß quelque chose arbitraire, wovon ihn sein delikater Geschmack hoffentlich fürderhin fernhalten wird. Aber es scheint, daß der Geist Dostoiewskys diesen Pariser Romanciers keine Ruhe läßt?) Und nun seien Sie so geduldig, verehrter Herr, und lassen Sie sich die Ueberreichung von zweien meiner Bücher gefallen, die eben in neuen Auflagen erschienen sind. Ich bin ein Einsiedler, Sie werden es wissen, und bekümmere mich nicht viel um Leser und um Gelesenwerden, doch hat es mir seit meinen zwanziger Jahren (ich bin jetzt 43) niemals an einzelnen ausgezeichneten und mir sehr zugethanen Lesern gefehlt (es waren immer alte Männer), darunter zum Beispiel Richard Wagner, der alte Hegelianer Bruno Bauer, mein verehrter College Jacob Burckhardt und jener Schweizer Dichter, den ich für den einzigen lebenden deutschen Dichter halte, Gottfried Keller. Ich hätte eine große Freude daran, wenn ich auch den von mir am meisten verehrten Franzosen unter meinen Lesern hätte.
Diese zwei Bücher sind mir lieb. Das erste, die Morgenröthe, habe ich in Genua geschrieben, in Zeiten schwersten und schmerzhaftesten Siechtums, von den Aerzten aufgegeben, Angesichts des Todes und inmitten einer unglaublichen Entbehrung und Vereinsamung: aber ich wollte es damals nicht anders und war trotzdem mit mir in Frieden und Gewißheit. Das andre, die fröhliche Wissenschaft, verdanke ich den ersten Sonnenblicken der wiederkehrenden Gesundheit: es entstand ein Jahr später (1882), ebenfalls in Genua, in ein paar sublimklaren und sonnigen Januarwochen. Die Probleme, mit denen sich beide Bücher beschäftigen, machen einsam. Darf ich Sie bitten, dieselben aus meinen Händen mit Wohlwollen in Empfang zu nehmen?
Ich bin und verbleibe mit dem Ausdruck meiner tiefen und persönlichen Hochschätzung
Ihr ergebenster
Friedrich Nietzsche.
873. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Sils-Maria, 6. Juli 1887>
Lieber Freund, wegen der Bemühung, die der Thee macht, bitte ich viele Male um Entschuldigung. Inzwischen ist mir zufällig eine Luzerner Adresse des Thee Hornimann zu Gesicht gekommen: ich will noch ein paar Tage warten und dann mich dorthin wenden. Gesundheit fortschreitend, wie es scheint, trotz zweier neuer Anfälle. — Eben erhielt ich Mittheilungen und Anfragen aus Weimar, seitens des Archivrath Burckart, aus denen sich ergiebt, daß sich komischer Weise die Goetheforschung auch in meine Familiengeschichte mengt: sie hat nämlich herausgebracht, daß das dem jungen Dichter befreundete „Muthgen“ (c. 1778) niemand anders ist als meine Großmutter väterlicher Seits, Erdmuthe Dorothea Krause, Schwester des Königsberger Prof. theol. Krause, der der Nachfolger Herders wurde als Generalsuperintendent von Weimar, und nachherige Gattin des Superintendenten Dr. Ludwig Nietzsche in Eilenburg (meines Großvaters). Mit dankbarem Gruß an Dich und Deine liebe Frau
Dein N.
874. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Postkarte)
<Sils-Maria 10. Juli 1887.>
Mit der übersandten Probeplatte (in Hinsicht auf Format usw.) ganz einverstanden. Bitte, die Fortsetzung des Stichs anzuordnen; auch mir eine (oder einige) Papierproben zuzustellen. —
In Betreff von Fachschriften und sonstigen Adressen muß ich erst mit mir (und mit Freunden) zu Rathe gehn. Das Werthvollste würde jedenfalls <sein>, einzelne Schriftsteller ausfindig zu machen, die sich in Form längerer Essay’s über diese ganze Abfolge von Schriften verbreiteten. Wäre ich nur nicht zu sehr „außerhalb“, in jedem Sinne! —
Mit ergebenstem Gruße Ihr
Nietzsche
875. An C. A. Hugo Burkhardt in Weimar (Entwurf)
<Sils-Maria, Mitte Juli 1887>
Noch eine Bemerkung zu der genealogischen Notiz auf meiner letzten Karte. Mein Vater wurde am 10. Okt. des Schlacht-Jahrs 1813 geboren, in Eilenburg: die Niederkunft erfolgte, nachdem am Abende vorher Napoleon mit seinem Stabe in Eilenburg eingerückt war. — Meine Großmutter war eine große Verehrerin Napoleons, trotz der schlimmen Erinnerungen, die sich für sie an die Besetzung Weimars durch die Franzosen knüpften. — Daß sie auch eine große Verehrerin Goethes war, brauche ich nicht erst zu sagen „er war nicht nur ein großer Geist, sondern auch der liebenswürdigste M<ensch>“, habe ich als kleiner Knabe sie oftmals rufen hören. „Muthgen“ gehörte zu den gern gesehensten Gästen im Garten G<oethe>’s, wohin sie mit der ihr befreundeten Geh<eimen> Räthin Schmidt ging: 1811 trat sie eine Erbschaft dieser G. Schm an (Notiz Burkarts)
Eine meiner alten Tanten hat kurz vor ihrem Tode den Koffer, in dem sich auch die Briefe aus der Weimarer Vergangenheit unsrer Familie befanden, verbrannt, aus einem Sinn für Delikatesse und Ordnung, der unserm Geschlechte (nicht mir) extrem scheinen mag.
876. An Franz Overbeck in Basel
Sils-Maria, Sonntag <17. Juli 1887>
Lieber Freund,
eine Bitte an Dich als „Kirchenvater“ — mir fehlt dringlich eine Stelle des Tertullian, in der diese schöne Seele die Freuden voraus schildert, welche er im „Jenseits“ genießen werde beim Anblick der Martern seiner Feinde und Antichristlich-Gesinnten: die Martern werden sehr ironisch und bösartig spezialisirt in Anspielung auf die ehemaligen Berufsarten dieser Feinde. Ist es Dir möglich, Dich dieser Stelle zu erinnern? und sie mir eventuell zu senden? (originaliter oder auch übersetzt: ich habe sie deutsch nöthig)
Mit bestem Danke für Deine letzten Karten, in denen mich das Wort „Beschämung“ ebenso gerührt hat als Dein Interesse für jene Vorreden erfreut. Es bleibt Dir nicht erspart, in den nächsten Tagen die fröhl<iche> Wissenschaft zu erhalten: fasse Dich in Gottergebenheit, die Gefahr geht damit zu Ende — und vielleicht findest Du auf einem kühlen Berge ein Stündchen und Plätzchen, um Dir diese Art „Wissenschaft“ zu Gemüthe zu führen.
Vorgestern habe ich meinen englisch-russischen Damen einen Besuch gemacht, sie sind dies Jahr in Maloja — wir waren heiter und herzlich zusammen; das Hôtel übrigens in einem angenehmen Luxus. Auch hat man mir ein kleines Concert „servirt“ — ein sehr begabter vornehmer Holländer spielte (Grieg, Jensen, Parsifal)
Gestern habe ich durch Frau Werthemann an die „Jungfere“ Marie Walter einen Auftrag betreffs westphäl<ischen> Schinkens nach Basel abgehn lassen.
Nota bene zu meiner letzten Karte. Ich habe dem braven Archivrath und Goetheforscher einen schönen Schreck gemacht, indem ich ihm (durch meine Mutter) vorstellen ließ, es sei unwahrscheinlich, daß 1778 „Muthgen“ mit dem jungen Dichter befreundet gewesen sei — gemäß dem Umstande, daß „Muthgen“ im December dieses Jahres das Licht der Welt erblickt habe. Der Unglückliche hatte seine „Entdeckung“ schon drucken lassen! — nun bleibt noch die Möglichkeit, daß das Muthgen des Goetheschen Tagebuchs die Mutter meiner Großmutter ist. Der Zusammenhang mit „Goethens“ steht übrigens unter allen Umständen fest; auch ist die Berufung des Prof. Krause als Nachfolgers von Herder das Werk Goethe’s.
Mit herzlichen Grüßen an Dich und Deine liebe Frau
Dein Nietzsche.
877. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
Sils-Maria, Oberengadin, Schweiz, Sonntag <17. Juli 1887>
Hier, geehrtester Herr Verleger, ist eine kleine Streitschrift die in direktem Zusammenhange mit dem voriges Jahr erschienenen „Jenseits“ steht: schon dem Titel nach. Vielleicht bringt sie das zu wege, die Aufmerksamkeit auf jenes Buch zu lenken: obschon sie gewiß nicht in dieser Absicht entstanden ist. — Meine Bitte ist, den Druck derselben umgehend zu beginnen; Ausstattung, Typen, Papier, Zahl der Exemplare — Alles exakt wie bei „Jenseits“: so daß diese Abhandlung wirklich als Fortsetzung von jenem „Jenseits“ auch äußerlich sich ausnimmt. Auch der Correkturengang der gleiche: ein Exemplar mit dem Manuscript an Herrn Köselitz (Venezia, San Canciano calle nuova 5256) und gleichzeitig ein Exemplar an mich hierher. — Meinen besten Dank für die Abzahlung der Gelder an Herrn E. Fritzsch, der mir bereits seit längerer Zeit den Empfang gemeldet hat.
Mit dem Wunsche, in einem gewissen Sinne auch einem Ihrer Vorschläge in Betreff Verbreitung meiner Litteratur mit dieser kleinen Schrift entsprochen zu haben
bin ich Ihr ergebenster
Prof Dr Nietzsche
878. An Heinrich Köselitz in Venedig
Sils-Maria, Montag <18. Juli 1887>
Lieber Freund,
eine sofortige Antwort auf Ihren Brief, der eben zur Thür hereinspaziert ist, bei großem Regenwetter, welches mit seinem sanften Dunkel mir gar nicht unerquicklich scheint. Vielleicht haben Sie es auch — und sind damit den Alpdruck ein wenig los, den der Sommer auf die Seele legt. Sie haben Recht, ich sollte recht erkenntlich für meine kühle Sommer-Residenz sein (dies Jahr habe ich selbst hier oben gelegentlich an Schwüle gelitten, — was müssen Sie Ärmster ausstehen!) Sonst glauben Sie mir, mit einem gesunden Leibe kommt man über Alles hinweg, und mit einem kranken ist Nichts gut, und die besten Geschenke des Himmels werden kalt und traurig bei Seite gelegt. Eine physiologische Hemmung, die mir, ohne jede Übertreibung, seit Jahresfrist nicht Einen guten Tag gegeben hat und sich in Form von Allerlei Kleinmuth, Verwundbarkeit, Mißtrauen, Arbeitsunfähigkeit wie eine schwere seelische Erkrankung ausnimmt, so bestimmt ich auch die Physis als die Schuldige weiß und anklage — das ist eine Misere, mit der ein guter Gott Ihr Leben, lieber Freund, verschont hat. Zuletzt will ich billig sein und eine wesentliche Veränderung seit 8 Tagen ungefähr zugestehn — doch ist mein Mißtrauen so tief und die ganz schlimmen Anfalls-Tage immer noch so häufig, daß es mich dünkt, es könne morgen wieder ganz beim Alten sein. —
Diese besseren Tage habe ich sofort vehement ausgenutzt und eine kleine Streitschrift abgefaßt, die das Problem meines letzten Buchs, wie mir scheint, recht vor die Augen bringt: — alle Welt hat sich beklagt, daß man „mich nicht verstehe“, und die verkauften ca. 100 Exemplare gaben mir’s recht handgreiflich zu verstehn, daß man mich nicht verstehe. Denken Sie, ich habe ca. 500 Thaler Druckkosten in den letzten 3 Jahren gehabt — kein Honorar, wie sich von selbst versteht — und dies in meinem 43ten Jahre, nachdem ich 15 Bücher herausgegeben habe! Mehr noch: nach genauer Revue aller überhaupt in Betracht kommenden Verleger und vielen äußerst peinlichen Verhandlungen ergiebt sich als strenges Faktum, daß kein deutscher Verleger mich will (selbst wenn ich kein Honorar beanspruche) — Vielleicht bringt es diese kleine Streitschrift zu Wege, daß man ein paar Exemplare meiner älteren Schriften kauft (aufrichtig, es thut mir immer weh, wenn ich an den armen Fritzsch denke, auf dem nun die ganze Last hockt). Mags also meinen Verlegern zu Gute kommen: ich für meine allereigenste Person weiß nur zu genau, daß es mir nicht zu Gute kommt, wenn man anfängt, mich zu verstehen…
Overbeck schrieb, daß er die Vorreden hintereinander wie „die spannendste Odyssee im Reich des Gedankens“ gelesen habe. — Marie Rothpletz verheirathet sich mit einem Major a. D. von der Marck (dessen Schwester mir von Nizza her als sehr gute Tischnachbarin im Gedächtniß ist)
Komisches Hin-und-Her, Briefe und Anfragen zwischen Weimar und den dortigen Goetheforschern und unsrer Familie. Man hat nämlich „entdeckt“, wer das „Muthgen“ (eines der Räthsel des Goetheschen Tagebuchs) ist: der Archivrath Burkart hat es sogar schon drucken lassen — nämlich meine Großmutter. Nun habe ich diesen Herren den Streich gespielt, etwas dagegen zu stellen: „es schiene mir unwahrscheinlich, daß ‚Muthgen‘ (Erdmuthe Krause) 1778 ,dem jungen Dichter befreundet gewesen sei“, weil —… Muthgen erst im December des genannten Jahres das Licht der Welt erblickt habe. Große Bestürzung. Nun vermuthet man, es müsse die Mutter von „Muthgen“ sein. Die Beziehungen zu „Goethens“ stehn übrigens außer allem Zweifel. Daß der Bruder Muthgens, der Prof. theol. Krause in Königsberg nach Weimar berufen wurde als Nachfolger Herders (als Generalsuperintendent des Landes) war Goethes Werk.
Lieber Freund, es wird nicht nur gedruckt, bei Naumann, es wird auch gestochen, bei Fritzsch: fühlen Sie den Stich?… Zum Mindesten werden Sie ihn bald sehn.
Aber seien Sie doch so engelhaft (wie die Dönhoff zu sagen pflegte) und schicken Sie, was zu schicken ist, an Bülow… alter Freund — bitte —
(curiosum anbei: Dr. Widmann vom „Bund“ hat mir geschrieben, enthusiastisch; auch von Brahms, mit dem er zusammen ist (letzterer „lebhaft interessirt von Jenseits“, jetzt im Begriff sich fröhl<iche> Wissenschaft zu Gemüthe zu führen. — Sollte ich in dieser Richtung Etwas für matrim<onio> segreto thun können??? Fragezeichen.
Treulich Ihr
N.
879. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)
<Sils-Maria,> Montag, <18. Juli 1887>
Herrn C. G. Naumann.
Bitte, geehrtester Herr Verleger, ordnen Sie an, daß man nicht mehr als 30 Zeilen auf die Seite setzt — noch lieber wäre mir 29. Brief und Manuscript wird hoffentlich in Ihren werthen Händen sein? Nochmals darum bittend, daß man ungesäumt an den Druck geht
hochachtungsvoll der
Ihrige
Dr Nietzsche.
880. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Telegramm)
Sils Engadin 20. Juli 1887
Bitte Manuscript wieder zurück Zwischenfall
Nietzsche
881. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Sils-Maria, 24. Juli 1887>
Lieber Freund, ich halte es für meine Schuldigkeit, Sie sofort von dem zu benachrichtigen, was ich eben höre: daß in Weimar Herr v. Loën gestorben ist, und daß an seine Stelle der bisherige Intendant in Hannover, Hr. Bronsart von Schellendorff tritt. Gesetzt, daß Sie in Betreff Hamburgs noch nicht schlüssig geworden sind, so wäre der Fall Weimar und Lassen nicht zu unterschätzen. Der neue Intendant genießt eines sehr guten Rufs. — Eine Andeutung meines letzten Briefs, daß bei Naumann gedruckt werde, war verfrüht; ich habe telegraphisch mir das Manuscript zurück bestellt, nicht aus Unzufriedenheit damit, sondern weil inzwischen das Begonnene weiter gewachsen ist und sobald auch noch kein Ende absehn läßt. Titel und Thema: „zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift“.
In Treue Ihr Freund
N.
Adr: Dem General-Intendanten des Großherzogl<ichen> Weimar<ischen> Hoftheaters Baron Bronsart von Schellendorff.
Heute bei Rothpletzens Hochzeit: Maria R<othpletz> und der Hauptmann a. D. von der Marck. (Oder Major)
882. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
Sils-Maria, Oberengadin den 29. Juli 1887.
Hochgeehrter Herr Verleger,
nunmehr ist Alles in Ordnung, der „Zwischenfall“ beseitigt — der Druck kann sofort beginnen (oder vielmehr: ich bitte darum, daß er sofort beginnt und mit großer Lebendigkeit durchgeführt wird, damit die ganze Sache vor meiner Abreise von hier erledigt ist: 6—7 Bogen)
In Betreff der Ausstattung, Papier, Lettern, Zahl der Zeilen usw. bleibt es bei meiner anfänglichen Bestimmung: absolute Gleichheit mit „Jens<eits> von G<ut> und Böse.“ Die beiden Bücher müssen zum Verwechseln ähnlich aussehn. (Also auch die Vorrede nach dem Muster von Jens<eits> von G<ut> und B<öse>, ganz wie dort die Vorrede arrangirt ist) Auch in Betreff des Correkturengangs bleibt es bei dem zuletzt Angeordneten. Die Adresse des Herrn Köselitz in Venedig haben Sie.
Mit dem Wunsche, daß Alles wohl gerathen möge,
bin ich, der ich war,
Ihr ergebenster
Dr. Nietzsche
— Was müssen Sie von der Hitze leiden! Hier selbst, in einer Höhe von fast 6000 Fuß, ist es schwül! — —
883. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
(Sonnabend) <Sils-Maria, 30. Juli 1887>
Lieber Freund, was für ein Sommer! Ich denke Sie mir im Zimmer sitzen, mehr Omelette als Mensch; auch soll der segretario des allerschönsten matrimonio nicht mehr belästigt werden, wie es durch meine letzten Briefe und Karten zu meiner nachträglichen Unzufriedenheit geschehn ist: zum Mindesten nicht, so lange die große Hitze währt, wo Alles, was von außen an Einen kommt, wie ein Insekt wehe thut. Seien Sie nicht böse, lieber Freund! — Ich erwäge, daß vom Standpunkte des Glücks das dolce far niente nichts Gutes an sich hat bei 25 Gr. Cels. sondern erst von 15 an, abwärts; und wieder, daß von 8 C. an das dolce darin besteht, sehr viel zu thun. In summa; man muß seine Sommer im Gebirge zubringen (— Pieve di Cadore?) — Mein Manuscript ist fertig, sogar in der Abschrift. Es wird doch noch gedruckt.
Mit dem allerherzlichsten Gruße
Ihr Freund N.
884. An Malwida von Meysenbug in Rom
Sils-Maria, Oberengadin den 30. Juli 1887.
Endlich, meine hochverehrte Freundin, ist mir Ihr gütiges Schreiben zugekommen, nachdem dasselbe eine wahre Odyssee durchgemacht hatte, hin und her durch Schweiz und Deutschland: — es zeigte die Spuren davon, war auf gemacht, hatte alle möglichen Postvermerke am Leibe und sah wie ein altes Schiff aus, dem Etwas zugestoßen ist. Verzeihung! denn zuletzt bin ich die Ursache von dem Allen, mit der Adresse, die ich Ihnen in meinem Churer Brief gab: aber denken Sie, inzwischen ist der Mann, dem zu Liebe ich einen Versuch mit Celerina machen wollte, ein alter preußischer General, gestorben — und somit bin ich wieder in meinem alten Einsiedler-Nest.
Ich nannte einen Todesfall, der mich betrübte; es gab einen zweiten, der mir noch viel mehr zugesetzt hat und den ich kurz darauf erfuhr — Sie werden wissen, wen ich meine: den Tod Heinrich von Stein’s. Ich hatte eigentlich nie daran gezweifelt, daß diese noble Creatur mir gewissermaßen aufgespart sei, für ein späteres Leben, dann wenn diese reiche und tief angelegte Natur wirklich sich entfaltet, wirklich ans Licht gekommen sein würde: denn er war noch erschrecklich jung, weit unter seinem Alter, wie es gerade recht ist bei Bäumen, die auf eine mächtige und lange Bestimmung angelegt sind. Nun bricht der Blitz einen solchen jungen Baum zusammen: das gehört zum Schmerzhaftesten, eine Zeitlang bin ich es keine Minute losgeworden. — —
Der Kampf mit meiner schlechten Gesundheit hat mir auch hier oben, in der bewiesenen Luft des Oberengadin, noch einige Wochen gekostet, ehe ich den Schaden, den mir der Frühling und lauter mir unmögliche Climata und Orte angethan hatten, zum Ausgleich brachte. Ich habe eine so große Aufgabe und Bestimmung auf mir, daß mich alle solche Zeitverluste blutig reizen und erbittern (leider sind es immer auch tiefe Depressions-Zeiten, wo man nicht mehr den Muth zu sich selber aufrecht erhalten kann — die schlimmste Einbuße, die es auf Erden giebt.)
Daß dieser Muth in der Hauptsache aber bei mir Stand hält, trotz jener physiologisch-begründeten Intermittenzen, haben Ihnen vielleicht die neuen Ausgaben von „Morgenröthe“ und „fröhl<icher> Wissenschaft“ bewiesen, welche ich mir erlaubte, an Ihre Versailler Adresse zu schicken. Ich empfehle insbesondere, was neu daran ist: die zwei Vorreden, dann das fünfte Buch der fröhl<ichen> Wissenschaft nebst dessen Anhange: „Lieder des Prinzen Vogelfrei.“ (Die neuen Auflagen der „Geburt der Tragödie“ und von „Menschl<iches>, Allzumenschliches“ (2 Bände) enthalten Wesentliches über meine Beziehung zu Wagner: leider bin ich außer Stande, diese Sachen Ihnen zu senden)
Mit dem schwachsinnigen und eitlen Lanzky, verehrte Freundin, dürfen Sie mich nicht verwechseln: das ist ein Litterat zehnten Ranges, dem ich einen Fußtritt gegeben habe, als ich merkte, welchen Mißbrauch er mit mir und meiner Litteratur zu treiben anfieng. Halten Sie denn eine Seite von seinem süßlichen Gewäsch aus? Es versteht sich von selbst, daß seine „Abendröthe“, von der Sie schreiben, mir absolut unbekannt ist: dergleichen darf bei mir nicht über die Schwelle, ebenso wenig wie Hr. L<anzky> selbst. Das ist ein anscheinend ziemlich gutmüthiger und braver Mensch, aber innerlich corrumpirt: wenn solche mißrathne Creaturen gar noch sich den „Mantel der Weisheit“ umthun, so muß man sie behandeln wie die unverschämtesten Lügner: und das sind sie in der That. — —
Meine ehrerbietigsten Complimente an Herrn und Frau Monod, auch an Frl. Natalie Herzen, und den Ausdruck alter Liebe und Treue für Sie!
Nietzsche.
Fräulein v. Salis ist hier, Doktorin nunmehr: ihre Abhandlung über Agnes von Poitou soll Herrn Prof. Monod zugehn. — Ich bin inzwischen in Beziehung zu Ms. Taine gekommen, er schrieb dieser Tage an mich, sehr liebenswürdig.
885. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Sils-Maria, Oberengadin d. 3. August 1887.
Meine liebe Mutter,
es kam mir so vor, als ob alle Welt weit und breit schwiege; kein Brief-Schmetterling verfliegt sich mehr auf meine Höhe — offenbar ist es in der Tiefe sehr, sehr heiß. Schließlich fällt mir aber ein, daß ich auch eine lange Zeit still geschwiegen habe — und so soll denn gleich ein Briefchen davon flattern. Ich war sehr arbeitssam, den ganzen Monat Juli: es scheint, daß mit der Gesundheit auch meine geistigen Kräfte wieder zugenommen haben. Auch habe ich einige Verbesserungen in der Einrichtung meiner Lebensweise durchgeführt, die entschieden sehr günstig gewirkt haben. Das Eine ist, daß ich noch kein Mal die table d’hôte besucht habe, deren Kost manche unberechenbare Gefahren in sich hat: dazu ist der Saal heiß, überfüllt (c. 100 Personen, viel Kinder) lärmend, genug, nichts für Dein zartes Thier, das zuletzt auch ein wenig zu stolz ist, um sich ohne Gewissensbisse en masse mit abfüttern zu lassen. So esse ich denn allein, eine halbe Stunde vorher: Tag für Tag ein schönes rothes Beefsteak mit Spinat und eine große Omelette (mit Apfel-Marmelade darin.) Dafür zahle ich ebenso viel als für die table d’hôte. Abends nichts als einige Scheibchen Schinken, 2 Eidotter und 2 Semmeln. Das wesentlichste ist aber die Neuerung früh morgens. Ich vertrug eigentlich seit vielen Monaten den Thee nicht mehr, wenn ich aufstand, sondern war hinterdrein müde und nervös, mit den deutlichen Anzeichen verdorbnen Magens. Etwa alle vierzehn Tage höchstens gab es einen guten Morgen, wo ich arbeiten konnte. Jetzt habe ich mir etwas Neues erfunden, das sich 5 Wochen schon bewährt hat: um 5 Uhr nehme ich eine Tasse bittren Cacao (van Houten), die ich selbst aufgieße, dann lege ich mich wieder zu Bett, schlafe mitunter wieder ein, stehe aber Punkt sechs auf und trinke, wenn ich mich angezogen habe, noch eine große Tasse Thee. Dann geht es an die Arbeit — und es geht. Das ganze System ist viel beruhigter und mehr im Gleichgewicht; auch ist meine Laune besser. Ich habe im Monat Juli nur 3 große Anfälle meines Kopfleidens mit tagelangem Erbrechen gehabt: was gegen die Monate vorher ein wirklicher Fortschritt ist. Meine russisch-englische Gesellschaft ist dies Jahr nicht in Sils, sondern in dem prachtvollen Maloja-Hôtel, wo ich einen Tag mit ihnen zugebracht habe. Hier in Sils ist Frl. von Salis mit einer Freundin, ich mache so gut es gehn will, die Unterhaltung der beiden Damen. Dann ist Basel dies Jahr sehr stark in Sils vertreten (37 Personen), darunter viele alte Bekannte zb. Sally Vischer (Frau Allioth) mit 4 Kindern nunmehro. In München hat sich Frl. Maria Rothpletz die letzte Woche mit dem Bruder einer Dame verheirathet, die einen ganzen Winter meine Tischnachbarin in Nizza war: mit dem Hauptmann Von der Marck. Heute will ich noch mir Wiel’schen Schinken von der Hauptbezugsquelle bestellen. — Mit dem allerherzlichsten Wunsche, daß es Dir wohl ergehe, meine liebe Mutter! Hoffentlich giebt es keine schlechten Nachrichten, ich habe etwas fertig zu machen, wozu ich Sonnenschein in jedem Sinne brauche.
Dein altes Geschöpf.
885a. An Louise Röder-Wiederhold
Sils-Maria den 3. August 1887.
Verehrte Frau
ich nehme die erste Ruhepause wahr, die eine anstrengende Arbeit mir und meinen Augen läßt, um meinen ganz stillgestellten und eingefrornen Brief-Verkehr mit „der Welt“ wieder in Fluß zu bringen: und da fällt mir zuallererst die angenehme Schuld, Briefschuld ein, die ich gegen Sie noch auf der Seele habe. Es war sehr liebenswürdig, sich dergestalt eines alten schweigsamen Philosophen und Höhlenbärs zu erinnern, wie Sie es mit Ihrem gütigen und klugen Briefe gethan haben. Die Jahre laufen davon, die Menschen auch; es ist wunderlich, was ich seit Sommer 1875 vereinsiedelt bin. Es versteht sich, daß ich mich bemühe, dies natürlich zu finden, sogar etwas wie Auszeichnung aus einem solchen Loose herauszulesen. Doch giebt es Tage, wo ich eine Last darin trage: — das geschieht, um es gerade Ihnen zu sagen, wenn ich wieder einmal mir meine völlige Unfähigkeit ad oculos demonstrirt habe, unsrem Venediger Freunde und maëstro zu Hülfe zu kommen. Dazu gehört ein Darinstecken, ein Mitmachen, etwas wie Amt, Macht, Ansehn unter den Gegenwärtigen und Gegenwärtigsten: — ein Zukunfts-Philosoph läßt seine Freunde bei lebendigem Leibe verhungern, welche absurde Consequenz bringt alles Unzeitgemäß-sein mit sich! — Nebenbei noch gesagt, ich glaube daß mir selber in den letzten Jahren nichts so gefehlt hat wie eine Aufführung der Köselitzischen Oper, der ich hätte beiwohnen können: es wäre ein Labsal, eine Ermuthigung, ein Sieg ersten Ranges für mich gewesen. Man behält nicht viele Dinge lieb, wenn man alt wird, aber die alten immer lieber. Mit fünf, sechs Melodien unsres Venedigers habe ich mir manche schlaflose Nacht zu einer Erquickung umgewandelt: nur darf ich dann nicht daran denken, daß der, dem man so kostbare Dinge zu verdanken hat, wie eine Art Bettler lebt, der nicht bittet, daß man ihm giebt, nein, daß man von ihm nimmt. Das ist Alles so absurd — und andrerseits so alltäglich, so ewig, so natürlich!!!! – Wenn Sie mir schreiben, verehrte Frau, was mir hin und wieder geschrieben wird, daß meine Schriften einen gewissen Einfluß ausüben, so kann ich mir im Grunde dabei immer ein Gefühl der Angst nicht ersparen: nämlich es möchte ein schlimmer Einfluß sein. Vielleicht habe ich bisher in einem kaum erlaubten Maaße gerade Eins immer ganz außer Acht gelassen: daß es Leser giebt. Wäre ich reich genug oder so etwas wie ein principe, der seine eigne Druckerei hätte, so gäbe es keine Leser meiner Schriften — aber wahrscheinlich dennoch diese Schriften. Das gehört zu meinem Unglauben an das Jetzt: ich glaube, daß die Ohren heute für andre Dinge offen stehn sollten, als für meine Dinge. Diese, fürchte ich, richten heute Unfug an, wenn sie heute gehört werden. Mit dem herzlichen Wunsche, daß es sich in Ihrem Falle, verehrte Frau, um eine wirkliche Ausnahme handle — und ich lasse Ausnahmen zu und ehre sie — bin und bleibe ich Ihr dankbar ergebener Nietzsche.
886. An Heinrich Köselitz in Venedig
Sils-Maria den 8. August 1887.
Lieber Freund,
Ihr Brief hat mich wieder so gerührt! Wenn ich nur irgend ein Mittel wüßte, Ihnen ein wenig nützlich sein zu können, statt Ihnen durch ungeschickte „Aufforderungen zum Tanz“ (zum verwünschten Tanz mit Postpferden, Eisenbahnen und Theaterbetriebs-Ochsen) zuletzt noch gar weh zu thun! Sehen Sie, ganz grob egoistisch geredet, läge mir eigentlich etwas daran, wenn Sie Ihre schönen Partituren und Klavierauszüge nicht wegschickten, damit ich dieselben im Herbste noch bei Ihnen vorfände (denn bisher ist es noch bei Venedig geblieben: Zwischenfälle und Überraschungen vorbehalten, die meine gute Absicht vernichten könnten). Aber es versteht sich hundert Mal von selbst, daß „Eins nothwendiger ist als das Andre“; und zuletzt wüßte ich für mich selbst wenig angenehmere Ereignisse als eine baldige Aufführung Ihres herrlichen Werks: selbst angenommen, was leider angenommen werden muß, daß ich bei ihr nicht zugegen bin. — Mir ist der Fall „Weimar“ inzwischen nicht aus dem Kopf gekommen. Bülow ist brüsk und excentrisch: berechenbar ist gar Nichts in diesem Falle, höchstens möglich, in dem Sinn als bei Gott nichts unmöglich ist. Was den neuen Weimarschen Chef angeht: so hat er vielleicht den Wunsch, sich mit einer Novität und Merkwürdigkeit zu präsentieren? Wäre es nicht möglich, ihm einen längeren Brief-Bericht zu senden, eine Art Selbstkritik des Werks, natürlich mit starker Hervorhebung des Stils, der Richtung, der gewissermaßen gerade jetzt nöthigen und prädestinierten Richtung einer solchen Musik? (Auch die leichte Aufführbarkeit, das Venetianische usw. wäre zu unterstreichen) Und dies, bevor das Manuscript abgienge; vielmehr letzteres für den Fall in Aussicht stellend, daß ein wirklicher Wunsch vorhanden sei, das Werk kennen zu lernen. Verfassen Sie einen kleinen Aufsatz, so gut und fein und überlegen, lieber Freund, wie jenen, den Sie mir nach Cannobio zusendeten, über die Vandalisirung Venedigs — und seien Sie mir nicht böse…
— Anbei folgt der Hymnus: Alles Weitere steht nun in Ihrer Hand! Ich lege einen Vorschlag zum Titelblatt bei: es versteht sich, daß Sie hierüber wie über die Noten eine unbeschränkte Freiheit (zu ändern) haben. Ein paar Fragezeichen meinerseits, die auf das Bescheidenste um Gehör bitten: —
Seite 3, vorletzter Takt: zur Verstärkung Alt mit Sopran unisono also die Altstimme

entsprechend p. 8 sechster Takt, wo die Verstärkung („und in der / Gluth, in der“) noch wesentlicher erscheint. Ebendaselbst, ein Takt vorher: wie wäre es, der Trompete hier zur Bekräftigung des c ein
zu geben?…
Seite 4, dritter Takt, entsprechend Seite 9: den Fagotten vielleicht diese kleine Bewegung des sonst zu starren Rhythmus anvertrauen — ?

Auf der allerletzten Seite bitte ich die Schluß-Interpunktion nach Pein zu ändern: nicht Ausrufezeichen, vielmehr drei Punkte: als welche mit ihrem ominösen Charakter hier wenn irgendwo am Platze sind. Also:
wohlan! Noch hast du deine Pein…
— Und wenn Sie zufrieden sind, dann den Stich fort an E. W. Fritzsch! —
Es ist möglich, daß alsbald auch Naumannsche Correkturen eintreffen: seien Sie, lieber Freund, geduldig! Zum Wenigsten verspreche ich Ihnen ein paar Überraschungen bei dieser „Streitschrift“. Sie ist in der That rasch beschlossen, begonnen und fertig gemacht: nach dem Postschein habe ich das Manuskript (zum 2. Mal) an Naumann am 30. Juli abgeschickt: der Anfang der Arbeit, leider nicht von mir notirt, muß gegen den 10. Juli gewesen sein. Bis dahin ungefähr war ich krank und extrem indisponirt.
Mit dem allerherzlichsten Gedenken an Sie, lieber Freund,
Ihr getreuer
Nietzsche
NB. Vor einigen Tagen habe ich an Frau Röder nach Arbon geschrieben, die sich freundlich genug mir ins Gedächtniß gerufen hat.
[Beilage]
Hymnus an das Leben
von
Friedrich Nietzsche.
Für Chor und Orchester bearbeitet von Peter Gast.
Gewiß, so liebt ein Freund den Freund,
Wie ich dich liebe, räthselvolles Leben!
Ob ich in dir gejauchzt, geweint,
Ob du mir Leid, ob du mir Lust gegeben,
Ich liebe dich mit deinem Glück und Harme,
Und wenn du mich vernichten mußt, Entreiße ich mich schmerzvoll deinem Arme, Wie Freund sich reißt von Freundes Brust.
Mit ganzer Kraft umfaß ich dich, —
Laß deine Flammen meinen Geist entzünden
Und in der Gluth des Kampfes mich
die Räthsellösung deines Wesens finden!
Jahrtausende zu denken und zu leben,
Wirf deinen Inhalt voll hinein!
Hast du kein Glück mehr übrig, mir zu geben,
Wohlan! Noch hast du — deine Pein…
L. S.
Leipzig,
Verlag von E. W. Fritzsch.
887. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Freitag… Sils-Maria, Tag des Monats mir völligunbekannt. <12. August 1887>
Schnell noch ein Briefchen an meine gute Mutter. Es steht ein Gewitter am Himmel, Dein altes Geschöpf befindet sich nicht gerade zum Besten, in Sonderheit machen die Augen wieder rechte Sorge. In der Hauptsache aber ist es bis jetzt gegangen: es gab viel zu thun, „der Geist“ hat immer gute Miene gemacht — und das Körperchen auch: ein paar Tage mit bösem Kopfschmerz und Erbrechen, wie immer, abgerechnet. Es ist auch hier dies Jahr wärmer; auch fällt es mir auf, daß ich niemals in meinem Leben so viel Wasser getrunken habe als diesen Sommer. Die Mahlzeiten immer noch so, wie ich Dir zuletzt schrieb: nur habe ich das Gemüse Mittags weggelassen. Ein Wiel’scher Schinken ist eingetroffen, aus der Kuranstalt in Eglisau, in der nach dem Tode des Dr. Wiel seine Methode fortlebt, auch seine Arten, Schinken für Magenkranke herzustellen (es gehört eine Spezialität in der Mästung der Schweine dazu, wie man mir sagt) Die Adresse bekam ich von Frl. von Salis, sie ihrerseits vom englischen Consul in Zürich. Das Pfund Schinken (im Ganzen) zu 1 1/2 frs. (12 Silbergroschen) Übrigens läßt Dir Frl. von Salis, jetzt Doktorin (der Geschichte: ihre Dissertation handelt von der Mutter des Kaiser Heinrich IV) die herzlichsten Grüße durch mich übermitteln. Meine englisch-russische Gesellschaft ist in Maloja, immer noch, und schreibt fleißig an mich. Kürzlich ein großer Maskenball daselbst, wobei Miss Fynn als russische Bäuerin Aufsehn erregt hat. Meine alte Meysenbug ist wieder in Versailles, immer noch sehr betrübt über den Tod ihrer Schwester Laura. Sie wünscht so sehr, daß ich diesen Winter zu ihr nach Rom komme; sie denkt, es könnte vielleicht ihr letzter Winter sein. Der Herbst (d. h. Oktober bis Mitte November) ist einstweilen für Venedig festgesetzt, nicht ohne Furcht meinerseits vor dem Sprung aus dem lufttrockensten Stück Europas in das luftfeuchteste (Auch die Wärmedifferenz ist enorm: unser Sommer hier oben, im Durchschnitt 10 Gr. Cels. entspricht dem Durchschnitt eines Januars in Nizza) Aber ich muß meinen Venediger Freund und maëstro etwas ermuthigen: zuletzt thut mir seine Musik wohl wie… die gute reine helle Luft hier oben. Man schreibt mir, daß der berühmte Componist Johannes Brahms (jetzt in der Schweiz) sich sehr mit meinen Büchern abgiebt. Für die Herrn Musiker, scheint es, hat Dein altes Geschöpf etwas Anziehendes. Übrigens druckt man jetzt meinen „Hymnus an das Leben“ Chor mit Orchester: das Einzige, was von meinen Compositionen erscheinen soll, damit man einmal etwas hat, das zu meinem Gedächtniß gesungen werden kann. (Verlag von E. W. Fritzsch.)
Meine besten Wünsche zu dem neuen Vorhaben meines unruhigen und unternehmungslustigen Schwagers. Nun! Nun! Eine landwirtschaftliche Akademie — und ein alter Schulmeister und Volksredner an der Spitze: das ist vielleicht etwas für Südamerikaner. Für mich ist’s nichts. Ich liebe jede Art Fachmann.
„Wunschzettelchen“, auf Wunsch, meine liebe Mutter! Bitte, keinen Honig! (das letzte Mal ist er mir schlimm bekommen) Aber sonst sehr gern die guten Dinge, von denen Du schreibst. Dann zwei Cravatten, eine große breite, zum Umlegen und eine zum Anstecken. Endlich: aus der Apotheke in der Herrenstraße 100 gramm Rhabarber in Stücken. Und bitte, sobald als möglich. Es grüßt Dich in herzlicher Liebe
Dein altes Geschöpf.
Mache meinen lieben Onkels Edmund und Oskar, von deren zu erwartendem Besuche Du schreibst, die schönsten Complimente in meinem Namen. Nun bin ich bald 43 Jahr - - -
…Und ich habe Dir nicht einmal für Deinen gütigen Brief gedankt! Verzeihung!
N. B. „Muthgen“ ist natürlich die Mutter der Großmama N<ietzsche>. Der Bruder, der Prof. Dr. theol. Krause in Königsberg, wurde, auf Goethes Veranlassung, der Nachfolger Herder’s, als Generalsuperintendent von Weimar. Ad notam für Herrn Archivrath B<urkhart>.
888. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Postkarte)
Sils—Maria Oberengadin, Schweiz. Sonnabend <13. August 1887>
Sehr geehrter Herr Verleger,
die Correktur des Hymnus wird in Ihren Händen sein, insgleichen der Entwurf für das Titelblatt. Den Stich des letzteren bitte ich umgehend bewerkstelligen zu lassen: den Abzug erbitte ich mir hierher zur Correctur, Sils-Maria. Über Papier (stark, fein, holzfrei) sollen Sie verfügen, ebenso über die Zahl der herzustellenden Exemplare; in dieser Hinsicht fehlt mir jedweder Maaßstab, jedwede Erfahrung.
Mich Ihnen mit bestem
Gruße empfehlend Ihr
Nietzsche.
889. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)
Sils-Maria 14. August. <1887>
Geehrtester Herr Verleger,
so eben habe ich mit bestem Danke für den hiermit bewiesenen „guten “Willen“, den Druck rasch zu Ende zu führen, den 3.ten Bogen erhalten. Morgen sende ich die Correktur des 2.ten: der erste, druckfertig, muß schon wieder in Ihren Händen sein. In drei, vier Tagen folgt der Rest des Manuscriptes, die dritte Abhandlung: sie wäre eher fertig geworden, wenn nicht meine Augen protestirt hätten: doch sind 3/4 schon abgeschrieben. Meine Absicht ist, hier bis in den September hinein zu bleiben (spätestens 20. Sept.) vorausgesetzt, daß die Kälte nicht so groß wird (Durchschnittstemperatur des September hier oben 7 Grad Celsius… )
Ganz ergebenst
Ihr Nietzsche.
890. An Emily Fynn in Maloja
Mittwoch <Sils-Maria, 17. August 1887>
Hochverehrte Frau,
so eben finde ich mitten in einem Wust alter Rechnungen das kleine beiliegende Bildchen der Villa Badia, welches Sie aber erst in schöne blaue und braune Farben übersetzen müssen, um es erträglich zu finden. Zwar schien es mir, daß Sie im Grunde jetzt das Reisen gerne bereit sind ad acta zu legen, ja daß Sie sich einen Gewinn von der Heimkehr gerade auch in Hinsicht auf Ihre ausgezeichnete Freundin versprechen: und in so fern kommt die Villa Badia zu spät. Es müßte denn sein, daß Sie die Heimreise über die Seen nähmen und dann Turin-Genf. Für diesen Fall empfiehlt sich ein Zwischenakt am genannten Ort; die zauberhaften Farben des Herbstes daselbst, der Reichthum an Feigen, an herrlichen Bäumen, das Klösterliche und Vornehme der Lage und Anlage — ich zweifle nicht, daß Sie zusammen eine tiefe schöne Erinnerung von dort heimbringen würden.
Inzwischen, nach jenem köstlichen und reichen Tage bei Ihnen, habe ich gelebt wie ein Höhlenbär — sehr arbeitsam und, wie mir scheint, verbessert in Hinsicht auf Gesundheit und Geduld. Wenn Alles glückt, was ich just unter der Hand habe, gedenke ich ein paar Stunden der Erholung bei Ihnen zu feiern, hoffend, daß inzwischen auch bei Ihnen der schöne Sommer und die heroïsche Landschaft Malojas stärkend und hoffnungsgebend gewirkt hat. —
Ihnen Allen in treuer Verehrung und Anhänglichkeit zugethan, bin ich, meine hochverehrten Damen
Ihr ergebenster Diener
Dr Fr. Nietzsche Prf.
891. An Heinrich Köselitz (Postkarte)
<Sils-Maria, 18. August 1887>
Lieber Freund, es beunruhigt mich, daß bis heute (Donnerstag) Morgen der dritte Correcturbogen noch nicht in meinen Händen ist. Naumann hat den für mich bestimmten Abzug Freitag Abend von Leipzig abgeschickt, so daß ich Sonntag Mittag ihn hatte: Sie müssen den Ihrigen nach meiner Berechnung noch früher gehabt haben. Nun gab es in den letzten 4 Tagen große Gewitter und im Bergell zwei Bergrutsche, so daß die Post 2 Mal ausgeblieben ist: sollte da ein Malheur passirt, irgend was verloren gegangen sein?… Meinen allerschönsten Dank für Ihren Brief und Alles, was Sie gerade in den letzten Wochen für mich wieder gethan haben: es war zu viel, aber ich selbst bin unschuldig daran, daß die Druckerei und die Stecherei zugleich anfiengen zu speien, ich hatte es anders angeordnet (aber Fr<itzsch> ist ein großer Bummelhans, und N<aumann> hat mir den Beweis geben wollen, daß er’s nicht ist) Heute krank, recht erschöpft: sonst würde ich Ihnen mehr schreiben. Hoffentlich haben Sie’s jetzt kühler. —
Treulich Ihr N.
892. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)
Sils-Maria <18. August 1887>
Geehrtester Herr Verleger, bis heute (Donnerstag Vormittag) ist der dritte Correkturbogen aus Venedig noch nicht bei mir eingetroffen. Vielleicht ein Malheur? Es gab große Gewitter, Bergrutsche; die Post aus Italien ist 2 Mal um einen halben Tag zu spät gekommen. — Nun ist gerade in Betreff dieses dritten Bogens noch etwas in der Druckerei zu thun, dessentwegen der Bogen unter allen Umständen nochmals an mich geschickt werden müßte, bevor er druckfertig ist. In einem Briefe, den ich zugleich mit dieser Karte absende, liegt das Manuscript einer längeren Anmerkung, die an den Schluß der ersten Abhandlung (in den leeren Raum daselbst) zu rücken ist.
Das Manuscript der 3ten Abhandlung ist beinahe fertig.
Ihr ergebenster
Prof Dr Nietzsche
892a. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
<Sils-Maria, 18. August 1887>
(Beilage zum Brief vom 18. VIII. 1887)
Nachtrag zu Seite 37 und 38 auf beiliegendem Blatte.
diese Anmerkung (in ganz kleinen Lettern — ich empfehle die der
Inhaltsangabe im Jenseits v. G. u B. p. VII) ist so einzurichten, daß der Text ganz unten auf S. 37. beginnt und die Seite 38 bis zu Ende ausfüllt. Also auf Seite 37 ein ansehnlicher Zwischenraum noch zwischen dem Strich unter dem Haupttext und der Anmerkung zu lassen! —
Dieses Nachtrags wegen bitte ich mir den Bogen 3 nochmals zur Correktur aus. Auch soll derselbe, zum Zweck der Zeitersparniß, nicht an Hrn Köselitz abgehen.
F. N.
Im Falle der nach Venedig gesandte Correkturbogen verloren gegangen ist, wäre es natürlich nöthig, diesen dritten Bogen an Herrn K zu senden.
893. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Sils-Maria, 19. August 1887> Freitag.
Arrivato! mille grazie! In der That war die Straße im Bergell wieder zerstört, die Post kam um einen halben Tag zu spät.
Es ist kalt hier; neuer Schnee auf den nächsten Bergen. Ich selbst recht gehemmt und unlustig; die verhängten Himmel (mit dicken Schneewolken und Nordwinden) setzen mir arg zu.
Trotzdem: Sie haben’s schlimmer da „unten“! Und nun noch gar solche „Litteratur“ lesen müssen…
Treulich und dankbar
Ihr N.
894. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig
Sils-Maria, Oberengadin den 20. August <1887> (kalt, Schnee)
Geehrtester Herr Verleger,
nur drei Worte: denn ich bin gerade krank. Der kleine ästhetische Skrupel, der mich veranlaßte, den Preis der Partitur nicht auf dem Titelblatte (wo das Gedicht steht) zu wünschen, muß natürlich Ihrem Gesichtspunkte und der geschäftlichen Praxis sich unterordnen: obwohl es mir leid thut. Daß das kleine Werk im Herbst zur Versendung kommt, ist mein eigner Wunsch; ich selbst möchte einige Exemplare noch früher haben. Daß eine Composition von mir bei Musikern einiges Interesse erregen könnte, ist in der That nicht ganz unwahrscheinlich; mir fällt eigentlich auf, wie sehr sich gerade die Musiker auch mit meinen Schriften abgeben — es scheint, daß ich ihnen eine Art Vertrauensmann bin. Dies gilt ganz und gar nicht bloß von den Wagnerischen Musikern; man hat mir zum Beispiel erst kürzlich geschrieben, daß Dr. Joh. Brahms sich auf das Lebhafteste für meine Bücher interessire. Zehn Capellmeister ausfindig zu machen, die den Hymnus auf ihr Winter-Programm setzten, sollte nicht schwer sein. — Von dieser Seite aus weiß ich mir in der Frage der Stimmen (Druck oder Abschrift) nicht recht zu helfen; da ich mich in jedem Sinne als einen Menschen „der Zukunft“ betrachte, so zweifle ich eigentlich nicht daran, daß man sich einmal genug für mich interessiren wird, um sich auch dieses „Glaubensbekenntniß“ in Tönen nicht entgehen zu lassen. Zunächst wünschte ich freilich, daß es sich erst in einigen Aufführungen bewährte, als singbar, klang- und ausdrucksreich. Verzeihung, daß ich von diesen Sachen rede. —
Das Circular scheint mir ein äußerst glücklicher Gedanke. Auch danke ich Ihnen noch besonders dafür, daß Sie darin jedes Wort der Reklame vermieden haben: das ist vom besten Geschmack.
Bei C. G. Naumann wird eine kleinere Schrift von mir gedruckt, eine „Streitschrift“, die vielleicht einige Aktualität für sich hat. Auf dem Umschlag (Rückblatt) wird die ganze Reihe der Ihnen zugehörigen Schriften aufgezählt, mit besondrer Hervorhebung der neuen Ausgaben und ihrer Veränderungen. Ich gestehe, daß ich einen Erfolg dieser Schrift besonders in Hinsicht auf meine ganze frühere Litteratur (die fleißig darin citirt wird) wünsche, — und daß sie beinahe aus dem Bedürfniß entstanden ist, dem Vertrieb dieser älteren Litteratur und damit auch Ihnen, geehrtester Herr Verleger, zu Hülfe zu kommen.
Mit herzlichem Gruß Ihr N.
Grüßen Sie, bitte, Herrn Rudhardt von mir (früher Prf. in Genf); man sagt mir hier, er habe eine gute Lehrer-Stellung am Leipziger Conservatorium. Das freut mich. Ich habe ihn hier kennen gelernt. Und zeigen Sie ihm meinen Hymnus! —
Senden Sie doch das Circular auch an Dannreuther (New York), der sich sehr für meine Litteratur zu interessiren scheint. Insgleichen an den Dänen Dr. Georg Brandes, einen der „schneidigsten“ deutschen Litteraten; seine Adresse im Litteratur-Kalender.
Die Correktur des Titelblattes bitte sobald als nur möglich hierher, an mich.
N.
895. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Freitag Nachmittag. <Sils-Maria, 19. August 1887>
Meine liebe Mutter,
ich schreibe auf der Stelle: Du hast mich herrlich beschenkt, und es giebt viele Gründe, weshalb ich gerade in diesem Augenblick besonders Dir dafür Dank zu sagen habe. Es stand in der letzten Zeit nicht mehr gut mit mir; vielleicht war ich ein wenig überarbeitet; jedenfalls setzte mir der Umschlag des Wetters sehr zu (vier Tage Gewitter, schwerer Regen; seitdem winterliche Luft, auf den nächsten Bergen neuer Schnee; heute morgen gieng ich mit Frl. von Salis in einem leichten Schneegestöber spazieren; in meinem Zimmer sitze ich morgens bei 2—5 Grad an der Arbeit) Die Schachtel enthielt lauter gute Dinge, einige davon ganz unerwartet zb. ein prachtvolles neues Werk des Dr. Deussen (hast Du seine Adresse?) über indische Philosophie (deren erste Autorität Deussen jetzt für Deutschland ist: der Zufall will daß ich selber gerade mit ihr stark beschäftigt bin, so daß das Buch à propos kommt, wie selten ein dedicirtes Buch) Den Sandtorten-Genuß muß ich mir noch etwas versagen; ich habe sie in eine Blechschachtel gethan. Den Cacao werde ich mit großem Interesse mit zwei Präparaten vergleichen, die ich selbst trinke (den holländischen van Houten und den schweizerischen Sprüngli): sehen wir zu, welche Nation den Preis davonträgt. Die Cravatten: meinem „tiefgefühlten“ Bedürfnisse entsprechend. Auch der Rhabarber sieht recht vertrauenerweckend aus: ich habe in diesem Punkte etwas Erfahrung (was bekanntlich, so wie das menschliche Leben nun einmal ist, fast immer so viel bedeutet wie „schlechte Erfahrung“ ..) Ich wäre neugierig zu wissen, was er kostet, da ich die französischen, italiänischen und schweizerischen Preise im Kopfe habe. Das Hemd: sehr gut! Denn ich trage diese Art fort und fort (Nachts nicht, aber am Tage) Auch scheint es mir, daß die Ärmel vernünftiger Weise kurz sind (und nicht wie bei denen, die ich jetzt trage) Endlich die Strümpfe und die Handschuh: meine liebe Mutter, welche Menge guter Dinge! Ich vergesse, wie überraschend mir die Brausepulver* vorkamen: wie als ob Du gewittert hast, was Dein altes Geschöpf sich oft diesen Sommer gewünscht hat.
Sonst giebt es wenig Neues zu melden. Frl. von Salis läßt sich Dir schönstens empfehlen; sie kommt mir immer noch sehr caput vor. Gestern besuchten mich meine Engländerinen im Wagen, ich fuhr noch ein halbes Stündchen mit ihnen, als sie zurück mußten. Im Hôtel Maloja, wo sie immer noch weilen, ist die Saison dies Mal sehr gut (c. 300 Person); der neuliche Maskenball hat der Miss Fynn einen großen Erfolg gemacht (die Zeitungen berichten selbst davon); man will mir sie bei meinem nächsten Besuche in den 2 Kostümen präsentiren, welche sie damals gehabt hat: erst als russische Hofdame, dann als russische Bäuerin. Es sollen die schönsten Costüme des Balls gewesen sein. — Um einen Begriff von der Frequenz zu geben: Am 9ten August verkehrten in Maloja, bei dem Hôtel, c. 900 Wagen, davon c. 500 Kutschen und Equipagen. Sehr nizza-mäßig, dagegen hält unser Sils seinen idyllischen Charakter fest.
Nochmals mit dem allerschönsten Danke, meine liebe gute Mutter!
Dein altes Geschöpf.
896. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Sils-Maria, 25. August 1887>
Dein Brief, einen Tag später als die Schachtel, traf mich tief eingeschneit, im besten Januarwetter, das Zimmer sehr kalt. Seitdem hat es sich verbessert; zwar ist es immer noch sehr frisch (c. 4 Grad morgens), denn die Berge sind wie Zuckerhüte, aber der Himmel herrlich hell und die Luft trocken. Schönsten Dank für die Torte, die einen feinen und reinen Geschmack hatte! Die Strümpfe scheinen mir besonders gut zu thun, sie sind warm und von guter Wolle. Etwas ganz Komisches: stelle Dir vor, meine liebe Mutter, der Cacao schmeckt täuschend wie Thee, und wenn es nicht drauf stünde, was es ist, so würde ich’s nimmermehr glauben. Ich habe mir jetzt aus der Schweiz Schinkenwurst kommen lassen, ganz gut, das Pfund 12 Groschen 8 Pfennige: ist das auch Euer Preis? — Die Berufung des Prof. Dr. Krause an die oberste geistliche Stelle in ganz Weimar kann natürlich nur von oberster Stelle, dem Staatsministerium (Goethe) ausgegangen sein; G<oethe> spricht mehrere Mal von ihm (kränklich, mit einem weichlichen Geschmack in Litteratur; übrigens war er einer der bekanntesten Rationalisten jener Zeit, er liebte es, Schillersche Worte als Text zu seinen Predigten zu nehmen.) 1778 ist unantastbar; es handelt sich ja nur um das Tagebuch Goethes von diesem Jahr. Krause’s ächte Weimaraner: nie daran gezweifelt. — Meine Musik, Orchester-Partitur (nicht Klavier) noch nicht erschienen.
Dein F.
897. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
<Sils-Maria 28. August 1887> Sonntag früh
Hochgeehrter Herr Verleger
hiermit folgt endlich die dritte (Schluß-)Abhandlung — zu spät, wie ich mit Bedauern sage, ich war viel krank, die ganze letzte Zeit. Doch bilden jetzt die drei Abhandlungen ein gutes Ganze
Dem Manuscript der Abhandlung (das von hinten anfängt NB!) liegen noch zwei Blätter bei, einmal die
-
Inhalts-Angabe, am Schlusse des Buchs oder vor den drei Abhandlungen einzufügen
-
ein Nachtrag zur Vorrede.
Und damit Glück auf! Und fröhlich vorwärts!
Mit ergebenstem Gruß Ihr
Nietzsche
898. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Postkarte).
Sils-Maria 29. August 1887
Werthester Herr Verleger,
mit Ihrer Fassung des Titels ganz einverstanden. Ich überzeugte mich, daß das Gedicht auf dem Titelblatt sich ganz abscheulich ausnimmt.
Und lassen Sie, bitte, sowohl für meinen Namen als für die Worte „Hymnus an das Leben“ einfachere und ernstere Lettern nehmen (um des Himmels Willen nichts dergleichen Geschnörkeltes und Rokoko-Mäßiges wie auf der beiliegenden Probe!)
Ergebenst, der Ihrige
Prof Dr Nietzsche
899. An Heinrich Köselitz in Venedig
Sils-Maria, den 30. August 1887.
Lieber Freund,
inzwischen, denke ich, wird es auch in Venedig kühler geworden sein. Wir waren sogar schon eingeschneit und gründlichst: schönster Januar für zwei Tage, — seitdem wieder menschlicher, doch frisch, selbst herb. Die dumme Gesundheit wackelt wieder, der böseste Anfall des Sommers kaum überstanden. Trotzdem eine Art Zufriedenheit und Fortschritt, in jeder Hinsicht; vor allem ein guter Wille, nichts Neues mehr zu erleben, dem „Außen“ etwas strenger aus dem Weg zu gehn, und das zu thun, wozu man da ist. Sils wird festgehalten, ich wünschte, ich hätte schon eine eben solche Winterhöhle, wie diese Sommerhöhle. Für diesen Herbst, lieber Freund, bin ich immer noch Willens, es mit Venedig zu versuchen: doch muß ich erst von Ihnen noch eine ernstgemeinte Erlaubniß dazu erhalten. Gesetzt nämlich, daß Sie jetzt ein tiefes Für-sich-sein lieber hätten und hygienischer in irgend einem Sinne fänden, so bedarf es des kleinsten Winkes, lieber alter Freund: ich würde mich selbst nicht schonen, wenn ich Sie nicht in solchen Hauptsachen schonte. Im andren Falle habe ich ein paar Bitten auszusprechen; aber, wie gesagt, einstweilen schwebt noch Alles.
Was das Titelblatt angeht: so bin ich voller Verdruß. Ich habe es zuletzt Fritzsch überlassen, Alles nach seinem Gutdünken resp. der alten Geschäfts-Routine zu arrangiren; nur will ich nichts mehr davon hören. Er will auf die Preisanzeige nicht Verzicht leisten, er mag das Gedicht auf dem Titelblatt nicht etc. Zuletzt hat er mir ein Monstrum von Stichprobe geschickt, das ich meinerseits mit Ingrimm abgelehnt habe. Habeat sibi! — Daß Ihr Name nicht auf das Titelblatt soll, hat mich, aufrichtig, perplex gemacht (— ich weiß nicht, was in mir remonstrirte, ich glaube beinahe vanité… ) Zuletzt habe ich mich überredet, daß diese Verzichtleistung Ihrerseits in der That zu einem guten Ausgange führen kann, daß sie klug ist, kurz daß wir Beide etwas auf die Länge hin spekuliren müssen und gegen die Gesichtspunkte des Augenblicks gleichgültig sein dürfen. So soll ich denn also geschmückt mit was für schönen fremden Federn vor die Herrn Musiker treten!! Habeat sibi! — Ich habe noch eine allerletzte Revision des ganzen Stichs gemacht, hinsichtlich der von Ihnen eingetragnen Correcturen: und wirklich fand ich noch zwei ganz grobe Fehler. (Zwei Takte verwechselt)
Bei Naumann ist hoffentlich nichts Störendes vorgefallen: wir sind noch nicht weiter seit dem Bogen 3. Doch habe ich auf der leeren Zwischenseite am Schlusse der ersten Abhandlung noch eine Anmerkung (für Gelehrte) eingerückt.
Hier reist man ab, die Hôtels leeren sich. Der Vogel sitzt einsam. Doch soll diese Tage mein alter Freund Dr. Deussen von der Berliner Universität hier eintreffen, mit Frau (auf der Reise nach Griechenland: hübsch! über Sils nach Griechenland!) er hat mir eben ein prachtvolles Werk geschickt, „die Sûtras des Vedanta“, die erste europäische Übersetzung eines enorm scharfsinnigen und raffinirten Commentars der Vedanta-Philosophie (Sanscrit)
Keine Musik! Kein Ton guter Musik!…
Treulich und dankbar
Ihr N.
900. An Franz Overbeck in Dresden
Sils-Maria d. 30. Aug. 1887
Lieber Freund,
der Sommer ist dahin; wir waren sogar schon zwei Tage tüchtig eingeschneit, seitdem blieb es frisch und streng, doch so hell, wie sich’s meine Gesundheit nur wünschen kann. Die Kälte ist nicht mein Feind.
Ich habe oft an Dich gedacht, namentlich in Hinsicht auf Deinen Dresdener Aufenthalt, über den Du schwer genug hinweggekommen sein wirst. Jetzt denke ich Dich auf irgend einer Höhe, nachsommerlich gesinnt und hoffentlich wieder etwas von schmerzlichen Eindrücken hergestellt. Dein Name ist diesen Sommer oft genug hier oben von mir genannt worden: denn Basel war dies Mal die längste Zeit das dominirende Element in Sils, — nämlich durch eine Kopfzahl von 36 vertreten. Die gute Basler Welt zeigte sich gegen mich ganz unverändert, sehr herzlich und sehr respektvoll, ganz wie ich’s nur wünschen konnte. Die Namen La Roche Ryhiner Allioth usw. usw. schwirrten mir anfangs etwas vor dem Kopf; allmählich stellte sich mein Gedächtniß wieder ein; namentlich Sally Vischer von Ehedem hat sich prächtig die ganze Zeit über gegen mich bezeigt (mit ihren Kindern Manfred Eleonora Sigismund: wir haben über die schönen Namen gelacht!) Insgleichen die Schwester von Andreas Heusler. — Sodann ist Frl. von Salis hier, jetzt Doktorin der Geschichte (Abhandlung über die Mutter Heinrich des IV., Agnes von Poitou), welche mit ihrer Freundin, der Tochter des Prof. Kym zusammenwohnt. Endlich habe ich einen gelegentlichen Verkehr mit einem Prof. der Mathematik aus Erlangen, Noether gehabt, einem gescheuten Juden, und dem alten Reichsgerichtsrath Dr. Wiener aus Leipzig sammt Familie (vielleicht auch ein wenig Jude?) Meine englisch-russischen Damen haben mich von Maloja aus besucht; Miss Fynn hat bei einem dortigen Maskenball den ersten Rang im succès behauptet (sogar nach den Zeitungen), nämlich als russische Hofdame und russische Bäuerin. Mit der alten Mansouroff geht es aber nicht zum Besten. Eines Tags begrüßte mich ein alter Herr, grauhäuptig, mit seiner Frau: Prof. Claß („Philosoph“) aus Erlangen: seine ersten Worte waren „oh wie liebenswürdig haben Sie mich examinirt! das werde ich nie vergessen“ (— er promovirte seiner Zeit in Basel). Noch habe ich Dir nicht für die Tertullianstelle gedankt, ich habe von Deinen adnotat<iones> dazu den unbefangensten Gebrauch gemacht (nämlich in einer Abhandlung, die jetzt gedruckt wird): ein Stück der Stelle fand sich noch vor Eintreffen Deines Briefes in meinen Manuscripten, aber es war mir sehr werthvoll, sie in extenso zu bekommen. — Das Resultat vom Verkauf von „Jenseits“ ist sehr lehrreich; dies Mal ist Alles gethan, was ein geschickter und beliebter Buchhändler zu Gunsten eines Buchs thun kann; es sind ebenfalls gegen 60 Freiexemplare an Zeitschriften und Redaktionen vertheilt worden. Trotzdem jämmerlicher Abschluß der Rechnung, buchstäblich 106 Exemplare verkauft, Alles sonst remittirt. Kaum der fünfte Theil der Redaktionen hat Notiz von der Zusendung genommen; entschiedene Zeichen von Abneigung und principieller Ablehnung gegen Alles, was von mir kommt, fehlen nicht. Und nicht Eine in Betracht kommende Anzeige! Ich sage dies übrigens nicht mit Verdruß: denn ich verstehe es. Trotzdem schien es mir nothwendig, diesem „Jenseits“ von mir aus etwas zu Hülfe zu kommen: und so habe ich ein paar gute Wochen benutzt, um in Gestalt von 3 Abhandlungen das Problem des genannten Buchs noch einmal zu präcisiren. Damit glaube ich am Ende mit den Bemühungen zu sein, meine bisherige Litteratur „verständlich“ zu machen: und nunmehr wird für eine Reihe von Jahren nichts mehr gedruckt, — ich muß mich absolut auf mich zurückziehn und abwarten, bis ich die letzte Frucht von meinem Baume schütteln darf. Keine Erlebnisse; nichts von außen her; nichts Neues — das sind für lange jetzt meine einzigen Wünsche. — Den 20. Sept. will ich nach Venedig abreisen, um unsrem braven K<öselitz> wieder Muth zu machen; er hatte einen schweren Sommer.
Ms. Taine hat von Genf aus sehr liebenswürdig an mich geschrieben. (In Bezug auf ihn hat Rohde in diesem Frühjahr eine Rüpelei gegen mich begangen, nun, ich habe ihm gründlich darauf gedient, vielleicht zu gründlich. Hinterdrein that mir’s leid.) Man schreibt mir, daß Dr. Johannes Brahms sich auf das Lebhafteste für meine Schriften interessire — (Die Gesundheit bei strengster Diät besser als andere Jahre: in summa 6 ganz schlimme Anfallstage.) Ich halte an Sils fest. Ich habe keine Zeit mehr, zu probiren — und keinen Glauben daran mehr, zu finden.. Empfiehl mich auf das Beste Deiner lieben Frau und deren Anverwandten! (Die Nachricht von der Münchner Hochzeit kam in Gestalt einer schönen Karte zu mir) Treulich und dankbar Dein
N.
900a. An Theodor Fritsch in Leipzig
< zwischen August und September 1887>
— In der Partitur des Hymnus, den zu übersenden ich mir erlaubte, ist noch die letzte Note der Clarinette (auf S. 11) zu berichtigen: dieselbe muss cis heissen, nicht c.
Prof. Nietzsche.
901. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Sils-Maria, 4. September 1887>
Unsre Briefe haben sich gekreuzt, meine liebe Mutter, schönsten Dank! Professor Deussen und Frau (etwas jüdisch) haben mich gestern Abend verlassen, nach einem sehr herzlichen Zusammensein von 1 1/2 Tagen; leider war ich eigentlich krank dabei. Wir haben schlechtes Wetter: das setzt mir arg zu. — Nun eine Bitte, die aber eine sofortige Erfüllung heischt: sonst hat sie gar keinen Sinn. Ich brauche eine ganz feine Schinkenwurst; was ich aus der Schweiz mir besorgt habe, ist fett und bekommt mir nicht. Kannst Du mir nicht umgehend etwas schicken? Es ist eine rechte Frage der Gesundheit. So daß ich es spätestens Freitag habe? (Heute ist Sonntag) Bitte, meine liebe Mutter, thue Dein Möglichstes und verzeih, daß ich Dir solche Noth mit meinen Wünschen mache! Andre Sommer richten wirs besser ein.
Dein F.
(Nichts Andres als die Wurst!)
902. An Emily Fynn in Menaggio
Sils-Maria, den 7. September 1887.
Hochverehrte Frau!
Zuletzt muß ich gar, zu meinem herzlichsten Bedauern, von Ihnen brieflich Abschied nehmen. Oh diese dumme Gesundheit! Ich dachte gestern bei Ihnen zu sein — eine unausstehliche Angegriffenheit zwang mich hier zu bleiben; auch heute steht es nicht besser. Vielleicht wollen die Tage, welche ich mit einem alten Freunde (dem Professor der Berliner Universität Dr. Deussen dem ersten Kenner der indischen Philosophie) zugebracht habe, eine nachträgliche Buße. Der Besuch war kurz (— er kam mit seiner kleinen, ganz kleinen Frau erst Freitag nachmittag an und hatte nur zwei Tage für mich Zeit) sehr angenehm, sehr angreifend, zumal das Wetter schwer und kalt auf uns lastete. Nun ist er wieder fort, will noch nach Genf, Genua, Rom, Neapel, Brindisi, Athen, Jonische Inseln, Constantinopel — Alles in Einem Zuge, da er Ende Oktober zum Beginn der Wintervorlesungen wieder in Berlin sein muß. Die Energie einer solchen Reise hat etwas Respektables; aber man brächte mich nicht mit vier Pferden dazu, es ihm nachzumachen. Im Frühling, während der kurzen Osterferien war er mit seiner Frau am nördlichsten Ende von Schweden, um das Jahresfest der Verlobung mit ihr an der Stelle zu feiern, wo diese Verlobung stattgefunden hat. So reist man heute durch die Welt: die Erde ist so klein geworden!…
Dies sage ich, um Sie zu überzeugen, daß Genf von Nizza und von Sils gar nicht so weit ist, und daß ich dies Mal in der Hoffnung Abschied nehme, in Genf Sie selbst hochverehrte Frau, ebenso wie Ihre ausgezeichnete Freundin, vielleicht schon im nächsten Frühling wieder begrüßen zu dürfen. Ich muß für den eigentlichen Winter wahrscheinlich nach Rom (um meine alte leidende Freundin M<alwida> von Meysenbug noch einmal zu sehen); im Grunde sollte eigentlich auch Ihre Fräulein Tochter ihr Schiff nach der ewigen Stadt lenken? Für diesen angenehmen Fall erlaube ich mir die Meysenbug’sche Adresse zu notieren: Via Polveriera 6, nächste Nähe des Colisees. Man findet bei ihr Frau Minghetti und andere gute römische und fremde Welt.
Mit den allerherzlichsten Wünschen für Ihrer aller Gesundheit und im Grunde Sie um die Heimreise beneidend — denn Sie haben doch ein Heim, während ich nichts als ein unstäter Vogel bin —
bleibe ich treulich
der alte
Höhlenbär von Sils.
(verdrießlich und brummend, daß er
heute nicht aus der Höhle kann).
903. An Heinrich Köselitz in Venedig
Donnerstag <Sils-Maria, 8. September 1887>
Lieber Freund,
ich wünschte, es stünde etwas anders mit mir: seit einem Monat ungefähr geht es wieder krebshaft; sollten die Sonnenfinsterniß, Falb und andre „jenseitige“ Gewalten auch bei mir die inneren humores in die Höhe ziehn?… Ich bin so unnütz betrübt, — unnütz, denn im Ganzen Großen hätte ich eher Grund, guter Dinge zu sein. Das Wetter ist miserabel diesen Herbst; viele Tage mit dicker Wolkendecke (das macht bei mir einen Eindruck bis zum Erbrechen) Eine komische Unterbrechung gab es, komisch und rührend: mein alter Freund Deussen aus Berlin erschien (auf der Reise nach Griechenland, mit einem liebenswürdigen Umschweif über Sils: er will Ende Oktober wieder in Berlin sein), brachte seine kleine Frau und seine eben erfolgte Ernennung zum Professor der Philosophie. Der Fall ist historisch: Deussen ist der erste eingeständliche Schopenhauerianer, der eine Professur in Deutschland erhalten hat, — und daß D<eussen> Schopenhauers glühendster Verehrer und Verkündiger ist (übrigens eminent rationell), daran bin ich schuld: er hat mir auf emphatische Weise für die Hauptwendung seines Lebens gedankt. Das Wesentlichere (in meinen Augen) ist, daß er der erste Europäer ist, der von Innen her der indischen Philosophie nahe gekommen ist: er brachte mir seine eben erschienenen Sûtras des Vedânta, ein Buch raffinirter Scholastik des indischen Denkens, in dem der Scharfsinn der modernsten europäischen Systeme (Kantismus, Atomistik, Nihilismus usw) einige Jahrtausende früher vorweg genommen ist (es sind Seiten darin, die wie „Kritik der reinen Vernunft“ klingen und nicht nur klingen) Das Werk ist auf Kosten der Berliner Akademie der Wissenschaften gedruckt; ich nehme an, daß D<eussen> bald genug ihr Mitglied sein wird. Er ist eine Spezialität; auch die sprachgelehrtesten Engländer (wie Max Müller), die ähnliche Ziele verfolgen, sind gegen D<eussen> Esel, weil ihnen „der Glaube fehlt“, das Herauskommen aus Schopenhauer-Kantischen Voraussetzungen. Er übersetzt jetzt die Upanischad’s: was würde Schopenh<auer> für eine Freude haben!!
— Fritzsch schweigt; aufrichtig, der Verkehr mit ihm seit einem Jahre hat mir unsinnig viel Überwindung gekostet. Es ist ein guter Kerl; aber ich will den Tag segnen, wo Alles hübsch zu Ende ist, und es nichts mehr zwischen uns zu verhandeln giebt. — Naumann sandte gestern den 4ten, heute (Donnerstag) den fünften Bogen. — Ich lege den Brief des Herrn Avenarius bei: ich will im Allgemeinen Ja sagen, in Hinsicht darauf, daß es gut ist, einen Ort zu haben, wo man gelegentlich in aestheticis mitreden kann. Dabei habe ich eigentlich mehr an Sie als an mich gedacht. A<venarius> ist ein Dichter (31 Jahre alt), mehr aber noch ein sehr rühriger Vermittler mit buchhändlerischem Instinkt. (Gottfried Keller sprach mir von ihm; er giebt Anthologien der allermodernsten Lyrik Deutschlands heraus und bringt es dabei zu mehreren Auflagen etc)
Frl. von Salis, die diesen Sommer mit ihrer Freundin Kym hier zugebracht hat (übrigens als Doktorin der Geschichte) ist gestern abgereist. Es regnet. Vielleicht auch bei Ihnen? — Ich rechne mir alle die schlimmen Herbste vor, die ich schon durchgemacht habe; bis jetzt ist es noch bei dem Venediger Plane geblieben. Die Frau am Canale grande gefällt mir nicht; ich würde Verdruß haben. Wie viel will man in der casa Petrarca für den Monat? Oder haben Sie etwas Neues in Sicht? — Sonderbar! Der römische Plan ist inzwischen erschüttert, auf eine Weise, die ich am letzten erwartet hätte. Vielleicht ist Rom Unsinn für mich? Und ich krieche wieder nach Nizza? Oh wenn Sie doch in N<izza> lebten! Ich schwöre Ihnen, der Sommer sollte Ihnen daselbst unvergleichlich wohler thun als in V<enedig> (Seewind von 10 Morgens bis 5; dann kühlere Strömung von den Gebirgen her, man geht Abends mit Paletot aus).

Mit herzlichstem Gruß
Ihr
Nietzsche.
Ich habe Ihnen noch gar nicht für Ihren guten Brief gedankt!! (Abreise von hier ca. 20. Sept.)
Durchschnitts-Temperatur des September in Sils 7 Grad Cels. Der Sprung nach Venedig vielleicht zu groß? —
904. An Ferdinand Avenarius in Dresden
Sils-Maria, Oberengadin, den 10. Sept. 1887.
Werthester Herr,
auf dergleichen Anfragen habe ich bisher immer Nein gesagt; es hilft nichts, ich muß es auch in diesem Falle thun. Sehen Sie darin nicht mehr als eine der fünftausend Necessitäten, die ein resoluter Wille zur Unabhängigkeit in sich schließt. Man ist nicht ungestraft „Philosoph“. Ich will schlechterdings nichts mit Zeitschriften zu thun haben: sie sind immer Parteischriften, und am meisten dann, wenn sie es selbst nicht zu sein glauben. — Ich kann, zu meinem Bedauern, hier weder von meiner alten Theorie, noch alten Praxis abgehn. —
Übrigens giebt man mir diese meine „Enthaltsamkeit“ artig genug zurück: man „enthält sich“ auch meiner. Wenigstens sagt mir dies Gottfried Keller (— „mein Name sei in deutschen Zeitschriften so gut wie nicht mehr vorhanden“.) Ich selbst, drei und vierzig Jahre alt, überdies, wie ich fürchte, Vater von fünfzehn Büchern (vielleicht verzähle ich mich? die Ziffer ist schrecklich) — ich selbst habe über mich noch nicht drei Zeilen gelesen, die mich interessirt hätten, irgend etwas Gründliches, Kluges, psychologisch-Zurechnungsfähiges. Dies als factum, nicht als „Seufzer“.
Um Ihnen andrerseits meine Antheilnahme zu beweisen, mache ich Sie, werthester Herr Lyricus, auf zwei Männer aufmerksam, deren feiner und freier Geschmack in artibus schon mehrfach meine Bewunderung erregt hat (— und die zu schreiben verstehn) Der Eine ist ein deutscher Musiker, der seit Jahren in Venedig lebt, in einer dedaigneusen Zurückgezogenheit; gelegentlich, sehr gelegentlich greift er auch zur Feder (unter irgend einem Pseudonym z. B. Thomas Mürner): man müßte ihn dazu verführen, seine Urtheile über Musik und Musiker niederzuschreiben. Ich gebe Ihnen die genaue Adresse, mit der Bitte um Diskretion: Signor Enrico Köselitz
San Canciano calle nuova 5256
Venezia
Der Andre ist ein Schweizer, Professor Spitteler (Neuveville im Kanton Bern); vielleicht ist er Ihnen unter dem Namen „Tandem“ bekannt? Ein paar ästhetische Aufsätze von ihm, die ich zufällig kennen lernte (z. B. eine „Kritik des modernen Orchesters“ von einem kulturhistorischen Gesichtspunkte aus, insgleichen über Theater, „theatralisch“, dies als Problem gefaßt) verriethen mir einen ungewöhnlich nachdenklichen und feinen Kopf (— er schreibt lustig: welches Glück!)
Beide Männer mögen Ihnen bestens empfohlen sein; ihre Mitarbeiterschaft würde der verwöhntesten Zeitschrift zur Ehre gereichen. Erinnern Sie sich, bitte, dieser obscurorum virorum wenn Sie sich etwa meiner wieder erinnern sollten…
Hochachtungsvoll
Ihr
ergebenster Prof. Dr. Nietzsche
vir obscurissimus.
Ad vocem Musik: hüten Sie Sich vor allen Wagnerianern, die schreiben, — das ist Hornvieh oder Sumpf.
905. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Sils-Maria, 11. September 1887>
Lieber Freund, wieder zwei böse Tage. Das Programm ist nun dies: ich gedenke Montag den 19ten abzureisen und Dienstag den 20 Abends in Venedig einzutreffen. Der Druckbogen, den Naumann Freitag den 16. Abends an Sie absenden wird, kann mir also muthmaaßlich von Ihnen schon bei der Ankunft eingehändigt werden; eben (Sonntag) langte der 6te Bogen an (in dem die zweite Abhandlung zu Ende kommt; fehlt noch die dritte Abhandlung und die Vorrede)… Ich sehe meinen betrübten und entarteten Hut vor mir; dabei fällt mir ein, daß ich voriges Jahr bei meinem Besuch Ihrer hübschen Höhle einen alten Hut von mir wiederfand, den einzigen, den ich bisher gern getragen habe (er war von Ihnen ausgewählt) Er schien mir noch restaurationsfähig (zu waschen, eventuell zu färben); gesetzt, daß er noch existirt, dürfte ich Ihre Leute bitten, denselben zu einem Hutmacher zu tragen? (Ich verhandelte darüber mit einem H<utmacher> an der kleinen piazza, wo Goldoni steht, vor der Rialtobrücke: er wollte in 4 Tagen fertig sein. Aber schließlich reiste ich noch vorher ab)
Hier ist es leer geworden. — Was ich mich darauf freue, Sie wieder zu begrüßen! Und wir wollen uns hübsch festigen und an den Händen halten: im Grunde steht es gut mit uns, so wie es steht…
Treulich Ihr Freund N.
906. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
Sils-Maria, Sonntag. <11. September 1887>
Meine liebe Mutter, leider gieng es wieder inzwischen ganz schlecht; heftiger Anfall. Sonst hätte ich mich schon eher für die deliziöse Wurst bedankt, welche wirklich, wie gewünscht, Freitag Nachmittag eintraf. Das ist etwas für Dein altes Geschöpf! Andre Jahre will ich das Herumexperimentieren mit Schinken lassen und gleich von vorn herein eine feste Bestellung auf solchen Schinken machen. — Ich war fleißig diesen Sommer, aber nun muß ich’s büßen; ich habe oft in den letzten Wochen wieder allen Muth verloren, es geht mit dem dummen Kopf nicht von der Stelle; Alles in Allem, ist mein Leben eine Thierquälerei. Unter diesen Umständen wird es wohl nichts mit Rom; am 20 September will ich nach Venedig (Adresse: Venezia (Italia) poste restante, der Name Nietzsche sehr deutlich geschrieben) Später wohl das alte Nizza. Hier ist es leer, ziemlich seit Mitte August.
In herzlicher Liebe dankbar Dein F.
907. An Josef Viktor Widmann in Bern
Sils-Maria Ober-Engadin den 11. September 1887.
Hochgeehrter Herr Doctor,
machen Sie, bitte, Ihrem ausgezeichneten Mitarbeiter dem Herrn Prof. Spitteler mein ergebenstes Compliment: ich las eben seine Kritik des modernen Orchesters. Wie viel Wissen, Takt, Unabhängigkeit des Unheils! welcher esprit, welche gute Artisten-Laune! Und was seinen Geschmack in rebus musicis et musicantibus anbetrifft, so verhindert mich nur Eins ihn zu loben, — daß es gerade mein Geschmack ist. Mir kamen dabei ein Paar nachdenkliche Sachen von ihm in’s Gedächtniß, die ich vorigen Winter in Nizza gelesen habe (über Theater und Theatralisches): leider ohne Kopf und Ende, in ganz zufällig erwischten einzelnen Sonntags-Beilagen des „Bund“. Könnte man dergleichen Aesthetica des genannten Herrn nicht beisammen lesen? Es gäbe ein Buch seltenen Ranges ab, gemacht für einige Feinschmecker und Abseitige, an denen es gerade heute nicht fehlt. Pulchrum est paucorum hominum. —
Gestern, von einem Dresdener Herrn Avenarius höflichst zu einem neu zu begründenden Kunstblatte eingeladen, habe ich mir die Freiheit genommen, an meiner Stelle Herrn Spitteler in Vorschlag zu bringen. —
Mit angelegentlichem Gruße
Ihr ergebenster
Dr. Nietzsche
Nota bene, ich habe mich noch gar nicht für die liebenswürdige Gesinnung Ihres Briefes bedankt! Gesetzt, daß Sie irgend einen Werth darauf legen sollten, die Geburt der Tragoedie in der zweiten Auflage zu besitzen (sie enthält ein Curiosum, den Versuch einer Kritik dieser Schrift, von mir selbst), so genügen zwei Worte an den Verleger Herrn E. W. Fritzsch, Leipzig, Königstraße 6 (derselbe ist über Ihre Antheilnahme an meinen Büchern unterrichtet; ich nehme an, daß die „fröhliche Wissenschaft“ glücklich in Ihre Hände gelangt ist?)
Zuletzt: würden Sie vielleicht gewillt sein, Herrn Johannes Brahms Etwas in meinem Namen zu überreichen, gesetzt, daß er noch in Ihrer Nähe ist? (nämlich eine Composition von mir, die jetzt eben erscheint: „Hymnus an das Leben“, Chor und Orchester)… Ich bin nämlich, wie Wagner sagte, eigentlich „ein verunglückter Musikus“ (er selbst sei ein „verunglückter Philologe“ —).
908. An Meta von Salis auf Marschlins
Sils-Maria, Mittwoch.<14. September 1887>
Verehrtestes Fräulein,
es scheint mir, daß Sie mit Marschlins den besseren Theil gewählt haben: denn Sils ist nichts mehr werth, seitdem Sie fort sind. Der September hat einen heimtückischen Charakter: kalt, schneeig, regnerisch, verdrossen — ich selbst bin jeden Augenblick krank. Stünde es anders, so hätten Sie längst Nachricht von mir, auch ein Wort herzlichsten Dankes: denn Sie haben mir wacker dabei geholfen, über einen schweren und im Grunde von conträren Winden heimgesuchten Arbeits-Sommer — „hinwegzugondeln“. — Daß Sie meine Bücher lesen, macht mir jetzt weniger Besorgniß: der kürzeste persönliche Verkehr wirkt als Correktur auf ein bloß buchmäßiges Kennenlernen fremder Meinungen und Werthe; — man sieht, hört und schließt hintendrein ruhiger (alles Gedruckte ist an sich noch zweideutig und macht Unruhe) — Eben ist ein erbärmlicher Aufsatz angelangt, von einem Spiritisten und Wagnerianer abgefaßt, des Titels: „Variationen über Themen von Friedrich Nietzsche“. Insgleichen kam eine Einladung des Dresdener Avenarius, meinen Namen mit zur Begründung eines neuen Kunstblattes herzugeben: natürlich Nein gesagt. — Malvida schweigt. — Den 20. Sept. will ich nach Venedig abreisen; der Herbst scheint kalt zu werden: das ist in Hinsicht auf die Lagunenstadt für mich eine Hoffnung. — Neulich, an einem gründlichen Regentage, entwickelte sich ein artiges, sehr principielles Gespräch, bei dem die Rollen hübsch vertheilt waren: der preußische Landrath, der Mediziner aus Gießen, der Jurist aus Heidelberg (Geh.Rath Gierke) und ich (comme philosophe). — Mein Druck ist beim letzten Drittel angelangt; das Buch wird heißen „Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift“. Damit ist nunmehr alles Wesentliche angedeutet, was zur vorläufigen Orientierung über mich dienen kann: von der Vorrede zur Geburt der Tragödie bis zur Vorrede des letzt genannten Buchs — das giebt eine Art „Entwicklungsgeschichte“. Nichts ist übrigens degoutanter, als sich selbst commentieren zu müssen; aber bei der vollkommnen Aussichtslosigkeit dafür, daß irgend jemand Anders mir dies Geschäft hätte abnehmen können, habe ich die Zähne zusammengebissen und gute Miene, hoffentlich auch „gutes Spiel“ gemacht. Die Arbeit eines ganzen Jahrs! (eingerechnet das fünfte Buch der gaya scienza, das ich besonders empfehle) — Mein verehrtes Fräulein, behalten Sie diesen Sommer in guter Erinnerung, — ich will es auch thun.
Mich Ihrer ausgezeichneten Freundin angelegentlich empfehlend bleibe ich Ihr
ergebenster Diener
Dr Friedrich Nietzsche.
NB. Aber man soll nicht sagen: „Marschlins bei Igis“, sondern „Igis bei Marschlins“ — oder vielmehr, man soll gar nicht „Igis“ sagen… Ich vergaß, mich Ihrer verehrten Frau Mutter zu empfehlen.
909. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Postkarte)
<Sils-Maria, 15. September 1887>
Werthester Herr Verleger, hiermit die Anzeige, daß meine Adresse von nun an Venedig ist: also
Venezia (Italia)
poste restante
Für die „Variationen“ jenes spiritistischen Herrn bedanke ich mich schönstens, in Hinsicht auf guten Willen: doch zweifle ich, daß er zur Verdeutlichung meiner Gedanken beiträgt.
— Sind Sie sicher, daß Hr. Dr. Widmann (Redaktion des „Bund“, in Bern) ein Exemplar der „fröhl<ichen> Wiss<enschaft>“ erhalten hat? Er schrieb mir vor c. 2 Monaten nichts davon, drückte aber einen außerordentlichen Respekt vor der „Geburt der Trag<ödie>“ aus (er hat deren zweite Auflage noch nicht)
Sind von der Partitur des Hymnus schon Exemplare fertig?
— Mit ergebenstem Gruße
Dr. Nietzsche.
Meine Gratulation zu der 2. Wagner-Ausgabe!
910. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig
<Sils-Maria, 15. September 1887>
Werthester Herr Verleger,
noch ein Wort aus Sils-Maria! So eben meldet mir Dr. Widmann (Berner „Bund“) den ich eigens darüber gefragt habe: daß er in der That drei Monate umsonst auf die „fröhliche Wissenschaft“ gewartet habe. Dies ist bedauerlich: was ist denn passirt? Dr. Widmann hat im vorigen Sommer einen längeren sehr intelligenten Essai über mein „Jenseits von Gut und Böse“ gebracht; er war mir bis dahin unbekannt. Inzwischen hat er mir noch seine tiefe Anhänglichkeit an gewisse Gedanken der „Geburt der Tragödie“ ausgedrückt; mehr scheint er nicht von mir zu kennen. Ich glaube, Sie thäten gut, ihm alle meine Bücher zum Zweck einer längeren Besprechung zu präsentieren; sein Blatt, das verbreitetste Schweizer Blatt, ist überall auf der Erde zu finden, wo es Schweizer giebt (— und ich, als Einer, der fast 19 Jahre hauptsächlich in der Schweiz gelebt hat und der 10 Jahre an einer Schweizer Hochschule thätig war, bin, wie sich von selbst versteht, unter Schweizern sehr bekannt)
Auf meiner Karte von heute morgen theilte ich Ihnen mit, daß meine Adresse von nun an Venezia (Italia) poste restante ist.
Sie sind mir immer noch die Adresse des Herrn Hans von Bülow schuldig.
Mit herzlichem Gruße
Ihr ergebenster
Prof. Dr. Nietzsche
Insgleichen ist ein Dozent der Berliner Universität zu einer Gesammtbesprechung meiner Bücher in Arbeit: wie mir mein Freund Prof. Deussen von dort meldet.
911. An Heinrich Köselitz in Venedig
Sils-Maria, Donnerstag. <15. September 1887>
Lieber Freund,
daß Sie einen so guten Eindruck von den zwei ersten Abhandlungen haben, macht mich glücklich. Nun kommt noch die dritte: in etwas andrer Tonart, anderem Tempo (mehr „Finale“ und Rondo), und, vielleicht, noch verwegener concipirt. Das Stärkste aber ist die „Vorrede“: wenigstens kommt darin das starke Problem, das mich beschäftigt, zum kürzesten Ausdruck. —
Was Venedig betrifft, so wollen wir es bei der Verabredung lassen, von der meine letztabgesandte Karte redete, — daß ich nämlich den nächsten Dienstag Abend, mit dem Zuge wie gewöhnlich, eintreffe. Hier friere ich zu sehr, ich kann kaum schreiben: der Herbst ist wesentlich kälter als andre Jahre (und trüber, regnerischer: was das Gefühl für die Kälte verschärft) Ich schwankte, aufrichtig, zwischen Venedig und — Leipzig: letzteres zu gelehrten Zwecken, denn ich habe in Hinsicht auf das nunmehr zu absolvirende Hauptpensum meines Lebens noch viel zu lernen, zu fragen, zu lesen. Daraus würde aber kein „Herbst“, sondern ein ganzer Winter in Deutschland: und, Alles erwogen, räth mir meine Gesundheit für dies Jahr dringend noch von diesem gefährlichen Experimente ab. Somit läuft es auf Venedig und Nizza hinaus: — und auch, von Innen her geurtheilt, brauche ich jetzt die tiefe Isolation mit mir zunächst noch dringlicher als das Hinzulernen und Nachfragen in Bezug auf 5000 Einzelne Probleme.
Denn in der Hauptsache steht es gut: der Ton dieser Abhandlungen wird Ihnen verrathen, daß ich mehr zu sagen habe als in denselben steht.
Die Wohnungsfrage, lieber Freund, steht ganz bei Ihnen. Die Nähe des St. Marco-Platzes ist mir lieb. Zu Gunsten der casa Fumagalli mache ich geltend, daß sie mir nicht mehr fremd ist, daß die Damen anständige und gute Manieren haben, daß Alles reinlich ist; aber das Licht war schlimm für meine Augen, auch die Decke zu niedrig. Eine chaise longue (um mich auszustrecken) habe ich nöthig: ich bin so viel krank. — Was die Hôtels betrifft, so glaube ich, daß man z. B. in dem Hôtel am St. Marco-Platze (heißt es nicht Albergo San Marco?) einzelne Zimmer miethen kann (mit Aussicht auf den Platz), ohne im Übrigen zum sonstigen Zubehör des Hôtellebens (Table d’hôte usw) verpflichtet zu sein? Denn eine völlig unabhängige Diät ist für mich eine Hauptsache. (Ich habe hier den ganzen Sommer allein gegessen, und immer dasselbe.) Kein Wein, keine Schnäpse: soviel habe ich „begriffen“.
Das Bett muß mit einer Zanzariera geschützt sein (wie auch in Nizza)
Gesetzt, daß meine Gesundheit nicht protestirt, so würde ich gern den Aufenthalt auf 2 Monate projektiren: vor dem 20. November in Nizza einzutreffen hat wenig Sinn (— Erfahrung des letzten Jahres!)
Gute Leute, zu denen ich Vertrauen haben kann, sind die Hauptsache bei der Wohnungs-Frage; insgleichen Reinlichkeit. Denn ich bin in Bezug auf Menschen und Sachen (sonderlich Betten) von einer unangenehmen und beinahe nervösen Geneigtheit zum Ekel: was das Leben mir sehr erschwert hat.
Im Übrigen liebe ich Ihre Stadt, lieber Freund, obschon sie den großen Fehler hat, daß sie stinkt. Nizza, als Stadt und „Mensch“, liebe ich nicht; aber es stinkt nicht. Complexität des „Herzens“!
Hoffentlich thun keine Telegramme weiter noth. Ich will C. G. Naumann benachrichtigen, daß er die Correkturen nunmehr auch für mich nach Venedig schickt.
In herzlicher Freude über die Nähe unseres Wiedersehns
Ihr N.
912. An Josef Viktor Widmann in Bern
Sils, den 15. September 1887.
Malheur! Gleichzeitig mit meinem ersten Brief kam die Mittheilung des Verlegers, daß die „Fröhliche Wissenschaft“ an Sie abgesandt sei. Was mag geschehen sein? Ich habe von Herrn E. W. Fritzsch umgehend Auskunft verlangt. —
— Was die Werke des Herrn Spitteler angeht: so darf man dergleichen feine Sachen den heutigen Deutschen eigentlich nicht zumuthen. Es steht nicht zum Besten mit dem „Deutschen Geiste“. Ich selbst, wenn ich eine Reise nach Deutschland nöthig habe, mache mir vorher immer erst mit einem naturwissenschaftlichen Spruche Muth, zum Beispiel:
Um das Rhinozeros zu sehn,
Beschloß nach Deutschland ich zu gehn.
Mit ergebenstem Gruße
Ihr
N. philosophus
(extramundanus, trotzalledem
aber auch „tandem aliquando“… )
NB. Der Hymnus ist noch nicht zur Absendung bereit. Meine Adresse von jetzt: Venezia, ferma in posta.
913. An Franz Overbeck in Basel
Sils-Maria den 17. Sept. 1887.
Lieber Freund,
vermuthlich bist Du schon in Basel, und vielleicht auch schon wieder in tiefer Arbeit: sie wird Dir eine Art Wohlthat sein, nach den überaus schmerzlichen und unabweislichen Eindrücken, die dieser Sommer für Dich mit sich brachte. Ich habe Deinen Bericht mit tiefem Antheile gelesen. —
Dies ist mein letzter Brief, den ich in Sils noch zu schreiben habe: denn ich stehe vor der Abreise. Die nächste Adresse ist, wie ich schon neulich in Aussicht stellte, Venezia, ferma in posta. Es wäre mir werthvoll, das Geld, etwa zur Hälfte, in italiänischem Papier (die andre in französischem) zu erhalten. Meine Absichten gehen dahin, etwa zwei Monate in Venedig zu bleiben (und die dortige Bibliothek auf meine Interessen hin einmal in Erwägung zu ziehn); dann aber wieder Nizza aufzusuchen. Die Frage „Klima, Helligkeit des Himmels, Trockenheit der Luft“ hat sich dies Jahr mir wieder in ihrer kardinalen Wichtigkeit ins Gedächtniß geschrieben. Ich darf* noch nicht mit Neuem experimentieren. (Später ist, aus Gründen meiner Studien, der Aufenthalt an einer großen Universität mir unumgänglich: wahrscheinlich Leipzig, wo bei weitem das meiste Entgegenkommen für mich ist: ich bin froh, unter uns gesagt, daß der Rüpel Rohde sich dort nicht festgesetzt hat… )
Meine Gesundheit ist seit meinem letzten Briefe wieder in entschiedenem Rückgange; der frühe Herbst (mit überwiegend schlechtem Wetter) hat mir arg zugesetzt.
Der Zufall mit der verloosten Obligation kommt mir insofern nicht unbequem, als ich in Kürze (etwa in 1 1/2 Monat) eine größere Summe Geld brauche, um meinen letzten Druck zu bezahlen. Mit dieser Schrift (drei Abhandlungen enthaltend) ist übrigens meine vorbereitende Thätigkeit zum Abschluß gelangt: im Grunde gerade so, wie es im Programm meines Lebens lag, zur rechten Zeit noch, trotz der entsetzlichsten Hemmnisse und Gegen-Winde: aber dem Tapferen wird Alles zum Vortheil. (Der einzige bisherige Leser der genannten Schrift „Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift“, mein alter ständiger Correktor Köselitz hat, wie der beiliegende Brief verräth, viel Vergnügen an ihr)
Professor Deussen hat mich hier besucht, mit seiner kleinen Frau; rührende Anhänglichkeit an mich. Er reist nach Griechenland; der Umweg über Sils war sehr liebenswürdig. Übrigens der erste Philosophie-Professor Schopenhauerschen Bekenntnisses: und, daß er zu dieser Denkweise gelangt ist, daran soll ich und niemand sonst schuld sein. Va benissimo! Ich lege mehr Werth darauf, daß D<eussen> der erste europäische Gelehrte ist, der die indische Philosophie von Innen her, auf Grund Kantisch-Schopenhauerscher Vorbereitung, versteht (— er „glaubt“ an sie: dazu war in der That Schop<enhauer> die nothwendige Zwischenstufe) Er brachte mir das raffinirteste Werk jener Philosophie, die Sûtras des Vedânta, von ihm übersetzt und auf Kosten der Akademie gedruckt. —
Weißt Du etwas Persönliches von Herrn Carl Spitteler, der jetzt in Basel lebt (Gartenstr. 74: er schrieb an mich)? Unzweifelhaft ein eminent feiner und interessanter Kopf; wie steht er sonst? Er scheint verbittert; trinkt er? — Ich suche für seine ästhetischen Abhandlungen einen Verleger (…für mich selber einen Verleger zu finden habe ich aufgegeben… ) Mich Dir und Deiner lieben Frau angelegentlichst empfehlend
Dein Freund
N.
914. An Carl Spitteler in Basel
Sils-Maria, den 17. Sept. 1887.
Werthester Herr,
ein einziges Wort für Ihre Zeilen: denn ich stehe in Begriff, abzureisen. — Sie räsonniren auf Redaktionen und Verleger, — das nimmt mich ein wenig gegen Sie ein, Verzeihung! Wenn man Dinge hervorbringt, die nicht Futter für die Masse sind, so darf man es den Lieferanten der Masse nicht verargen, wenn sie dagegen gleichgültig bleiben. Deshalb brauchen sie weder „feige“ noch „feil“ zu sein. —
Man muß eine solche Lage als sein Vorrecht behandeln (ich rede aus Erfahrung) und seine Heiterkeit, trotzalledem, mit den Zähnen festhalten. Wer heute „am besten lacht“, der lacht auch — glauben Sie mir das! — zuletzt…
Und — man muß nicht von seinen Talenten leben wollen (gesetzt nämlich, daß es Ausnahme-Talente sind)
Mit dem Ausdrucke
meiner herzlichen Antheilnahme
Ihr ergebenster
Prof. Dr. Nietzsche
NB. Ich will ein paar Versuche machen, für Ihre Aesthetica einen Verleger zu schaffen.
(Die kleine Litteratur-Gans Druscowicz ist Alles Andere als meine „Schülerin“…)
915. An Heinrich Köselitz in Venedig (Telegramm)
Cadenabbia <20. September 1887>
domani sera — Nietzsche
916. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Sommer/Herbst 1887>
Herzlichsten Dank. Fritz
917. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Venedig, 24 September 1887>
Meine liebe Mutter, nur ein Wort der Beruhigung. Seit 3 Tagen in Venedig; die Stadt vollkommen gesund; die Krankheit ist im Süden Italiens, namentlich in Sicilien. Italien ist etwas sehr Langes; Du würdest Dich doch gewiß nicht in Naumburg beunruhigt fühlen, wenn Du hörtest, daß in Zürich die Cholera sei. Die Luft ist schöner, kräftiger, klarer als ich sie je in Venedig gefunden habe. Ich denke bis zum 21. Oktober hier zu bleiben. Adresse: Venezia, calle dei preti 1263 (San Marco)
Ich freue mich über die guten Nachrichten aus P<araguay>. Danke für das Haarbürstchen! Vielleicht komme ich übers Jahr zu dieser Zeit nach Leipzig, zu längerem Aufenthalt.
Dein altes Geschöpf.
918. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Venedig, 24. September 1887>
Lieber Freund, in Venedig angelangt, unter erträglicheren Bedingungen als andere Male. Die Luft auch jetzt limpida elastica. Die Reise selbst nicht ohne Gefahr (Sturm und Gewitter auf dem Comersee) Ich finde unsern maëstro besser eingerichtet als sonst; ein herrliches neues Pastorale (für Orchester) verräth mir das schönste Gleichgewicht und Glück am Vollkommenen, — so daß ich nunmehr diese Sorge ad acta lege. — Was das Geld anbetrifft, so scheint es mir besser, wenn Du mir hierher nur 300 frs ital<ienisches> Papier schickst (den Rest später nach Nizza) Ich glaube doch nicht länger als bis c. den 21. Okt. hier zu bleiben. (Das Licht ist äußerst angreifend für meine Augen; es ist ein grundverschiedenes Licht als das in Sils und Nizza, von wegen der Luftfeuchtigkeit.) Ein guter (aber feindseliger) Aufsatz über „Jenseits“ in der Nationalzeitung (4 Dezemb. 1886) hier mir erst zu Gesicht kommend.
Treulich Dein N.
Adresse: Venezia, calle dei preti 1263 (San Marco)
919. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)
<Venedig,> 1. Oktober 1887.
Geehrtester Herr Verleger, ich vergaß, mir die Aushängebogen von Alledem, was nunmehr fertig ist, auszubitten. Also, wie ich annehme, die ersten 8 Bogen.
Ergebenst
Prof. Dr Nietzsche
920. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Venedig, 1. Oktober 1887>
Meine liebe Mutter, noch ein Kärtchen! Die Augen erlauben nicht mehr zu schreiben, sie sind hier kitzlicher als anderswo. Sonst aber ist es gut gegangen, der Übergang vom Engadin nach Venedig hat sich bewährt. Allerdings das günstigste Wetter; heiterer Himmel, kühle angenehme Luft. Ich bleibe bis zum 20. Oktober hier: hinterdrein Nizza. Bitte sende mir in Deinem nächsten Briefe drei der vier Postmarken aus Paraguay: ich habe sie Jemandem versprochen, der mir eine große Gefälligkeit erwiesen hat. Freund Köselitz ist hier besser eingerichtet, besorgt, ernährt, wie ich zu meiner Freude finde, als ich es je auf meinen Reisen bin; viel unabhängiger, viel „würdiger“; auch macht er die schönste Musik, die heute überhaupt gemacht wird.
In herzlicher Liebe
Dein altes Geschöpf.
Venezia (San Marco) calle dei preti 1263
921. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Postkarte)
<Venedig, 5. Oktober 1887>
Lieber Herr Fritzsch, ich bitte Sie, mir hierher nach Venedig 22 Exemplare des Hymnus zu schicken (gut zwischen 2 feste Cartons gepackt) Ich will Alles von hier aus expedieren, da ich mancherlei dabei zu schreiben habe (in Hinsicht auf event<uelle> Aufführungen für diesen Winter); auch werde ich den Fehler überall corrigieren. —
Meine Adresse ist: (bis zum 20. Oktober)
Venezia, calle dei preti 1263
(San Marco)
Legen Sie doch bei (oder senden Sie apart) einen Musiker-Calender, worin Namen und Adressen stehn. Es giebt doch so etwas? — (Schreiben Sie es mir auf Rechnung, bitte)
Mit ergebenstem Gruß Ihr
Prof. Dr. Nietzsche
922. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
<Venedig, 5. Oktober 1887>
Als achter Abschnitt der Vorrede einzuschieben: so daß der letzte Abschnitt derselben nunmehr die Nummer 9 bekommt.
Zuletzt, daß ich wenigstens mit Einem Worte auf einen ungeheuren und noch gänzlich unentdeckten Thatbestand hinweise, der sich mir langsam, langsam festgestellt hat: es gab bisher keine grundsätzlicheren Probleme als die moralischen, ihre treibende Kraft war es, aus der alle großen Conceptionen im Reiche der bisherigen Werthe ihren Ursprung genommen haben (— Alles somit, was gemeinhin „Philosophie“ genannt wird; und dies bis hinab in deren letzte erkenntnißtheoretische Voraussetzungen) Aber es giebt noch grundsätzlichere Probleme als die moralischen: diese kommen Einem erst in Sicht, wenn man das moralische Vorurtheil hinter sich hat, wenn man als Immoralist in die Welt, in das Leben, in sich zu blicken weiß…
923. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)
<Venedig> Donnerstag. <5. Oktober 1887>
Geehrtester Herr Verleger
das heute morgen abgesandte Stück Manuscript (Nachtrag zur Vorrede) soll nicht gelten; es bleibt also bei der ursprünglichen Anordnung, nach der die Vorrede 8 Abschnitte hat.
Ihr ergebenster N.
924. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Venedig, Montag <10. Oktober 1887>
Meine liebe Mutter,
ich danke Dir herzlich für Deinen Brief, der mich erheiterte; auch brachte er sehr gute Nachrichten über unsre Südamerikaner. Es scheint in der That, daß das Lama ihrer dortigen Aufgabe auf das Tapferste nachkommt, — insgleichen daß sie eine Aufgabe hat, bei der ihre Talente sich frei und natürlich entfalten können: mehr darf man eigentlich vom Leben nicht wünschen. Wenn die Sache geräth, so hat sie (wie mir wenigstens vorkommen will) den Löwenantheil am Gelingen. Die Männer geben in solchen Fällen allerdings die Initiative, aber meistens auch das Malheur hinzu. — Die Zeit bisher in Venedig war im Ganzen nicht ungünstig; im Grunde habe ich seit 10 Jahren keinen Ort für den Herbst gewählt, der sich so wohlthätig erwiesen hätte, wie dies Venedig. Allerdings auch ein Wetter ohne Vergleich; klar, frisch, rein, wolkenlos, fast wie in Nizza. Unsern Köselitz finde ich besser eingerichtet (würdiger, distinguirter, unabhängiger) als ich es je gewesen bin. Die alte vornehme Familie, in deren Haus er wohnt, lebt ganz für ihn, hat seit seinem Wiederkommen die besten Zimmer ihm abgetreten, kocht für ihn: so daß er auch besser genährt ist als man es sonst im Süden wird. In dieser verbesserten Lage hat er wieder wunderschöne Musik gemacht, die sich auf das Glücklichste von dem Wagnerischen Kampf- und Krampfwesen unterscheidet. Wir Beide sind nicht gar zu leicht nach dem lieben Vaterlande zu verführen; die Bornirtheit daselbst macht mich lachen; und wenn ich es vielleicht nöthig habe, dorthin zurückzukehren (zu gelehrten Zwecken), so werde ich mir erst mit einem naturwissenschaftlichen Sprüchlein Muth machen, zum Beispiel:
„Um das Rhinozeros zu sehn,
„Beschloß nach Deutschland ich zu gehn.“
Ich fand hier beieinander, was in den deutschen Zeitschriften Alles über mein letztes Buch gedruckt worden ist: ein haarsträubendes Kunterbunt von Unklarheit und Abneigung. Bald ist mein Buch „höherer Blödsinn“, bald ist es „diabolisch berechnend“, bald verdiente ich, dafür aufs Schaffot zu kommen (wenigstens nach der Art der früheren Zeiten, sich gegen unangenehme Freigeister zu wehren) bald werde ich als „Philosoph der junkerlichen Aristokratie“ verherrlicht, bald als zweiter Edmund von Hagen verhöhnt, bald als Faust des neunzehnten Jahrhunderts bemitleidet, bald als „Dynamit“ und Unmensch vorsichtig bei Seite gethan. Und dies Stück Erkenntniß in Bezug auf mich hat ungefähr 15 Jahre Zeit gebraucht; hätte man etwas von meiner ersten Schrift „Geburt der Tragoedie“ verstanden, so hätte man schon damals in gleicher Weise sich entsetzen und bekreuzigen können. Aber damals lebte ich unter einem hübschen Schleier und wurde vom deutschen Hornvieh verehrt, gleich als ob ich zu ihm gehörte. Nun, dies hat seine Zeit gehabt. Unzweifelhaft werde ich immer noch einige Jahre früher in Frankreich „entdeckt“ sein, als im Vaterlande.
Meine Absicht ist, am 21. Oktober von hier nach Nizza überzusiedeln, zu einem langen arbeitsamen Winter.
Dein altes Geschöpf.
In Hinsicht auf eine frühere Frage: man zahlt Strafe, wenn etwas Geschriebenes in ein Paket eingelegt wird: ich rede aus Erfahrung.
925. An Elisabeth Förster in Asuncion
Venedig 15 Okt <1887>
Mein liebes Lama,
heute ist, wenn mich nicht Alles täuscht, mein Geburtstag: was kann ich Besseres an ihm thun, als dem alten Lama einen Brief schreiben? Denn man soll wenigstens den kleinen guten Rest von natürlichen „Bindebänderchen“ noch festhalten, wenn man übrigens, wie es im Schicksal eines Philosophen liegt, verurtheilt ist, so unangebunden und abseits wie möglich zu leben. Letzterem Ideale habe ich mich in den letzten 10 Jahren tapfer angenähert: ein kleiner Beweis dafür mag es sein, daß heute nur ein einziger gratulierender Brief an mich eingelaufen ist: der unsrer guten Mutter. Von ihr bin ich inzwischen sorgsam über die Fortschritte der Colonisation unterrichtet worden; und aus dem Tone einer gewissen fröhlichen Zuversicht, der aus Deinen eignen Briefen klingt, mein liebes Lama, entnehme ich eigentlich noch Besseres: Ihr selber schreitet vorwärts und nicht nur Eure Colonisation. Ich wünschte, nicht so gänzlich den Tendenzen und Aspirationen meines Herrn Schwagers mich entgegengesetzt zu fühlen, um mit dem Gelingen seiner Unternehmung noch gründlicher sympathisiren zu können. So aber, wie es steht, habe ich mit einiger Noth bei mir auseinanderzuhalten, was ich persönlich in Eurem Falle wünsche und was ich sachlich vielleicht daran verwünsche. Reden wir von angenehmeren Dingen. Von diesem Sommer her habe ich Dir noch mehrere herzliche Grüße auszurichten: denn Sils-Maria bringt immer eine Anzahl Menschen zusammen, die mir ein Stück meiner und unsrer Vergangenheit vor Augen stellen. Dies Mal war Basel daselbst glänzend vertreten, nämlich mit der Kopfzahl von 36 Personen (viele Kinder dabei) Frau Allioth-Vischer (ehemals Sally) und ich — wir haben uns auf <das> artigste gegen einander benommen; sie gedachte viel der „guten alten Zeit“, das jetzige Leben mit den deutschen Professoren in Basel scheint jetzt grundverschieden. Dann hat Deussen mich auf ein paar Tage besucht, auf einem liebenswürdigen Umwege Berlin—Sils—Athen. Er brachte mir seine Ernennung zum Professor mit: die erste Philosophie-Professur eines anerkannten Schopenhauerianers, noch dazu in Berlin! Insgleichen hat Frl. von Salis sich 6 Wochen in Sils aufgehalten, um sich von den Strapazen der Doktorpromotion zu erholen; sie hatte eine kranke kleine Freundin bei sich, die Tochter des Prof. Kym, und ich habe Humanität genug gehabt, um mich dieser im Grunde unerquicklichen, wie sehr auch achtbaren Weiblichkeiten so gut ich konnte anzunehmen. Meine englisch-russische Gesellschaft war dies Mal in Maloja im Grandhôtel; so gab es nur einige Besuche hin und her, auch noch auf der Herreise nach Venedig (— wir verlebten einen prachtvollen September-Nachmittag am Comersee zusammen) Vom Tode H<einrich> von Steins sage ich nichts; wieder ein Ring weniger in der noch so kleinen Kette meiner menschlichen Beziehungen. Es verwundete mich wie eine persönliche Beraubung. Ebenso that mir der Tod des alten General Simon sehr weh; auch ist er in Hinsicht auf mein Leben im Süden eine ernstliche Einbuße, denn dieser alte Mann vertrat bei mir „die praktische Vernunft“ (eigentlich lebe ich nur noch dank seinen guten Rathschlägen). Freund Köselitz grüßt auf das Herzlichste; er lebt hier in seiner Muschel (Venedig) geschützt und behütet, gut versorgt, in jedem Punkte besser als früher: so daß meine absurde, aber aus Gesundheitsgründen absolut gebotene Vagabondage aus einem ruppigen Kämmerchen ins andre, als „garçon meublé“, wie ich mich nenne, hier ihr Gegenstück findet. Die Gesundheit, in diesem Frühjahr wieder auf das Tiefste beunruhigt und beunruhigend, hat im Sommer wieder Fortschritte gemacht; die Anfälle wurden seltener, die geistige Thätigkeit konnte wieder aufgenommen werden. Meine „Litteratur“ ist jetzt auf die Beine gestellt; nach der letzten Berechnung habe ich jetzt im Ganzen 800 Thaler (= 3000 frs.) Druckkosten gehabt (und nichts verdient!) Andrerseits nicht die geringste Aussicht, daß einmal, wenn mein Hauptwerk fertig ist, es auf andrem Wege zur Welt kommt als durch „Selbstdruck“. Meine Stellung hat sich präcisirt: die Abneigung gegen meine Denkweise ist überall aufgewacht, wo man nur aufgehört hat, mich zu verwechseln (wie früher allgemein) Vergieb mir in Hinsicht auf diese Zukunftssorge (nämlich um die Ermöglichung meines Hauptwerks, in dem sich das Problem und die Aufgabe meines Lebens concentrirt), wenn ich mich jetzt in Geldsachen unfreiwillig ängstlich und zögernd benehme. Ich verstehe meine Lage jetzt und habe keine Illusion mehr: dies ist auch ein Fortschritt.
So! Nun habe ich wieder mit dem alten Lama geplaudert! Dir und Deinem Bernhard die besten Wünsche
Deines F.
Adresse für den Winter: Nizza, France pension de Genève pet. rue St. Etienne
926. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)
<Venedig, 15. Oktober 1887>
Werthester Herr Verleger, der 10te Bogen scheint verloren gegangen, mitsammt dem Manuscript; wenigstens ist er bis heute (15 Oktober) weder bei Herrn Köselitz noch bei mir angelangt. Eben expedieren wir den 11ten Bogen. Ich selbst reise Freitag (den 21 Oktober) Morgens ab; was Dienstag Abend von Leipzig abgeht, kommt noch hier in meine Hände. Meine spätere Adresse ist: Nizza (France) pension de Genève, pet. rue St. Etienne. — Ich bemerke, daß es eine einzige direkte Verbindung zwischen Leipzig und Venedig giebt. —
In dem 8. Aushängebogen habe ich 2 Fehler entdeckt, die wahrscheinlich auf mein Conto kommen.
Hochachtungsvoll und mit der Bitte größter Beschleunigung
Ihr Dr. N.
927. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Venedig, 17. Oktober 1887>
Lieber Freund, es geht mit meinem Venediger Aufenthalt zu Ende: den nächsten Freitag reise ich nach Nizza ab. Meine Adresse daselbst ist wieder: pension de Genève, pet. rue St. Etienne. Hoffentlich ein Winter ohne Erdbeben! Bitte, sende an diese Adresse die noch restirenden 700 frs. in französ. Papier! Ich habe dieses Jahr etwas Mühe gehabt, mit meinen Geldern durchzukommen und versucht so gut wie möglich zu ökonomisiren: jeden Tag ein frs. weniger — das war das Problem. Ebendeshalb will ich jetzt nichts Neues versuchen (wie Rom), sondern mich nach einem „Bette“, das mir bekannt ist „strecken“. — Du wirst in großer Arbeit sein, alter Freund? Nimm meinen herzlichsten Gruß und empfiehl mich Deiner lieben Frau! (Ich vergaß Dir für die Übersendung der 300 frs. ital. <Papier> zu danken!) Etwas augenleidend.
Dein Nietzsche.
928. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)
<Venedig, 18. Oktober 1887>
Nachtrag zur Correktur der Vorrede.
In deren siebenten Abschnitt ist an Stelle von
das hundertartige Drama
herzustellen:
„das dionysische Drama“
Prof. Dr. Nietzsche
929. An Franziska Nietzsche in Naumburg
den 18. Oktober <1887> Venedig
Meine liebe Mutter,
Dein Brief, am Geburtstage eintreffend, fand mich bei einer Thätigkeit, an der Du Vergnügen gehabt hättest: ich schrieb gerade ein Briefchen an das südamerikanische Lama. Dein Brief und Deine Glückwünsche waren übrigens die einzigen, die bei mir anlangten: was mir einen guten Begriff von meiner inzwischen erreichten „Unabhängigkeit“ gegeben hat: letztere aber ist für einen Philosophen die Bedingung ersten Ranges. Hoffentlich hast Du an meinen letzten Mittheilungen die gute Laune nicht überhört, mit der ich Dir die Speisekarte deutscher Urtheile über mich vorlegte: diese kennen zu lernen hat mich wirklich erheitert, — auch bin ich Menschenkenner genug, um zu wissen, wie sich in 50 Jahren das Urtheil über mich herumgedreht haben wird, und in welcher Glorie von Ehrfurcht dann der Name Deines Sohnes strahlt, wegen derselben Dinge, derentwegen ich bis jetzt mißhandelt und beschimpft worden bin. Seit meiner Kindheit nie ein tiefes und verständnißvolles Wort gehört zu haben — das gehört eben zu meinem Loos, auch erinnere ich mich nicht, darüber geklagt zu haben. Übrigens bin ich „den Deutschen“ gar nicht gram deshalb; erstens fehlt ihnen gerade die ganze Bildung, der ganze Ernst für die Probleme, wo mein Ernst ist, und dann — sie sind wirklich sehr okkupirt und haben alle Hände voll zu thun, als daß sie Zeit hätten, sich mit etwas absolut Fremdem zu beschäftigen. Anbei, zu Deiner Beruhigung gesagt: Du scheinst zu glauben, daß der Widerspruch, den ich finde, etwas Wesentliches mit meiner Stellung zum Christenthum zu thun hat. Nein! So „harmlos“ ist Dein Sohn nicht, so „harmlos“ sind auch meine Herrn Gegner nicht. Die Urtheile, die ich Dir schrieb, stammen sammt und sonders aus der Sphäre der unkirchlichsten Parteien, die es jetzt giebt; das waren keine Theologen-Urtheile. Fast jede dieser Kritiken (die zum Theil von sehr intelligenten Kritikern und Gelehrten stammten) wehrte sich ausdrücklich gegen den Verdacht, als ob sie etwa mich durch den Hinweis auf die Gefährlichkeit meines Buchs „den Kanzelraben und den Altarkrähen ausliefern“ wollte. Der Gegensatz, in dem ich mich befinde, ist hundert Mal radikaler, als daß dabei die religiösen Fragen und Confessions-Schattirungen ernstlich in Betracht kämen.
Verzeihung für diese allzulange Zwischenrede: aber wenn ich sage, daß die intelligentesten Gelehrten sich in Bezug auf mich bisher vergriffen haben, so versteht es sich von selber, daß der alte Pinder nicht etwa feiner gewesen ist. Der empfand natürlich nichts weiter als daß seine und meine Ansichten verschiedene Ansichten sind, — und bedauerte dies. —
Die Nachrichten über Paraguay sind wirklich sehr erquicklich; doch fehlt bei mir immer noch auch der leiseste Wunsch, mich in die Nachbarschaft meines antisemitischen Herrn Schwagers zu setzen. Seine und meine Ansichten sind verschiedne Ansichten: — und ich bedaure dies nicht. —
Der Koffer zu meiner Abreise ist bereits zur Hälfte gepackt; übermorgen Abends oder Morgens geht es fort. Die Gesundheit hat sich im Ganzen gehalten, abgesehn, daß die Augen mir Noth machen. Meine Adresse von jetzt ab ist: Nice (France)
pension de Genève
pet. rue St. Etienne
Mit den herzlichsten und dankbarsten Grüßen
Dein altes Geschöpf.
Von Nizza aus will ich über den Transport des kleinen Carbon-Natron-Öfchens schreiben, den ich für mein dortiges Nordzimmer nöthig haben werde (mit einem Centner Material)
929a. An Hermann Levi in München
<Venedig, um den 20. Oktober 1887>
[…] ich hörte gern Ihr Urteil darüber. <Der Hymnus soll> in memoriam Nietzschii <gesungen werden und soll die einzige Musik sein,> welche von mir übrig bleiben soll .<Es habe noch nie einen Philosophen gegeben, der> in dem Grade und bis zu dem Grunde Musiker war wie ich es bin.
930. An Hermann Levi in München (Entwurf)
<Venedig, um den 20. Oktober 1887>
Verehrter Herr,
Darf ich mich Ihnen auf eine vielleicht etwas überraschende Weise ins Gedächtniß rufen? Nämlich mit Musik — der einzigen, welche von mir übrig bleiben soll (und die irgend wann einmal, vorausgesetzt, daß sonst wenig von mir übrig bleibt, zu meinem Gedächtniß „in memoriam“ gesungen werden dürfte). Ich hörte gerne Ihr Unheil darüber, ob sie das verdient. — Vielleicht hat es nie einen Philosophen gegeben, der in dem Grade au fond so sehr Musiker war, wie ich es bin. Deshalb könnte ich natürlich immer noch ein gründlich verunglückter Musiker sein. —
Mit dem Ausdruck meiner
alten und unveränderlichen
Hochschätzung
Nizza, Pension de Genève
Levi
931. An Felix Mottl in Karlsruhe
<Venedig, um den 20. Oktober 1887>
Verehrter Herr,
— was werden Sie von mir denken, wenn ich, mich Ihrer mich ehrenden Zeilen vom letzten Winter erinnernd, Ihnen heute Musik von mir selbst zu übersenden wage? Halten Sie diesen Hymnus eines Philosophen für möglich, für singebar, für anhörbar und aufführbar?… Ich selber bilde mir das Alles ein, mehr noch, ich wünsche, daß dieses Stück Musik ergänzend eintreten möge, wo das Wort des Philosophen nach der Art des Wortes nothwendig undeutlich bleiben muß. Der Affekt meiner Philosophie drückt sich in diesem Hymnus aus.
Mit dem Ausdruck besonderer
Hochschätzung
Ihr ergebenster
Prof. Dr. Nietzsche
Adresse: Nizza (France) pension de Genève
932. An Carl Riedel in Leipzig
<Venedig, um den 20. Oktober 1887>
Hochverehrter Herr Professor,
es scheint mir so lange her, daß ich nicht in Leipzig war: erst nächstes Jahr wird sich dazu wieder die Gelegenheit finden, und da hoffe ich auch Ihnen und Ihrer verehrten Frau Gemahlin wieder die Hand drücken zu können! Heute kommt nur ein gedrucktes und gestochenes Erinnerungszeichen, das darum bittet, freundlich aufgenommen zu werden: jener „Hymnus auf das Leben“, den Sie 1882 schon gesehn haben, damals noch in einem Rohzustande, und von dem ich wünsche, daß er inzwischen reif, fertig, vielleicht aufführbar geworden ist. (Ihre Winke und Ausstellungen von damals sind auf das dankbarste benutzt worden). Mein Name als der des unabhängigsten und radikalsten Philosophen, den es jetzt giebt, ist bekannt genug; eine Art Glaubensbekenntniß in Tönen seitens eines solchen Philosophen würde vielfache Neugierde und Theilnahme erregen. Zwar ist die eigentliche Bestimmung dieses Hymnus eine andre — er soll, irgend wann einmal, wenn „ich nicht mehr bin“, zum Gedächtniß an mich gesungen werden: womit aber der Wunsch durchaus nicht ausgeschlossen sein soll, daß er noch bei meinen Lebzeiten bekannt wird. Finden Sie selber, hochverehrter Herr Professor, vielleicht ein Mittel, einen Anlaß dazu?.. In Leipzig gerade ist mir alle Welt gewogen, ein guter Theil der Universitätscollegen steht mir persönlich nahe; eine Leipziger Aufführung dieses Hymnus gehörte zu meinen besonderen Wünschen.
Mit dem Ausdruck, der alten und unveränderlichen Gesinnung
Ihr ergebenster
Prof. Dr. Friedrich Nietzsche
(Adresse: Nizza (France) pension de Genève
933. An Adolf Ruthardt in Leipzig (Visitenkarte).
<Venedig, um den 20. Oktober 1887>
Dem ausgezeichneten Herrn
Rudhardt zur Erinnerung
an Sils-Maria und
Prof. Dr. Nietzsche
934. An Alfred Volkland in Basel
<Venedig, um den 20. Oktober 1887>
Verehrter Herr,
darf ich voraussetzen, daß Ihnen mein Name nicht gänzlich fremd geworden ist? — Im Vertrauen darauf übersende ich Ihnen ein Stück Musik von mir, das einzige, von dem ich wünsche, daß es von mir bekannt wird, — vielleicht auch in Basel, mit dem ich mich durch viele gute Erinnerungen und nicht am wenigsten durch gute Musik-Erinnerungen verbunden fühle. Angenommen, daß dieser „Hymnus an das Leben“ Ihnen gefiele und einer Aufführung nicht unwerth erschiene: bei der Basler Gesellschaft, daran zweifle ich nicht, würde er ein lebhaftes Interesse erregen. Es giebt keinen Ort, wo man so viel gute Gesinnung gegen mich alten Philosophen hat, wie in Basel.
In alter Hochschätzung
sich empfehlend
Prof. Dr. Nietzsche
Adresse: Nizza (France) pension de Genève
935. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)
<Venedig, 20. Oktober 1887>
Auf Seite 159, 2 Zeile von unten steht vrdirebt statt verdirbt. Das stand jedenfalls nicht auf dem zuerst übersandten Exemplar des 10 Bogen, der hier von uns corrigirt worden ist.
F. N.
936. An Hans von Bülow in Hamburg
<Venedig, 22. Oktober 1887>
Verehrter Herr,
es gab eine Zeit, wo Sie über ein Stück Musik von mir das allerberechtigtste Todesurtheil gefällt haben, das in rebus musicis et musicantibus möglich ist. Und nun wage ich es trotzalledem, Ihnen noch einmal Etwas zu übersenden, — einen Hymnus auf das Leben, von dem ich um so mehr wünsche, daß er leben bleibt. Er soll einmal, in irgend welcher nahen oder fernen Zukunft, zu meinem Gedächtnisse gesungen werden, zum Gedächtnisse eines Philosophen, der keine Gegenwart gehabt hat und eigentlich nicht einmal hat haben wollen. Verdient er das?…
Zu alledem wäre es möglich, daß ich in den letzten zehn Jahren auch als Musiker Etwas gelernt hätte.
Ihnen, verehrtester Herr, in alter unveränderlicher Gesinnung zugethan
Dr Fr Nietzsche Prof
Adresse: Nizza (France), pension de Genève
937. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Nizza,> Pension de Genève, petite rue St. Etienne, 23. Okt.1887.
Lieber Freund, erster Morgen in Nizza: eben kam der Brief — ich lese mit Rührung die angenehmen Schriftzüge des Venediger maëstro…
Die Reise extrem angreifend; zwischen Genua und Mailand gefährlicher Zwischenfall (in den Tunnels, Nachts); 2 Stunden Verzögerung. Ankunft in Nizza mit heftigen Kopfschmerzen. Der Koffer offen, das Schloß abgesprungen. —
Nizza, erheblich wärmer, hat jetzt etwas Berauschendes. Heitere mondaine Eleganz, großer freier Eintritt der verschwenderischen Natur in die großstädtische Liberalität mit Raum und Form, ein gewisser Exotismus und Afrikanismus der Vegetation (— meine eigne Höhle, hoch, bunt, kommt mir jüdisch-bizarr vor) Da sitze ich nun wieder, englisch und indifferent, zwischen lauter Engländern.
(Deussen sitzt Quarantäne halber auf einem griechischen Inselchen, unter unausdenkbaren Verhältnissen.) Treugesinnt Ihr N.
938. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Nizza, 23. Oktober 1887>
Erster Morgen in Nizza: es trifft sich schön, daß da gerade der von Venedig nachgesandte Brief in meine Hände kommt! Schönsten Dank! Ich gratuliere Dir zu Deiner Haus-Veränderung, ebenfalls zu den 4 Miethern: es scheint, daß wir allesammt jetzt mit etwas mehr Ruhe in die Zukunft sehn. Bei mir ist wenigstens so viel erreicht, daß ich keine Pläne mehr mache und keine Wünsche mehr habe, dagegen die paar bewährten Dinge (wozu Nizza gehört) festhalte und mich so wenig als möglich von außen her in dem stören lassen will, was meine Arbeit und den Sinn meines Lebens ausmacht. Venedig hat einen guten Nachgeschmack bei mir hinterlassen. Die Reise war sehr anstrengend, ich kam mit peinlichstem Kopfschmerz an; Abends aber war der Muth schon wieder hergestellt. Um diese Zeit ist Nizza bezaubernd. (Der Brief meines Schwagers ist mit „dem besten Willen“ geschrieben; an diesem Willen fehlt es auch bei mir nicht. Trotzdem…)
Dein altes Geschöpf.
Nizza (France) pension de Genève
939. An Heinrich Köselitz in Venedig (Entwurf)
<Nizza, kurz vor dem 27. Oktober 1887>
die dramatische Attitüde dieser Stelle, auf welcher der Hauptaccent liegt, kommt mit dem a schlechterdings nicht heraus (weil mit dem a kein Ende erreicht wird); aber hier muß die Linie des Gefühls wirklich zu Ende kommen — nämlich mit einem Seufzer! Darauf, nach einer Pause, das Neue, das Gegenstück eben dieses Seufzers, der Ausdruck des nunmehr erst errungenen zuversichtlichen Gefühls „ich b. b. wohlan! ich bin bereit“.
940. An Heinrich Köselitz in Venedig
Nizza 27. Okt. 1887. (blaue Finger, Pardon!)
Lieber Freund,
eben langte Ihr Brief an; ich las Montaigne, um mich aus einer grillig-düsteren und gereizten Stimmung zu ziehen — Ihr Brief half mir gründlicher noch davon. Seit gestern Abend habe ich eine Fischgräte im Halse, die Nacht war peinlich; trotz wiederholten Versuchen des Erbrechens hält sie fest. Sonderbar, ich empfinde eine Abundanz von Symbolik und Sinn in dieser physiologischen Niederträchtigkeit. —
Zu alledem ist es kalt, januarlich; mein Nordzimmer läßt mich nicht mit mir spaßen — und auch nicht mit sich! — Overbeck meldet eben seinerseits Rheumatismus (überdies Neues über Spitteler, seinen alten Schüler), tiefe Versenkung in den Wust der Scholastik (über welche er diesen Winter zum ersten Male liest), auch daß man R<ichard> W<agner>’s Symphonie in Basel gemacht hat. Wir wollen ihm (nach Ihrem Vorschlag) den Hymnus jetzt schicken: als welcher zu aller Art Tapferkeit auffordert. Beiläufig: die Schlußwendung „wohlan! noch hast du deine Pein!…“ ist das Stärkste von Hybris in griechischem Sinne, von lästerlicher Herausforderung des Schicksals durch einen Exceß von Muth und Übermuth: — mir läuft immer noch jedes Mal, wenn ich die Stelle sehe (und höre), ein kleiner Schauder über den Leib. Man sagt, daß für solche „Musik“ die Erinnyen Ohren haben. —
Ais erleichtert mich, ich kann Ihnen nicht helfen, es macht die Brücke zu der „süßen“ Entschlossenheit der letzten Phrasirung. Ich würde a aushalten, wenn es den Anfang einer langen leidenschaftlichen, tragischen, auf- und abschwellenden Cadenz (auf fis-moll), etwa mit einem Violinen-Unisono, machte; an sich allein steht es da, dürr, schmerzhaft, hoffnungslos. Auch bewegt sich in diesen Takten die Melodie in lauter kleinen Sekunden: diese einzige große h—a klingt wie ein Widerspruch. — Sie sehen, ich komme über den moralischen Querstand dieses a schlecht hinweg. —
Die Partitur hat mir übrigens großes Vergnügen gemacht; und es scheint mir, daß Fritzsch sich besser aus der Sache herausgezogen hat als wir ihm zugetraut haben. Was für gutes Papier hat er genommen! Im Grunde ist es die „eleganteste“ Partitur, die ich bisjetzt gesehn habe; und daß F<ritzsch> wirklich die Stimmen dazu hat herstellen lassen (ohne mir vorher ein Wort davon zu sagen), freut mich: es verräth seinen Glauben an die Aufführbarkeit des Hymnus. Oh, alter lieber Freund, was haben Sie sich damit um mich „verdient gemacht“! Diese kleine Zugehörigkeit zur Musik und beinahe zu den Musikern, für welche dieser H<ymnus> Zeugniß ablegt, ist in Hinsicht auf ein einstmaliges Verständniß jenes psychologischen Problems, das ich bin, ein unschätzbarer Punkt; und schon jetzt wird es nachdenken machen. Auch hat der H<ymnus> etwas von Leidenschaft und Ernst an sich und präzisirt wenigstens einen Hauptaffekt unter den Affekten, aus denen meine Philosophie gewachsen ist. Zu allerletzt: er ist etwas für Deutsche, ein Brückchen, auf dem vielleicht sogar diese schwerfällige Rasse dazu gelangen kann, sich für eine ihrer seltsamsten Mißgeburten zu interessiren. —
Nizza, aufgerüttelt durch sein Erdbeben, schickt sich diesen Winter an, alle seine Verführungskünste anzuwenden. Reinlicher war es nie; die Häuser schöner angestrichen; die Küche in den Hôtels besser. Das italiänische Theater (Sonzogno, als Impresario, bringt selber den Winter hier zu) verspricht zuerst, wie Bülow i pescatori di perle (26. Nov.); darauf Carmen; darauf Amleto (von wem?), darauf Lakmé (von Delibes) — lauter Feinschmeckerei. Eben haben wir einen glänzenden Astronomen-Congreß hier gehabt, le congrès Bisch genannt (nämlich der reiche Jude Bischoffsheim, amateur in astronomicis, bestreitet die Kosten des ganzen Congresses und wirklich, man ist entzückt über die von ihm veranstalteten Feste.) Ihm verdankt N<izza> bereits sein Observatorium, insgleichen dessen Unterhaltung, Besoldung der Angestellten, nebst dem, was die Publikationen kosten. Ecco! Jüdischer Luxus in großem Stile! —
Lieber Freund, ich habe Sie dies Mal nicht nur mit großer Dankbarkeit verlassen, auch mit großem Respekt. Bleiben Sie sich treu, ich weiß Ihnen nichts Besseres zu wünschen!
Von Herzen Ihr N.
941. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Nizza,> 31. Okt. 1887
Heute, meine liebe Mutter, schreibe ich nichts als ein Ofen-Briefchen: denn die Frage ist dringend. Ich habe inzwischen sehr an der vorzeitigen Kälte gelitten: mein Zimmer, Hochparterre, gegen Norden, neben einem kühlen Garten, überdies durchaus nicht niedrig, macht mir blaue Finger und schauerliche Empfindungen jetzt schon: was soll’s im eigentlichen Winter werden! Gleich nach dem Empfang Deines freundlichen Briefes habe ich mich auf die Suche nach Mieth-Ofen gemacht (unterstützt von einer gefälligen Frau, welche hier zu Hause ist und selbst eine Pension besessen hat); aber ich kam gründlich enttäuscht zurück. Man wollte für die Saison 50 frs. (ohne Heizmaterial ebenfalls; ohne die Kosten des Setzens und Transports); das geringste Öfchen sollte 20 frs. Miethe kosten. Nun würde ich nach früherer Erfahrung in der Woche für Holz jedenfalls 4 frs. brauchen (Hôtelpreis natürlich, aber es geht gar nicht anders) Da scheint es mir doch mit Deinem Öfchen viel billiger: außerdem kann ich’s selbst besorgen und brauche nicht zum Einheizen den Hausknecht. (Diese Art Ofen giebt es hier gar nicht.) Meine Bitte geht also dahin, meine liebe Mutter, das Öfchen nebst 2 Centner Material an mich mit möglichster Zeitersparniß abzusenden: per Fracht oder petite vitesse? Bitte, sprich mit dem Herrn Sekretär darüber, der Dir auch über die richtige Adressirung Auskunft geben kann. Das Geld für das Heizmaterial und den Transport soll Hr. Kürbitz Dir übermitteln (dem ich in diesen Tagen schreiben will) Nur muß Alles sehr Schlag auf Schlag geschehn. Auch bitte ich mir eine genaue Beschreibung aus, wie man den Ofen heizt und reinigt usw. usw.
Inzwischen werden 2 Karten von mir an Dich angelangt sein. Der Brief meines Herrn Schwagers ist von mir beantwortet worden. —
Gestern schrieb Hofkapellmeister Mottl von Carlsruhe an mich, eine Aufführung meines Hymnus in Aussicht stellend. —
Mit herzlichem Gruß
Dein altes Geschöpf
F.
Die eine schwarze Weste ist von der Seite her häßlich durchgerissen; der Stoff scheint sehr weich. — Ein paar neue Hosen haben 4 Thaler gekostet. — Mir fehlt immer noch eine Cravatte zum Umknüpfen, aber breit (nicht wie die letzte, sondern wie die früheren, welche das ganze Hemd bedeckten. Die Öffnung der „Weste“ ist viel zu weit.) Bis jetzt fand ich in N<izza> noch keine Cravatte, wie ich sie brauche: doch will ich noch suchen.
Adresse, genau: Nice (France) Hôtel de Genève pet. rue St. Etienne
942. An Gustav Krug in Köln
<Nizza, Ende Oktober 1887>
Lieber Gustav,
hiermit übersende ich Dir als meinem ältesten Freund und Bruder in arte musica, das Einzige, was von meiner Musik übrig bleiben soll — eine Art Glaubensbekenntniß in Tönen, das sich dazu eignen möchte, einmal „zu meinem Gedächtniß“ gesungen zu werden. Denn so ein Philosoph, wie ich, der durchaus keine Gegenwart hat und haben will, hat vielleicht ebendamit eine kleine Anwartschaft auf „Zukunft“ —
— Kannst Du Dir dieses kleine Chorwerk nicht einmal vorführen lassen? Ich erinnere mich der herrlichen Klangwirkung des Gürzenich-Saales. Ein guter Chor dürfte sich von diesem Hymnus (der eine energische Haltung und einen dramatischen Hauptaccent hat) keinen kleinen Erfolg versprechen.
In alter Liebe und Treue / mit den herzlichsten Empfehlungen an Deine liebe Frau
Dein Freund
Nietzsche.
Adresse: Nizza (France) pension de Genève
943. An alle Empfänger des Hymnus an das Leben (Zettel)
<Oktober/November 1887>
— In der Partitur des Hymnus, den zu übersenden ich mir erlaubte, ist noch die letzte Note der Clarinette (auf S. 11) zu berichtigen: dieselbe muß cis lauten, nicht c.
Prof. Nietzsche.
944. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Nizza,> Donnerstag den 2. <3.> Nov. 1887
Lieber Freund,
großes Vergnügen über den neuherausgegebenen, verbesserten und vermehrten Schlafrock! Nein, was Sie mich beschämen! Ich vermißte nämlich dies Kleidungsstück täglich, bei den winterlichen Stimmungen dieses Herbstes, welche mein Nord-Garten- und Parterre-Zimmer noch unterstreicht. Trotzdem wagte ich nicht, mir ihn kommen zu lassen, weil ich mich seines entarteten Zustandes erinnerte, der diesem Nizza noch mehr widerspricht als vielleicht Ihrem „philosophischeren“ Venedig; auch bin ich noch nicht bescheiden genug dazu, meinen Stolz im Zur-Schautragen meiner Lumpen zu suchen. Ecco!.. Und nun plötzlich so verschönert und achtbar geworden in seinem Zimmer zu sitzen — welche Überraschung!
Es scheint Alles verschworen, mir diesen Winter hier acceptabler zu machen als die letzten Winter waren: wo ich nicht nur gelegentlich, sondern gewohnheitsmäßig aus der Haut fuhr (irgendwohinein, z. B. in das verfluchte Bücher- und Litteraturmachen) Eben habe ich mir das Zimmer angesehn, welches ich diese nächsten 6 Monate bewohnen will: es liegt präcis über meinem bisherigen, ist gestern neu tapezirt worden, meinem schlechten Geschmack entsprechend, roth-braun-gestreift und -gesprenkelt, hat sich gegenüber ein tiefgelb angestrichenes Gebäude, fern genug, daß der Reflex erquicklich ist, und darüber, zur weiteren Erquickung, den halben Himmel (— er ist blau blau blau!). Unten ein schöner Garten, immergrün, auf den der Blick fällt, wenn ich am Tisch sitze. Der Boden mit Stroh bedeckt, darüber ein alter und über ihm ein neuer hübscher Teppich; ein großer runder Tisch, eine gutgepolsterte chaise longue, ein Bücherschrank, das Bett mit einer schwarz-blauen Decke verhüllt, die Thür insgleichen mit schweren braunen Vorhängen; noch ein paar Sachen mit grell rothem Tuche behängt (der Waschtisch und der Kleiderständer), kurz, ein artiges farbiges, im Ganzen warmes und dunkles Durcheinander. Ein Ofen kommt von Naumburg, von jener Art, die ich Ihnen beschrieben habe. — Bisher gieng es nicht gut; doch war das Wetter auch häßlich genug (4 Tage beinahe Regen) Was die hymnologische Litteratur betrifft, so langte zuerst ein Brief von Frau von Bülow an, ihren Gatten entschuldigend als „erdrückt durch Arbeit“, übrigens artig genug („mich zu Ihren Bewunderern zählend, natürlich so weit es meine geistigen Mittel mir erlauben“ usw) Sodann ein äußerst hübscher Brief Mottl’s, der eine Gelegenheit zur Aufführung nicht vorüberlassen will (— er findet das hohe a des Soprans in der Pianostelle sehr gewagt und wünscht der Composition mehr melodischen Reichthum — ah wie er Recht hat!)
Von Prof. Deussen kam aus Athen ein Lorbeer- und ein Feigenblatt an, gepflückt am 15. Oktober an der Stelle, wo ehedem die Akademie Plato’s gestanden hat. Insgleichen ein Gruß vom „Weiblein klein“. Auch mein Schwager hat artig genug an mich geschrieben; wir strengen uns Beide an, die etwas extreme Situation zu mildern (— er schreibt über „Jenseits“, das er sich hat kommen lassen: ich hatte es nicht geschickt, aus Gründen)
Von Naumann noch Nichts. Fast zweifle ich, ob er eigentlich weiß, daß ich in Nizza bin. — Welchen Zeitungen und Zeitschriften soll ich Exemplare schicken? (Bei dem wissenschaftlicheren und exclusiveren Geschmack dieser Abhandlungen so wenigen als möglich! Dagegen den Fach-Zeitschriften in Deutschland, Frankreich und England.)
Treulich und dankbar
Ihr Freund
Nietzsche.
(Was bin ich für die Herstellung des Kleidungsstückes dem Schneider schuldig?)
945. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)
Nizza, 3 Nov. 1887.
Geehrtester Herr Verleger,
in der Annahme, daß in diesen Tagen die ersten Exemplare des neuen Buchs versandtreif werden, wiederhole ich die Adresse für meine Nizzaer Existenz:
Nice (France) pension de Genève pet. rue St. Etienne.
Bitte, senden Sie 4 Exemplare an diese Adresse ab; gleichzeitig 2 an die des Herrn Köselitz nach Venedig. (Insgleichen an mich die noch fehlenden Aushängebogen 9—12 und Vorrede) Mit ergebenstem Gruß und dem Wunsch, daß Alles gut steht und geht.
Ihr Prof. Dr Nietzsche
Weiteres über Freiexemplare etc. etc. nächstens brieflich! —
946. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
Nizza (France) pension de Genève Montag. <8. November 1887>
Geehrtester Herr Verleger,
endlich komme ich dazu, die Angelegenheiten des neuen Buches mit Ihnen zu besprechen. Zuerst die Preisfrage: wie viel soll es kosten? Mein Vorschlag ist 3 Mark, vorbehalten natürlich die entsprechenden Modificationen des Preises für die Buchhändler. Doch hörte ich gerne erst Ihr Urtheil. Mein Hauptwunsch bei dieser Veröffentlichung ist, etwas damit zum Besten meiner früheren Litteratur zu erreichen: nämlich dazu einzuladen, dieselbe zu lesen und ernst zu nehmen. Wenn Sie glauben, daß dem Vertriebe der Schrift ein noch niedrigerer Preis (zb. 2 Mark) günstig sein möchte, so bin ich damit auch zufrieden. — Die zweite ist die, an welche Zeitschriften und Zeitungen Redaktionsexemplare zu versenden sind, dem Charakter und Titel der Schrift entsprechend an so wenig Zeitungen als möglich; dagegen an die philosophischen Fachzeitschriften. Die Blätter, welche vom „Jenseits“ Besprechungen von einigem Gehalte gebracht haben, sollen auch dies Buch erhalten (zb. der „Bund“, die Nationalzeitung, Nord und Süd, litt. Centralblatt)
Bei einer etwaigen Ankündigung des Buchs bitte ich auf den Punkt aufmerksam zu machen, daß diese Streitschrift in einer nothwendigen Beziehung zu „Jenseits von Gut und Böse“ steht, zu dessen Ergänzung und Verdeutlichung.
Was die Freiexemplare betrifft: so bitte ich folgende Personen damit zu bedenken (es wäre mir erwünscht, wenn auf jedes dieser Exemplare rechts oben ein kleiner rother bedruckter Streifen Papier geklebt würde, wie ich es mehrfach schon gesehn habe, des Inhalts (lateinische Lettern):
Im Auftrage des Herrn Verfassers
hochachtungsvoll überreicht von
C. G. Naumann
oder ähnlich!
1
Frau Dr. Elisabeth Förster
per adr. Monsieur le docteur Bernard Förster
Paraguay
Amérique de Sud
Asuncion
2
Dem Oberbibliothekar Dr. Sieber
Basel (Schweiz)
zugleich mit einem Exemplar von Jenseits von G<ut> und B<öse>
3
Monsieur le professeur Monod
Versailles (France)
villa Amiel
zugleich mit einem Exemplar von Jenseits von G<ut> und B<öse>
4
Herrn Prof. Dr. Jakob Burckhardt
Basel (Schweiz
5
Herrn Prof. Dr. Overbeck
Basel (Schweiz)
6
Herrn Geheimrath Prof. Dr. Rohde
Heidelberg
7
Herrn Prof. Dr. Schönberg
Tübingen
8
Monsieur le docteur Hippolyte Taine
Menthon, lac d’Annecy Haute Savoie (France)
9
Dem Freiherrn Carl von Gersdorff
auf Ostrichen, Altseidenberg (Schlesien)
10
Herrn Dr. Johannes Brahms
Baden-Baden Hôtel zum Bären
11
Herrn Dr. Karl Fuchs
Danzig
12
Herrn Professor Dr. Deussen
Berlin W Kurfürstenstraßendamm 142
13
Dem Baron Herrn Dr. Hans von Bülow
z. Z. in Hamburg
14
Herrn Prof. Dr. Schaarschmidt, Bonn (am Rhein)
15
Herrn Dr. Rudolf Kleinpaul
Leipzig-Gohlis Bismarckstr. 11
16
Herrn Hofrath Prof. Dr. Heinze
Leipzig
17
Herrn Professor Dr. Wundt, Leipzig
18
Herrn Reichsgerichtsrath Dr. Wiener, Leipzig
19
Herrn Professor Dr. Ribbeck, Leipzig
20
Herrn Professor Dr. Windisch, Leipzig
21
Herrn Professor Dr. Wachsmuth, Leipzig
22
Herrn Professor Dr. Leuckart, Leipzig
23
Herrn Professor Dr. Binding, Leipzig
24
Dem Geheimrath Prof. Dr Helmholz
Berlin
25
Monsieur le professeur Charles Vogt
Genève (Suisse)
26
Herrn Professor Dr. Du Bois-Reymond
Berlin, v. Wilhelmsstr. 15
27
Herrn Professor Dr. Ernst Mach
Prag II Weinberggasse 3
Ergebenst
Ihr Dr Nietzsche
947. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
Nizza, den 9. Nov. 1887
Geehrtester Herr Verleger,
soeben langte Ihr werthes Schreiben vom 5ten an; es macht mir Freude, wahrzunehmen, mit welcher Theilnahme Sie den Vertrieb meiner Litteratur behandeln. Zu dem, was ich gestern Ihnen geschrieben habe, bleibt heute wenig nur hinzuzufügen. Erstens: daß ich Ihnen in Hinsicht auf Zeitungen und Zeitschriften freie Hand gebe (— nur bitte ich die unanständige „Kreuzzeitung“ wegzulassen) Dasselbe gilt für die Maßregeln, die mit den Sortiments-Handlungen zu treffen sind; auch daß Sie in Betreff des von mir vorgeschlagenen Ordinärpreises entscheiden sollen. Das Alles sind Dinge, von denen ich nichts verstehe. Ein paar Worte, die sich für das Buchhändler-Börsenblatt eignen möchten, folgen anbei; es wird wohl noch einiges Geschäftsmäßigere Ihrerseits beigefügt werden müssen. —
Die drei Vorausbestellungen sind mir räthselhaft: ich glaubte, daß kein Mensch etwas von diesem Buche schon wisse. —
Rechnen Sie übrigens den Herrn Dannreuther (Newjork) mit unter die Vorausbestellt-Habenden. —
Was die Verwendung der Exemplare an meine Freunde etc. betrifft: so wäre mir sehr erwünscht, wenn das Herrn Professor Dr. Overbeck in Basel zugedachte Exemplar am 16 November spätestens in seinen Händen wäre: das ist sein Geburtstag. —
— Die Adresse des Prof. Monod (Versailles) ist falsch. Lassen Sie, bitte, die Absendung an ihn, bis ich wieder schreibe. —
Zuletzt ersuche ich um Zustellung der Rechnung für die Herstellungskosten des neuen Werks.
Hochachtungsvoll Ihr ergebener
Prof. Dr. Nietzsche
Ein Exemplar an Dr. Georg Brandes, Kopenhagen, St. Anne-Platz 24. Insgleichen: Herrn Ferdinand Avenarius, Redaktion des „Kunstwart“ Dresden. Insgleichen: an die Saturday Review.
Die Anzeigen von „Jenseits von G<ut> und B<öse>“ im litterar. Centralblatt, so wie in der litterar. Rundschau habe ich noch nicht gesehn. Bitte, senden Sie dieselben! (Alles Andre las ich in Venedig, bei Herrn Köselitz)
948. An Heinrich Köselitz in Venedig
Nizza den 10. Nov. 1887.
Lieber Freund,
der Zufall will (— oder ist’s gar nicht der Zufall?) daß auch ich in der letzten Woche am Problem Piccini—Gluck hängen blieb. Sie wissen, daß im Monat November 1787 Gluck starb? — vielleicht auch, daß der größte und geistreichste Piccinist, der Abbé Galiani im gleichen Jahre starb? (30. Oktober 1787 in Neapel) Wir feiern also das hundertjährige Jubiläum eines großen Problems und einer verhängnißvollen, wahrscheinlich falschen Entscheidung desselben. Ich lese Galiani: mich agaçirt es geradezu, daß dieser verwöhnteste und raffinirteste Geist des vorigen Jahrhunderts in diesem Grade außer sich ist über seinen Piccini (ungefähr wie Stendhal über Rossini, aber noch naiver und „verwandter“, wenn ich recht empfinde) Er macht einen scharfen Unterschied zwischen den komischen Opern Piccini’s, die bloß für Neapel und in Neapel möglich sind, und den anderen, die in ganz Italien und selbst in Frankreich ungefähr goutirt werden können. Nur von den ersteren sagt er, daß P<iccini>) damit auf dem höchsten Gipfel der Kunst angelangt sei; er sagt zu Madame d’Épinay, sie könne sich gar keine Idee davon machen, so sehr sei es supérieur Allem, was sie je gehört habe. Der Zeitpunkt, wo Piccini auf diese Höhe kommt, ist 1770—71 etwa (aus letzterem Jahre sind die Briefe Galianis) Damals spielte man in Neapel von P<iccini> La Fenta giardiniera und II Don Chisciotto, insgleichen La Gelosia per Gelosia: auf eins dieser Werke, wenn nicht auf alle, muß sich das Entzücken G<aliani>s beziehn (— „er hat mich gelehrt, daß wir alle und immer singen, wenn wir sprechen. Die Schwierigkeit besteht darin, unsern Ton und unsre Modulation zu finden, wenn wir sprechen.“) Er macht sich lustig über Mad. d’Épinay, welche diese Sachen nach Paris haben will; er sagt „ils ne vont pas même à Rome“. „Sie werden seine italiänischen komischen Opern haben, solche wie La Buona Figliuola, aber keine der neapolitanischen.“ (Diese Oper, La B<uona> F<igliuola>, mit dem Texte Goldoni’s ist zuerst in Rom aufgeführt 1760; in Paris erst 1770, mit großem Erfolg. Die französische Kritik sagte damals „les oreilles françaises, habituées depuis quelques années à une genre qui leur répugnait d’abord, ont reçu celle-ci avec la plus délicieuse sensation. Les accompagnements surtout ont paru travaillés avec un art infini“. Klingt das nicht sehr merkwürdig?)
Es scheint mir nöthig, den ganzen Gegensatz „italiänische und französische Musik“ erst wieder zu entdecken und den hybriden Begriff „deutsche Musik“ einmal bei Seite zu thun. Es handelt sich um einen Stilgegensatz: die Herkunft der Componisten ist dafür ganz gleichgültig. So ist Händel ein Italiäner, Gluck ein Franzose (— die französische Kritik feiert z. B. in diesem Augenblick Gluck als das größte musikalische Genie des französischen Geistes, als ihren Gluck) Es giebt geborene Italiäner, die dem französischen Stile huldigen, es giebt geborene Franzosen, die italiänische Musik machen. Aber worin eigentlich besteht der große Stilgegensatz? Ich empfehle besonders die mémoires des Präsident de Brosses (seine Reise in Italien 1739), in denen fortwährend dies Problem leidenschaftlich berührt wird: da erscheint z. B. il Sassone, Ihr Venediger Hasse, als fanatischer Antifranzose.
Können Sie sich nicht in Venedig den Anblick Piccini’scher Partituren verschaffen? namentlich seiner Napolitana? Sollte da Etwas verloren und vergessen worden sein? — Man muß dem bornirten „deutschen Ernst“ in der Musik das Genie der Heiterkeit entgegenstellen. —
Dies erinnert mich an den hymnum ecclesiasticum, über den inzwischen nur Ein Urtheil eingelaufen ist, das Rudhardts: „sehr würdig, rein im Satz und wohlklingend“.
Der 2.te Band des „Journal des Goncourt“ ist erschienen: die interessanteste Novität. Er betrifft die Jahre 1862—65; in ihm sind die berühmten dîners chez Magny auf das Handgreiflichste beschrieben, jene Diners, welche zwei Mal monatlich die damalige geistreichste und skeptischste Bande der Pariser Geister zusammenbrachten (Sainte-Beuve, Flaubert, Th<éophile> Gautier, Taine, Rénan, les Goncourts, Schérer, Gavarni, gelegentlich Turgenjew usw). Exasperirter Pessimismus, Cynismus, Nihilismus, mit viel Ausgelassenheit und gutem Humor abwechselnd; ich selbst gehörte gar nicht übel hinein — ich kenne diese Herrn auswendig, so sehr daß ich sie eigentlich bereits satt habe. Man muß radikaler sein: im Grunde fehlt es bei Allen an der Hauptsache — „la force“.
Treulich Ihr Freund Nietzsche
949. An Elisabeth Förster in Asuncion
Nizza (France) pension de Genève den 11. Nov. 1887
Mein liebes Lama,
eben habe ich meinem Verleger den Auftrag ertheilt, ein Exemplar meines letzten Buchs an Dich abgehn zu lassen. Eigentlich hätte ich Dir’s gerne erspart: denn es sind Stellen drin, wie im vorletzten, die absolut nicht für Deine gegenwärtigen Ohren taugen. Aber ich möchte schlechterdings verhüten, daß das Buch auf einem andren Wege zu Dir gelangte; und da ich das, nach der Erfahrung hinsichtlich von „Jenseits von Gut und Böse“, beinahe vorauszusehn habe, so wähle ich das Geringere von zwei „Übeln“ und schicke Dir’s selbst. —
Zuletzt erregt das Buch vielleicht ein zu allgemeines Interesse, als eine Art Kriegserklärung gegen die Moral, als daß fünf, sechs peinlich-persönliche Dinge dagegen in Betracht kämen. Daß sie gesagt werden mußten, hat in dem seinen Grund, daß ich der schändlichen Vermanschung meines Namens und meiner Interessen ein Ende machen will, die sich in den letzten 10 Jahren gebildet hat. Dem gleichen Zwecke dienen alle die Vorreden und Beigaben der neuen Auflagen meiner älteren Werke. (Du findest auf der Rückseite des Buchs einen Überblick über Alles, was in den letzten 2 Jahren in Bezug auf diese frühere Litteratur von mir gethan worden ist. Es wäre noch hinzuzufügen, daß bei E. W. Fritzsch in herrlicher Ausstattung jener Hymnus erschienen ist, der einmal „zu meinem Gedächtniß“ gesungen werden soll (— er wird muthmaßlich schon diesen Winter an mehreren Orten aufgeführt werden, zb. in Carlsruhe durch H<of>k<apell>m<eister> Mottl.) Der Titel lautet:
Hymnus
an das Leben
für
gemischten Chor und Orchester
componirt
von
Friedrich Nietzsche.
Partitur Pr. 2 Mk.
Chorstimmen usw.
Orchesterstimmen usw,
usw.
Eigenthum des Verlegers für alle Länder
Leipzig.
E. W. Fritzsch.
Dieser Hymnus ist mir sehr werth, als der Ausdruck des gehobensten und stolzesten Zustandes, den ich erlebt habe. Die Vortragsbezeichnung ist „Entschlossen; mit heroischem Ausdruck“. Die Musiker finden ihn „machtvoll“. „Magnifico! Che vigore! È la vera musica ecclesiastica“, riefen italiänische Künstler beim Anhören; was mich sehr hat lachen machen. —
Allerschönsten Dank für Deinen Geburtstagsbrief, der mich am ersten Morgen meines Nizzaer Winter-Aufenthaltes in erquicklicher Weise überraschte. Meinem werthen Herrn Schwager habe ich sofort meinen Dank für seine Wünsche brieflich ausgedrückt: er hat mir sehr liebenswürdig in seinem Briefe die Hand gereicht — und ich habe versucht, dasselbe zu thun: ein Schauspiel, das in Hinsicht auf die bedeutende Verlängerung unsrer beiderseitigen Arme, die dazu noth that, für das zuschauende Lama nicht ohne Reiz gewesen sein dürfte.
Vielleicht trifft Dich dieser Brief schon in der neuen Heimat? Und etwa gegen Weihnachten? Nimm ihn als Ausdruck meiner herzlichsten Wünsche für Alles, was von Euch so großartig unternommen ist: ich selbst, es hilft nichts, bleibe freilich der „gute Europäer“… Treulich Dein und Euer
F.
950. An Erwin Rohde in Heidelberg
Nizza den 11. Nov. 1887
Lieber Freund,
es scheint mir, daß ich noch Etwas von diesem Frühjahre her bei Dir gut zu machen habe? Zum Zeichen, daß es mir nicht an gutem Willen dazu fehlt, sende ich hiermit eine eben erschienene Schrift an Dich ab (— vielleicht bin ich Dir dieselbe zu alledem auch schuldig, denn sie steht im engsten Verbände mit jener, welche ich Dir zuletzt übersendete —) Nein, laß Dich nicht zu leicht von mir entfremden! In meinem Alter und in meiner Vereinsamung verliere ich wenigstens die Paar Menschen nicht mehr, zu denen ich einmal Vertrauen gehabt habe.
Dein N.
Nota bene. Über Ms. Taine bitte ich Dich zur Besinnung zu kommen. Solche groben Sachen, wie Du über ihn sagst und denkst, agaçiren mich. Dergleichen vergebe ich dem Prinzen Napoleon; nicht meinem Freunde Rohde. Wer diese Art von strengen und großherzigen Geistern mißversteht (— T<aine> ist heute der Erzieher aller ernsteren wissenschaftlichen Charaktere Frankreichs), von dem glaube ich nicht leicht, daß er etwas von meiner eignen Aufgabe versteht. Aufrichtig, Du hast mir nie ein Wort gesagt, das mir zu vermuthen erlaubte, Du wüßtest, welches Schicksal auf mir liegt. Habe ich Dir je daraus einen Vorwurf gemacht? Nicht einmal in meinem Herzen; und sei es auch nur deshalb, weil ich es überhaupt von Niemandem anders gewohnt bin. Wer wäre mir bisher auch nur mit einem Tausendstel von Leidenschaft und Leiden entgegengekommen! Hat irgend wer auch nur einen Schimmer von dem eigentlichen Grunde meines langen Siechthums errathen, über das ich vielleicht doch noch Herr geworden bin? Ich habe jetzt 43 Jahre hinter mir und bin genau noch so allein, wie ich es als Kind gewesen bin. —
951. An Franz Overbeck in Basel
Nizza, den 12 Nov. 87 pension de Genève
Lieber Freund,
zu Deinem Geburtstage habe ich bereits ein paar kleine Gaben vorausgeschickt: den Hymnus an das Leben, insgleichen das neueste (und für längere Zeit letzte) Buch. Heute habe ich nicht nur meine Wünsche für Dein bevorstehendes Lebensjahr hinzuzufügen (für Deine Gesundheit, für Deinen Kampf mit Rheumatism und Scholastik!..): vor Allem den Ausdruck meiner Verehrung und Dankbarkeit für die unwandelbare Treue, die Du mir in der härtesten und unverständlichsten Zeit meines Lebens bewiesen hast. Es scheint mir, daß sich eine Art Epoche für mich abschließt; ein Rückblick ist mehr als je am Platz. Zehn Jahre Krankheit, mehr als zehn Jahre; und nicht so einfach Krankheit, für die es Ärzte und Arzneien gäbe. Weiß eigentlich irgend Jemand, was mich krank machte? was mich Jahre lang in der Nähe des Todes und im Verlangen nach dem Tode festhielt? Es scheint mir nicht so. Wenn ich R. Wagner ausnehme, so ist mir Niemand bisher mit dem Tausendstel von Leidenschaft und Leiden entgegengekommen, um mich mit ihm „zu verstehn“; ich war dergestalt schon als Kind allein, ich bin es heute noch, in meinem 44ten Lebensjahre. Dieses schreckliche Jahrzehend, das ich hinter mir habe, hat mir reichlich zu kosten gegeben, was Allein-sein, Vereinsamung bis zu diesem Grade, bedeutet: die Vereinsamung und Schutzlosigkeit eines Leidenden, der kein Mittel hat sich auch nur zu wehren, sich auch nur „zu vertheidigen“. Mein Freund Overbeck abgerechnet (und drei Menschen noch dazu) hat sich in den letzten zehn Jahren fast Jedermann, den ich kenne, mit irgend einer Absurdität an mir vergriffen, sei es mit empörenden Verdächtigungen, sei es mindestens in der Form schnöder Unbescheidenheit (zuletzt noch Rohde, dieser unverbesserliche Flegel) Das hat mich, um das Beste davon zu sagen, unabhängiger gemacht; aber auch härter vielleicht und menschenverachtender als ich selbst wünschen möchte. Glücklicher Weise habe ich esprit gaillard genug, um mich gelegentlich über diese Erinnerungen ebenso lustig zu machen, wie über alles Andre, was nur mich betrifft; und überdies habe ich eine Aufgabe, die mir nicht erlaubt*, viel an mich zu denken (eine Aufgabe, ein Schicksal oder wie man’s nennen will) Diese Aufgabe hat mich krank gemacht, sie wird mich auch wieder gesund machen, und nicht nur gesund, sondern auch wieder menschenfreundlicher und was dazu gehört. —
Das Geld ist glücklich in meine Hände gelangt, und ohne daß ich vorher in irgend welche Schwierigkeit gerathen wäre. Mit Nizza halte ich es jetzt so, wie mit Sils-Maria: ich versuche mich mit ihm zu arrangieren und stelle mir die guten und bewiesenen Faktoren in den Vordergrund: sein belebendes und erheiterndes Clima, seine Lichtfülle (welche mir einen Gebrauch meiner Augen gestattet, der außer allem Verhältniß zu dem steht, was sie anderwärts, namentlich in Deutschland, leisten) Die pension de Genève, tüchtig verbessert und mit viel gutem Willen der Zukunft entgegensehend, hat mir dies Mal ein wirkliches Arbeitszimmer hergerichtet (mit Licht- und Farbenmodifikationen, welche für mich absolut wichtig sind); ein kleiner Natron-Carbon-Ofen ist von Naumburg aus an mich unterwegs. Ich zahle etwas mehr Pension als früher (5 1/2 frs. per Tag, Wohnung und 2 Mahlzeiten: meinen Morgenthee besorge ich selbst); aber, unter uns gesagt, jeder andre Gast zahlt mehr (8—10 frs.) Beiläufig: eine Tortur für meinen Stolz!!!
— Du weißt, was ich jetzt von mir verlange: meine Orte dafür sollen Nizza und Sils-Maria bleiben (Venedig als Zwischenakt: ich habe eine herrliche Erinnerung an Köselitz, der seine gütige und hohe Seele sich zu bewahren gewußt hat, trotz aller Art Enttäuschung, und jetzt Musik macht, für die ich kein anderes Wort mehr habe als „klassisch“ (Zwei Sätze einer Symphonie z. B., der schönste „Claude Lorrain“ in Musik, den ich kenne) Dir und Deiner lieben Frau einen glücklichen und guten Tag wünschend, Dein N.
Prof. Deussen sendet Dir seinen Gruß; er war diesen Herbst in Athen. Ich bekam von ihm ein Lorbeer- und Feigenblatt geschickt, dort gepflückt, wo die Akademie Piatos gestanden hat.
In diesen Wochen wird auch die Rechnung C. G. Naumann’s über die Herstellungskosten des neuen Buchs einlaufen; Du bekommst sofort von mir Mittheilung.
952. An Jacob Burckhardt in Basel
Nice (France) pension de Genève14. Nov. 1887
Verehrtester lieber Herr Professor,
auch diesen Herbst bitte ich wieder um die Erlaubniß, Ihnen etwas von mir vorlegen zu dürfen, moralhistorische Studien unter dem Titel Zur Genealogie der Moral: auch dies Mal wieder wie alle Male nicht ohne eine gewisse Unruhe. Denn — ich weiß es nur zu gut — alle Schüsseln, welche von mir aufgetischt werden, enthalten so viel Hartes und Schwerverdauliches, daß zu ihnen sich noch Gäste einladen und so verehrte Gäste wie Sie es sind! eigentlich eher ein Mißbrauch freundschaftlich-gastfreundschaftlicher Beziehungen ist. Man sollte mit solcher Nußknackerei hübsch bei sich bleiben und nur die eignen Zähne in Gefahr bringen. Gerade in diesem neuesten Falle handelt es sich um psychologische Probleme härtester Art: so daß es fast mehr Muth bedarf, sie zu stellen als irgend welche Antworten auf sie zu riskiren. Wollen Sie mir noch einmal Gehör schenken?… Jedenfalls bin ich diese Abhandlungen Ihnen schuldig, weil sie im engsten Bezuge zu dem letztübersandten Buche („Jenseits von Gut und Böse“) stehn. Es ist möglich, daß ein Paar Hauptvoraussetzungen jenes schlecht zugänglichen Buchs hier deutlicher herausgekommen sind; — wenigstens gieng meine Absicht dahin. Denn alle Welt hat mir über jenes Buch das Gleiche gesagt: daß man nicht begreife, um was es sich handle, daß es so etwas sei wie „höherer Blödsinn“: zwei Leser ausgenommen, Sie selbst, hochverehrter Herr Professor, und andererseits einer Ihrer dankbarsten Verehrer in Frankreich, Ms. Taine. Verzeihung, wenn ich mir mitunter zum Troste sage: „ich habe bis jetzt nur zwei Leser, aber solche Leser!“ — Das sehr innerliche und schmerzhaft-verwickelte Leben, das ich bisher gelebt habe (und an dem meine im Grunde stark angelegte Natur Schiffbruch gelitten hat) hat nachgerade eine Vereinsamung mit sich gebracht, gegen die es kein Heilmittel mehr giebt. Mein liebster Trost ist immer noch der, der Wenigen zu gedenken, die es unter ähnlichen Bedingungen ausgehalten haben, ohne zu zerbrechen und sich eine gütige und hohe Seele zu bewahren gewußt haben. Es kann Niemand Ihrer dankbarer gedenken, hochverehrter Mann! als ich es thue.
Treulich und unveränderlich
Ihr ergebenster
Nietzsche.
Meine Wünsche für Ihre Gesundheit zu guterletzt! Dieser Winter scheint hart zu werden. Oh wären Sie hier!!
953. An E. Kürbitz in Naumburg (Postkarte)
Nizza (France), pension de Genève 16. Nov. 1887.
Geehrtester Herr,
in Hinsicht auf einen Wunsch, den ich meiner Mutter ausgedrückt habe (die Beschaffung von Ofen und Heizmaterial) bitte ich ihr die dazu nöthigen Gelder gefälligst zu übermitteln; ich nehme an, daß sie Ihnen persönlich sagen wird, wie viel sie dazu braucht. Der Winter scheint hart zu werden; ich wage es dies Jahr nicht, was ich jetzt sieben Jahre hintereinander gewagt habe, den Winter ohne Ofen zu überstehn.
Mit bekannter Hochschätzung
Ihr ergebenster
Prof Dr. Nietzsche
954. An Paul Deussen in Berlin (Postkarte)
Nice (France) pension de Genève 16. Nov. 1887.
Lieber Freund,
Du wirst von Deiner Odyssee jetzt glücklich in Deinen Berufs-Hafen wieder eingelaufen sein: ich wünsche Dir einen glücklichen und schülerreichen Winter und ein Vorwärts in jedem Sinne auf Deiner Bahn (ohne Hemmung, ohne „Quarantänen“ —) Die schöne Symbolik Deiner Handlung am 15. Okt. hat mich tief gerührt: — vielleicht ist dieser alte Plato mein eigentlicher großer Gegner? Aber wie stolz bin ich, einen solchen Gegner zu haben! — Behalte mich lieb!
Dein
Nietzsche
Einen herzlichen Gruß an die kleine tapfere Kameradin!
955. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Nizza, 19. November 1887>
Lieber Freund,
heute nur in aller Eile die Bitte, welche ein Brief meiner Mutter mir nahe legt, derselben ein Exemplar des Hymnus zu senden: denn es giebt sehr guten Willen, besagten Hymnus in Naumburg aufzuführen. Nur beschwöre ich Sie, liebster Freund, mein Gewissen im Punkte des problematischen a zu beruhigen; denn inzwischen hat Freund Krug, der Kölner Regierungsrath, mir seine entschiedene Mißbilligung desselben ausgedrückt (es sei „sein einziger Anstoß“: sein Brief, übrigens fast begeistert, auch hinsichtlich der Instrumentation, war bisher das schönste Erwiederungszeichen. Auch hat er die Aufführung in Cöln versprochen) Bitte, bitte, bitte und seien Sie so engelhaft, corrigiren Sie!!! damit ich in meinen Nächten vor der Clarinette Ruhe finde: als welche wie ein böses Gewissen bei mir umgeht.
Brief nächstens.
Jammervolles Wetter.
Treulich Ihr Freund Nietzsche
956. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Nizza, 23. November 1887>
Meine liebe Mutter, heute nur die Mittheilung, daß ich diesen Morgen zum ersten Male in geheiztem Zimmer sitze: — ich habe recht zu leiden gehabt, bis es so weit kam, denn das Wetter war auch hier vom Schlimmsten. Insgleichen melde ich, daß der Hymnus an Deine Adresse abgesandt ist; daß es mich freuen wird, wenn Naumburg ihm und mir die Ehre der Aufführung erweist, und daß die Fachmusiker ihn rühmen (als „singebar“, „rein im Satz“ usw) Meine besten Empfehlungen an Frl. Krug, insgleichen an Frau Claire Heinze, welche ganz Recht hat über Heizen und Nichtheizen in Nizza, nur nicht für diesen excentrischen Winter. Dein F.
957. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Nizza, 23. November 1887>
Zugleich mit Deinem lieben Briefe rückte der Ofen in mein Zimmer ein: so daß ich mich die Stunde darauf einer doppelten Wärme des Gefühls zu erfreuen hatte. (Es war die höchste Zeit; das Wetter war auch hier über alle Maaßen peinlich und niederdrückend: kein Schnee, aber Regengüsse, fast 10 Tage; auf den Quadratmeter 208 Liter Wasser) Ich habe den Hymnus, mit einem Briefe, an Euren Volckland geschickt; kannst Du nicht auch Deinerseits ihm einen kleinen Rippenstoß in besagter Richtung geben? Auch Köln und Naumburg stellen Aufführungen in Aussicht. —
Auch Buckhardt hat einen Brief von mir; eben drückte Sieber seinen Dank aus für die Übersendung von „Jenseits v. G<ut> u. B<öse>“ und der „Genealogie der Moral“. Das Herzlichste an Dich und Deine liebe Frau!
N.
958. An Heinrich Köselitz in Venedig
Nizza, 24. Nov. 1887
Lieber Freund
ich genieße diesen Morgen eine große Wohlthat: zum ersten Male steht ein „Feuergötze“ in meinem Zimmer: ein kleiner Ofen — ich bekenne, daß ich um ihn herum bereits einige heidnische Sprünge gemacht habe. Die Zeit bis heute war eine blaufingrige Fröstelei, bei der auch meine Philosophie nicht auf den besten Füßen stand. Es ist schlecht erträglich, wenn man im eignen Zimmer den eiskalten Anhauch des Todes spürt, — wenn man sich nicht auf sein Zimmer wie auf seine Burg zurückziehen kann, sondern nur wie in sein Gefängniß zurückgezogen wird —. Der Regen floß stromweise die letzten zehn Tage: man hat berechnet, daß auf einen Quadratmeter 208 Liter Wasser gefallen sind. Der Oktober war der kälteste, den ich bisher erlebte, der November der regenreichste. Nizza ist noch ziemlich leer; doch sind wir 25 Personen bei Tische, freundliche und wohlwollende Menschlein, gegen die nichts einzuwenden ist.
Inzwischen hat nur Overbeck geschrieben, voll Freude über den „Hymnus“ und seine „schöne, ungemein eindringliche und würdevolle Weise“; („mir kommt Deine jetzige Musik außerordentlich einfach vor“) Er hebt den „prachtvollen, wiederum so sprechenden Accent auf dem ersten ,Pein‘ heraus und die mir fast noch mehr ins Herz klingende Beschwichtigung der Schlußtakte.“ — Freund Krug (der mich übrigens bittet, den Justizrath in Regierungsrath „umzuwerthen“ —) spricht von „tiefer Rührung bis zu Thränen“. „Ich hoffe bestimmt, daß der Chor hier aufgeführt wird… Die Instrumentation ist vortrefflich, soweit ich beurtheilen kann. Sie zeigt eine angenehme Steigerung und Abwechslung bei weiser Mäßigung, wie z. B. auf S. 8, wo die Worte „und in der Gluth des Kampfes“ durch das tremolo der Bratschen und die Tenorposaune mit nachfolgender p Fanfare der Trompete nur leise gedeutet werden. Schön wird sich auch S. 6 und 10 die zart herabsteigende Flöte ausnehmen“ usw usw —
Daß Gluck zu seinen ersten Anhängern Rousseau gehabt hat, giebt zu denken: mir wenigstens ist Alles, was dieser Mensch geschätzt hat, ein wenig fragezeichenwürdig; insgleichen Alle, die ihn geschätzt haben (— es ist eine ganze Familie Rousseau, dahin gehört auch Schiller, zum Theil Kant, in Frankreich G<eorge> Sand, sogar Sainte-Beuve; in England die Eliot usw). Jedermann, der „die moralische Wörde“ nöthig gehabt hat, faute de mieux, hat zu den Verehrern Rousseaus gehört, bis auf unsern Liebling Dühring hinab, der den Geschmack hat, sich in seiner Selbstbiographie geradezu als Rousseau des neunzehnten Jahrhunderts zu präsentiren. (Bemerken Sie, wie Jemand sich zu Voltaire und Rousseau verhält: es macht den tiefsten Unterschied, ob er zum ersten Ja sagt oder zum zweiten. Die Feinde Voltaire’s (zb. Victor Hugo, alle Romantiker, selbst die letzten Raffinirten der Romantik, wie die Gebrüder Goncourt) sind allesammt gnädig gegen den maskirten Pöbel-Mann Rousseau — ich argwöhne, daß auf dem Grunde der Romantik selbst etwas von pöbelhaftem Ressentiment zu finden ist..) Voltaire ist eine prachtvolle geistreiche Canaille; aber ich bin der Meinung Galiani’s:
„un monstre gai vaut mieux
qu’un sentimental ennuyeux“
V<oltaire> ist nur auf dem Boden einer vornehmen Cultur möglich und erträglich, die sich eben den Luxus der geistigen canaillerie gestatten kann… —
Sehen Sie, welche warmen Gefühle, welche „Toleranz“ bereits mein Ofen in mich überzuströmen beginnt…
Bitte, lieber Freund, halten Sie sich diese Aufgabe gegenwärtig, Sie kommen nicht um dieselbe herum: Sie müssen in rebus musicis et musicantibus die strengeren Principien wieder zu Ehren bringen, durch That und Wort, und die Deutschen zu dem Paradoxon verführen, das nur heute paradox ist: daß die strengeren Principien und die heitere Musik zusammengehören…
Treulich und dankbar Ihr Freund N.
959. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)
Nizza d. 25 Nov. 1887.
Geehrtester Herr Verleger,
die Exemplare des neuen Buchs sind glücklich in meine Hände gelangt, insgleichen Ihre gefälligen Mittheilungen vom 22. November. In Bezug auf letztere habe ich nachzutragen, daß wir das Exemplar von „Jenseits“ und der „Genealogie“ nicht an Ms. Monod senden wollen, dagegen an diese Adresse (mit dem hübschen rothen Zettel auf jedem):
Monsieur Victor Cherbuliez
de l’Académie.
Redaction de la Revue des Deux Mondes
Paris
— Die Visitenkarten werden mir gerade jetzt sehr erwünscht kommen: ich bitte um deren baldigste Zusendung.
Ihr ergebenster
Dr. Nietzsche
960. An Georg Brandes in Kopenhagen
Nizza den 2. Dez. 1887.
Verehrter Herr,
ein paar Leser, die man bei sich selbst in Ehren hält und sonst keine Leser — so gehört es in der That zu meinen Wünschen. Was den letzten Theil dieses Wunsches angeht, so sehe ich freilich immer mehr, daß er unerfüllt bleibt. Um so glücklicher bin ich, daß zum „satis sunt pauci“ mir die pauci nicht fehlen und nie gefehlt haben. Von den Lebenden unter ihnen nenne ich (um solche zu nennen, die Sie kennen werden) meinen ausgezeichneten Freund Jakob Burckhardt, Hans von Bülow, Ms. Taine, den Schweizer Dichter Keller; von den Todten den alten Hegelianer Bruno Bauer und Richard Wagner. Es macht mir eine aufrichtige Freude, daß ein solcher guter Europäer und Cultur-Missionär, wie Sie es sind, fürderhin unter sie gehören will: ich danke Ihnen von ganzem Herzen für diesen guten Willen.
Freilich werden Sie dabei Ihre Noth haben. Ich selber zweifle nicht daran, daß meine Schriften irgendworin noch „sehr deutsch“ sind: Sie werden das freilich viel stärker empfinden, verwöhnt, wie Sie sind, durch sich selbst, ich meine durch die freie und französisch-anmuthige Art, mit der Sprache umzugehn (eine geselligere Art im Vergleich zu der meinen) Viele Worte haben sich bei mir mit andren Salzen inkrustirt und schmecken mir anders auf der Zunge als meinen Lesern: das kommt hinzu. In der Skala meiner Erlebnisse und Zustände ist das Übergewicht auf Seiten der seltneren ferneren dünneren Tonlagen gegen die normalen mittleren. Auch habe ich (als alter Musikant zu reden, der ich eigentlich bin) ein Ohr für Viertelstöne. Endlich — und das wohl am meisten macht meine Bücher dunkel — es giebt in mir ein Mißtrauen gegen Dialektik, selbst gegen Gründe. Es scheint mir mehr am Muthe, am Stärkegrade seines Muthes gelegen, was ein Mensch bereits für „wahr“ hält oder noch nicht… (Ich habe nur selten den Muth zu dem, was ich eigentlich weiß)
Der Ausdruck „aristokratischer Radikalismus“, dessen Sie sich bedienen, ist sehr gut. Das ist, mit Verlaub gesagt, das gescheuteste Wort, das ich bisher über mich gelesen habe. Wie weit mich diese Denkweise schon in Gedanken geführt hat, wie weit sie mich noch führen wird — ich fürchte mich beinahe mir dies vorzustellen. Aber es giebt Wege, die es nicht erlauben, daß man sie rückwärts geht; und so gehe ich vorwärts, weil ich vorwärts muß.
Damit ich meinerseits nichts versäume, was Ihnen den Zugang zu meiner Höhle, will sagen Philosophie erleichtern könnte, soll mein Leipziger Verleger Ihnen meine früheren Schriften en bloc übersenden. Ich empfehle in Sonderheit deren neue Vorreden zu lesen (sie sind fast alle neu herausgegeben) Diese Vorreden möchten, hintereinander gelesen, vielleicht etwas Licht über mich geben, vorausgesetzt, daß ich nicht dunkel an sich (dunkel an und für mich —) bin, als obscurissimus obscurorum virorum…
— Dies wäre nämlich möglich. —
Sind Sie Musiker? So eben giebt man ein Chorwerk mit Orchester von mir heraus, einen „Hymnus an das Leben“. Derselbe ist bestimmt, von meiner Musik übrig zu bleiben und einmal „zu meinem Gedächtniß“ gesungen zu werden: angenommen, daß sonst genug von mir übrig bleibt. Sie sehen, mit was für posthumen Gedanken ich lebe. Aber eine Philosophie, wie die meine, ist wie ein Grab — man lebt nicht mehr mit. „Bene vixit, qui bene latuit“ — so steht auf dem Grabstein des Descartes. Eine Grabschrift, kein Zweifel!
Es ist auch mein Wunsch, Ihnen einmal zu begegnen.
Ihr
Nietzsche
NB. Ich bleibe diesen Winter in Nizza. Meine Sommeradresse ist: Sils-Maria, Oberengadin, Schweiz. — Meine Universitäts-Professur habe ich aufgegeben. Ich bin drei Viertel blind.
961. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig
Nizza den 2. Dez. 1887.
Werthester Herr Verleger,
eben habe ich dem ausgezeichneten Dr. Georg Brandes, dem Dänen, ein Versprechen gemacht, zu dem ich freilich erst Ihrer Zustimmung bedurft hätte. Derselbe hat mir den ernsthaftesten Willen ausgedrückt, sich im Zusammenhange mit meinem ganzen Gedanken- und Schriftenkreise zu beschäftigen; um dies zu ermöglichen, müssen wir ihm die ganze Litteratur von mir, die in Ihren Händen ist, übermitteln. Er besitzt zwar mehrere Schriften schon, aber nichts von den neuen Auflagen. Er gehört zu den geschicktesten Missionären neuer Ideen, die ich kenne und hat einen weiten Kreis von Wirksamkeit. Mitarbeiter aller großen europäischen und deutschen Zeitschriften, theils deutsch, theils dänisch, theils französisch schreibend, die letzten Jahre Vorträge in Petersburg, Moskau und Warschau haltend, ist er wie geschaffen dafür, zwischen den Nationen zu vermitteln und neue Namen bekannt zu machen. Seine ausgezeichneten Arbeiten über deutsche und französische Litteratur (Leipzig, Veit u. Co. und anderswo erschienen) werden Ihnen vielleicht bekannt sein. Seine Adresse ist:
Dr. Georg Brandes
Kopenhagen, Dänemark
St. Anne-Platz 24.
Hochachtungsvoll
Ihr ergebenster
Dr. Nietzsche
Nizza Pension de Genève
962. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Nizza, 3. Dezember 1887>
Meine gute alte Mutter, wir haben fast unausgesetzt ein trauriges Wetter, das auf mir drückt: so daß weder meine Gesundheit, noch meine Arbeit auf einen grünen Zweig kommt. Sonst hätte ich Gründe, guter Dinge zu sein: es gab schöne Briefe und unerwartete aus allen Weltgegenden. Dein Sohn ist nachgerade eine Macht: er stärkt und erquickt, er macht Anderen „gutes Wetter“. — Die antisemitische Litteratur bitte ich auch fürderhin mir vorzuenthalten. Auch Hr. Busse ist Antisemit. — Was den Hymnus angeht, so thue Deinerseits nichts mehr und laß Alles laufen, wie es läuft. Führt Naumburg ihn nicht auf, so wirst Du ihn vielleicht in Leipzig hören können — und zehnmal würdiger! Das Gedicht mag einstweilen als mein Erzeugniß gelten (und gilt überall dafür) Ich werde schon eine Gelegenheit finden, „dem die Ehre zu geben, dem die Ehre gebührt“. Augenblicklich wäre es unopportun. (Der Hofkapellmeister Mottl in Carlsruhe schreibt mir, daß der Hymnus einer sehr guten Aufführung bedürfe, um seine Wirkung zu thun. Dies macht mich gegen die Naumburger Aufführung zweifelhaft)
Dein altes Geschöpf.
962a. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Entwurf)
<Nizza, um den 10. Dezember 1887>
Schnell ein Paar Worte zum Danke für Deinen gemüthlichen Brief, der mir wie aus einer warmen Stube zu kommen schien und Vieles brachte, das mich interessirt. Ich beantworte zuerst Deine Frage in Betreff meines Vermögens; das <sich> bei Herrn Kürbitz befindet: ich glaube, daß es daselbst in der allerbesten Sicherheit ist. Stelle Dir vor, daß gerade in diesen Tagen die alte Pfarrerin einen Brief aus Amerika bekam, der die Nachricht mittheilt, daß ihr dort bei einem Administrator niedergelegtes und seit vielen Jahren von demselben verwaltetes Vermögen (c. 200 000 M. selbst erworbenes) verloren sei, und daß der Administrator sich das Leben genommen habe. Hier hat es weder an Vorsicht, noch — — —
In Betreff des H<ymnus> gebe ich Dir vollkommen Recht: insofern man meint, mit der Aufführung mir einen besonderen Gefallen zu erweisen, so kann ich auf dieselbe — — —
so lange Naumburg es nicht sich zur Ehre anrechnet, von mir etwas mit meiner Erlaubniß aufführen zu dürfen, steht eben Alles auf dem Kopf; und unter keinen Umständen wünsche ich womöglich gar noch dankbar sein zu müssen.
962b. An Ernst Julius Kürbitz in Naumburg
Nizza den 11. Dez. 1887.
Sehr geehrter Herr,
die Angelegenheit, derentwegen ich zuletzt Ihnen eine Karte schrieb, hat sich inzwischen erledigt. Dagegen habe ich heute eine Bitte auszudrücken, die sich auf das bevorstehende Weihnachtsfest bezieht. Ich wünsche, daß meiner Mutter in meinem Namen 30 Mark (dreißig Mark) eingehändigt werden und wäre Ihnen dankbar, wenn dies so bald als möglich geschähe
In bekannter Hochschätzung
Ihr
Prof. Dr. F. Nietzsche.
Nizza, pension de Genève
963. An Carl Fuchs in Danzig
Nizza (France) den 14. Dez. 1887 pension de Genève
Lieber und werther Freund,
es war ein sehr guter Augenblick, mir einen solchen Brief zu schreiben. Denn ich bin, fast ohne den Willen dazu, aber gemäß einer unerbittlichen Notwendigkeit, gerade mitten darin, mit Mensch und Ding bei mir abzurechnen und mein ganzes „Bisher“ ad acta zu legen. Fast Alles, was ich jetzt thue, ist ein Strich-drunter-ziehn. Die Vehemenz der inneren Schwingungen war erschrecklich, die letzten Jahre hindurch; nunmehr, wo ich zu einer neuen und höheren Form übergehn muß, brauche ich zuallererst eine neue Entfremdung, eine noch höhere Entpersönlichung. Dabei ist es wesentlich, was und wer mir noch bleibt. —
Wie alt ich eigentlich schon bin? Ich weiß es nicht; ebensowenig, wie jung ich noch sein werde. —
Ich betrachte mit Vergnügen Ihr Bild; es scheint mir viel Jugend und Tapferkeit drin zu sein, gemischt, wie es sich ziemt, mit beginnender Weisheit (und weißen Haaren? ..)
In Deutschland beschwert man sich stark über meine „Excentricitäten“. Aber da man nicht weiß, wo mein Centrum ist, wird man schwerlich darüber die Wahrheit treffen, wo und wann ich bisher „excentrisch“ gewesen bin. Zum Beispiel, daß — ich Philologe war — damit war ich außerhalb meines Centrum (womit, glücklicher Weise, durchaus nicht gesagt ist, daß ich ein schlechter Philologe war) Insgleichen: heute scheint es mir eine Excentricität, daß ich Wagnerianer gewesen bin. Es war ein über alle Maaßen gefährliches Experiment; jetzt, wo ich weiß, daß ich nicht daran zu Grunde gegangen bin, weiß ich auch, welchen Sinn es für mich gehabt hat — es war meine stärkste Charakter-Probe. Allmählich disciplinirt Einen freilich das Innewendigste zur Einheit zurück; jene Leidenschaft, für die man lange keinen Namen hat, rettet uns aus allen Digressionen und Dispersionen, jene Aufgabe, deren unfreiwilliger Missionär man ist.
Dergleichen ist sehr schwer aus der Ferne zu verstehn. Meine letzten zehn Jahre waren dadurch über die Maaßen schmerzhaft und gewaltsam. Falls Sie Lust haben sollten, mehr von dieser bösen und problematischen Geschichte zu hören, so seien Ihrer freundschaftlichen Theilnahme die Neuausgaben meiner früheren Schriften empfohlen, insbesondere deren Vorreden. (Anbei bemerkt: mein aus guten Gründen etwas desperater Verleger, der treffliche E. W. Fritzsch in Leipzig, ist bereit, Jedermann diese Neuausgaben auszuhändigen, vorausgesetzt, daß man ihm dafür einen längeren Essai (über „Nietzsche en bloc“) verspricht. Die größeren Litteraturblätter, wie Lindau’s Nord und Süd, sind reif dafür, einen solchen Essai nöthig zu haben, da eine wirkliche Unruhe und Aufregung über die Bedeutung meiner Litteratur sich bemerkbar macht. Bisher hat noch Niemand genug Muth und Intelligenz gehabt, mich den lieben Deutschen zu entdecken: meine Probleme sind neu, mein psychologischer Horizont ist bis zum Erschrecken umfänglich, meine Sprache kühn und deutsch, vielleicht giebt es keine gedankenreicheren und unabhängigeren deutschen Bücher als die meinen)
— Der Hymnus gehört auch zu diesem „Strich-drunter-ziehn“. Können Sie ihn nicht sich einmal singen lassen? Man hat mir von verschiedenen Seiten schon die Aufführung in Aussicht gestellt (zb. Mottl in Carlsruhe) Seine eigentliche Bestimmung soll freilich sein, einmal „zu meinem Gedächtniß“ gesungen zu werden: er soll von mir übrig bleiben, gesetzt, daß ich selbst übrig bleibe.
Behalten Sie mich in guter Erinnerung, mein lieber Herr Doktor: ich danke Ihnen auf das Herzlichste dafür, daß Sie mir auch in der zweiten Hälfte Ihres Jahrhunderts zugethan bleiben wollen.
Ihr Freund
Nietzsche
964. An Heinrich Köselitz in Venedig
Nizza, pension de Genève den 20. Dez. 1887.
Lieber Freund,
ich war eben im Begriff, mich bei Ihnen nach Ihnen zu erkundigen: denn Ihr letzter Brief datirt vom 12. November. Ihre Karte giebt mir den schmerzhaften Verdacht ein, daß ein letzterer Brief nicht angelangt ist. Meine Mutter hat mir indessen mit vieler Freude und Dankbarkeit von einem sehr schönen Brief erzählt, den Sie ihr geschrieben haben, zusammen mit der Übersendung des Hymnus. Das war das Neueste, was ich von Ihnen wußte. Gestern habe ich endlich ein kleines Werk erkapert, das für jenes Problem, mit dem sich unsre letzten Briefe beschäftigten, ausgezeichnete Winke giebt: A. Pougin, die ersten Anfänge der französischen Oper. Das Entscheidende darin ist ein langer Brief jenes originellen Geistes, dem man die französische Oper verdankt, Perrin’s, von 1659. Darin wird methodisch, in 9 Rubriken, aufgezählt, was den Franzosen an der damaligen italiänischen Oper widerstand, und woraufhin die Neuerung gewagt wurde. Der Brief, im genannten Buche zum ersten Male wieder abgedruckt, ist ein capitales Faktum für die Culturgeschichte. —
Sie sehen, daß ich im Geiste bei Ihnen bin; und es gab noch ein besondres Ereigniß, wo ich Sie vermißt und verlangt habe, wie selten, nämlich die erste Aufführung von Carmen im großen italiänischen Theater — ein wahres Ereigniß für mich: ich habe in diesen 4 Stunden mehr erlebt und begriffen als sonst in 4 Wochen. Alle Ehre Herrn Sonzogno! Ausverkauftes Haus, viel vornehmste Welt (duc de Montpensier etc), ein unvergleichlich tragischer Eindruck, Alles hundert Mal spanischer als man es in Deutschland begreifen und goutiren würde. Wenn ich Sie wiedersehe, will ich Ihnen erzählen, was ich begriffen habe. Von einer Aufführung der pescatori habe ich nur den ersten Akt mir zugemuthet: das Werk ist noch ohne Gleichgewicht; der Einfluß der Vorbilder (Gounod, Fel. David, Wagner’s Lohengrin) unvermittelt und unüberwunden fühlbar. —
Zu Hegar’s Zurücksendung sage ich kein Wort. Die Kluft ist nach allen Seiten hin zu groß geworden; ich habe alle mögliche Art von Kasteiung nöthig, um nicht selber unter die Ressentiments-Menschen zu gerathen. Die Art Vertheidigungszustand, in den sich die mir von ehemals befreundeten M<enschen> gegen mich versetzen, hat etwas Agaçantes, das peinlicher wirkt als ein Angriff. „Nicht hören und nicht sehen“ — das scheint die Devise. Auf den Hymnus hat Niemand mehr geantwortet, außer Brahms (er schrieb „J<ohannes> B<rahms> erlaubt sich hierdurch seinen verbindlichen Dank für Ihre Sendung zu sagen: für die Auszeichnung, als welche er sie empfindet und die bedeutsamen Anregungen, welche er Ihnen verdankt. In hoher Achtung ergeben“) Auf das Buch hin gab es nur zwei Briefe, allerdings sehr schöne: einen von Dr. Fuchs; und einen von Dr. Georg Brandes (der geistreichste Däne, den es jetzt giebt d. h. Jude) Letzterer ist Willens, sich mit mir gründlich zu befassen: er ist erstaunt von dem „ursprünglichen Geiste“, der aus meinen Schriften spreche und gebraucht, zu deren Charakteristik, den Ausdruck „aristokratischer Radikalismus“. Das ist gut gesagt und empfunden. Ah, diese Juden! — Ein Paar Recensionen meines „Jenseits“, von Naumann mir übersandt, zeigen nur schlechten Willen: die Worte „psychiatrisch“ und „pathologisch“ sollen als Erklärungsgrund meines Buchs und als dessen Censur gelten. (Unter uns gesagt: die Unternehmung, in der ich drin stecke, hat etwas Ungeheures und Ungeheuerliches, — und ich darf es Niemandem verargen, der dabei den Zweifel hier und da in sich auftauchen fühlt, ob ich noch „bei Verstande“ bin)
Das Schönste nicht zu vergessen: mein alter Freund Gersdorff hat auf die rechtschaffenste und herzlichste Weise sein Verhältniß zu mir wieder hergestellt: das war ein förmliches Geschenk für mich. Er verlangt, daß ich ihn über Sie, lieber Freund, gründlich unterrichte, — ich werde es heute noch versuchen.
Ich bin arbeitsam, aber schwermüthig und noch nicht aus der vehementen Schwingung heraus, welche die letzten Jahre mit sich gebracht haben. Noch nicht „entpersönlicht genug“. — Trotzdem weiß ich, was gethan und abgethan ist: ein Strich ist unter meine bisherige Existenz gezogen — das war der Sinn der letzten Jahre. Freilich, ebendamit hat sich diese bisherige Existenz als das herausgestellt, was sie ist — ein bloßes Versprechen. Die Leidenschaft der letzten Schrift hat etwas Erschreckendes: ich habe sie vorgestern mit tiefem Erstaunen und wie etwas Neues gelesen.
Erzählen Sie mir, lieber Freund, von lauter guten Dingen!
Treulich Ihr N.
965. An Carl von Gersdorff in Ostrichen bei Seidenberg
Nice (France) Hôtel de Genève 20 Dec. 1887.
Lieber Freund,
selten in meinem Leben hat mir ein Brief solche Freude gemacht wie der Deinige vom 30. November. Es scheint mir, daß damit Alles zwischen uns auf das Rechtschaffenste und Gründlichste wieder in Ordnung gebracht ist. Ein solches Glück konnte gar nicht auf einen passenderen Zeitpunkt mir aufgespart bleiben, als es der jetzige ist. In einem bedeutenden Sinn steht mein Leben gerade jetzt wie im vollen Mittag: eine Thür schließt sich, eine andre thut sich auf. Was ich nur in den letzten Jahren gethan habe, war ein Abrechnen, Abschließen, Zusammenaddiren von Vergangnem, ich bin mit Mensch und Ding nachgerade fertig geworden und habe einen Strich drunter gezogen. Wer und was mir übrig bleiben soll, jetzt wo ich zur eigentlichen Hauptsache meines Daseins übergehn muß (überzugehn verurtheilt bin… ) das ist jetzt eine capitale Frage. Denn, unter uns gesagt, die Spannung, in welcher ich lebe, der Druck einer großen Aufgabe und Leidenschaft, ist zu groß, als daß jetzt noch neue Menschen an mich herankommen könnten. Thatsächlich ist die Oede um mich ungeheuer; ich vertrage eigentlich nur noch die ganz Fremden und Zufälligen und, anderseits, die von Altersher und aus der Kindheit mir Zugehörigen. Alles Andre ist abgebröckelt oder auch abgestoßen worden (es gab viel Gewaltsames und Schmerzliches dabei —)
Es bewegte mich, Deinen Brief, und Deine alte Freundschaft darin, gerade jetzt zum Geschenk zu erhalten. Etwas Ähnliches geschah im vorigen Sommer, als plötzlich Deussen im Engadin erschien, den ich 15 Jahre lang nicht gesehn hatte (— er ist der erste Philosophie-Professor Schopenhauerischer Confession und behauptet, daß ich die Ursache seiner Verwandlung sei) Insgleichen bin ich tief dankbar für Alles das, was ich dem Venediger maëstro verdanke. Ich habe ihn fast jedes Jahr besucht und darf Dir ohne jede Übertreibung sagen: er ist in rebus musicis et musicantibus meine einzige Hoffnung, mein Trost und mein Stolz. Denn er ist beinahe aus mir gewachsen: und das, was er jetzt von Musik macht, ist an Höhe und Güte der Seele und an Classicität des Geschmacks weit über Allem, was jetzt sonst von Musik gemacht wird. Daß man sich ablehnend und unanständig gegen ihn verhält und daß er ganze Jahre einer wirklichen Tortur durch Zurückweisungen, Taktlosigkeiten und deutsche Tölpeleien durchgemacht hat, steht dazu nicht im Widerspruch. Aber dies ist die Moral der Geschichte: entweder geht man an den Widerwärtigkeiten des Lebens zu Grunde oder kommt stärker aus ihnen heraus.
Auch Du, mein lieber alter Freund! Du Viel-Geprüfter! wirst diesen Satz unterschreiben können? —
Es scheint mir, daß ich Dir dies Mal einen Geburtstagsbrief geschrieben habe? Ganz wie ehedem, in unsrer „guten alten“ Zeit? (Ich bin Dir wirklich nicht einen Augenblick untreu geworden: sage das auch Deiner lieben Frau, zugleich mit meiner angelegentlichen Empfehlung!)
In alter Liebe und
Freundschaft Dein Nietzsche
Eben erschienen, bei E. W. Fritzsch: Hymnus an das Leben. Für gemischten Chor und Orchester componirt von Friedrich Nietzsche. Partitur. — Bitte, lies doch die neue Ausgabe der fröhlich. Wissenschaft: — es ist Einiges zum Lachen darin.
966. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Nizza,> 28. Dezember 1887.
Heute nur einen Gruß und Glückwunsch zum Übergang aus dem alten Jahr ins neue! Der Winter ist hart; ich fürchte, daß er Dir Noth macht, im Bunde mit der Scholastik… Hier ist seit gestern tiefer Schnee: etwas Neues für mich, selbst für viele Niçois. Palmen mit Schnee überladen, die gelben Orangen aus Schnee herausguckend, drüber ein unglaublicher Himmel, ganz strahlend vor Freude — alles sehr phantastisch und absurd. Der Schnee ist von körniger und solider Art (man nennt diese Art hier neige de Corse) Ich beneide mich unter diesen Umständen um meinen kleinen Ofen (den ich alle Morgen präcis um 6 Uhr einheize): denn ich habe ein Nordzimmer. Sonst nicht viel Gutes zu melden; die Schwere meines Daseins lastet wieder stärker auf mir; fast keinen ganz guten Tag gehabt; und viel Sorge und Schwermuth. Bewahre mir Deine Treue und Liebe, alter Freund!
N.
Das Geld bitte ich mir in der üblichen Weise aus, recommandirt, pension de Genève.
967. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Fragment)
Nizza, den 29. Dec. 1887.
— — — der „antisem<itischen> Correspondenz“ gelesen habe, kenne ich keine Schonung mehr. Diese Partei hat der Reihe nach mir meinen Verleger, meinen Ruf, meine Schwester, meine Freunde verdorben — nichts steht meinem Einfluß mehr im Wege, als daß der Name Nietzsche in Verbindung mit solchen Antisemiten wie E. Dühring gebracht worden ist: man muß es mir nicht übel nehmen, wenn ich zu den Mitteln der Nothwehr greife. Ich werfe Jeden zur Thüre hinaus, der mir in diesem Punkte Verdacht einflößt. (Du begreifst, in wiefern es mir eine wahre Wohlthat ist, wenn diese Partei anfängt, mir den Krieg zu erklären: nur kommt es 10 Jahre zu spät —)
Wir stecken hier seit vorgestern Abend im Schnee: das ist für Nizza etwas ganz Seltenes, ich habe es noch nicht erlebt. Die Palmen mit Schnee überdeckt, die gelben Apfelsinen zwischen Schnee herausguckend — das sieht kurios aus; und dabei ein himmlisches Wetter, klar und leuchtend, das Meer vom schönsten Blau. Die Kälte geht nachts bis auf 3 Grad unter Null hinunter; unter diesen Umständen ist mein kleiner Ofen unschätzbar (— er wird alle Morgen um 6 eingeheizt, so daß ich für die Zeit meines Sitzens am Schreibtisch leidlich warm habe.) Nizza ist nicht zum Besten daran, was Gäste betrifft; unser Haus relativ das am meisten besuchte (c. 45 Personen) Die Zeit vor dem Schnee war eine herrliche Spaziergehe-Zeit: nur daß der Staub mir sehr zu schaffen gemacht hat (noch am Weihnachtstage —)
Eine große Masse Bücher steht in meinem Zimmer; es giebt auch einen kleinen Bücherschrank. Es giebt auch eine vorzügliche chaise longue (ich kann ohne eine solche nicht gut mehr leben) Unsre Küche ist diesen Winter sehr lobenswürdig. Meine Absicht geht dahin, es etwa bis Ende März auszuhalten (— bis die Sonne mich forttreibt, die zu blendend wird)
— Und nun, meine alte liebe Mutter, sind wir am Ende mit diesem Jahre: ich wünsche mir und Dir zum neuen Muth, Geduld und — recht schöne Briefe. In Liebe Dich umarmend
Dein altes Geschöpf.
968. An Elisabeth Förster in Asuncion (Entwurf)
<Nizza, Ende Dezember 1887>
Man hat mir inzwischen schwarz auf weiß bewiesen, daß Herr Dr Förster auch jetzt noch nicht seine Verbindung mit der antis<emitischen> Bewegung aufgegeben hat. Ein Leipziger Tolpatsch und Biedermeyer (Fritsch, wenn ich mich recht erinnere) unterzog sich dieser Aufgabe, — er übersandte mir bisher regelmäßig, trotz meines energischen Protestes die antis<emitische> Corresp<ondenz> (ich habe nichts Verächtlicheres bisher gelesen als diese Correspondenz) Seitdem habe ich Mühe, etwas von der alten Zärtlichkeit und Schonung wie ich sie gegen Dich so lange gehabt habe zu Deinen Gunsten geltend zu machen, die Trennung zwischen uns ist ja nachgerade damit in der absurdesten Weise festgestellt. Hast Du gar nichts begriffen, wozu ich in der Welt bin?
Willst Du einen Katalog der Gesinnungen die ich als antipodisch empfinde? Du findest sie ganz hübsch bei einander in den „Nachklängen zu P<arsifal>“ Deines Gatten; als ich sie las, gieng mir als haarsträubende Idee auf, daß Du nichts, nichts von meiner Krankheit begriffen hast, ebenso wenig als meine schmerzhafteste und überraschendste Erkenntniß — daß der Mann, den ich am meisten verehrt hatte, in einer ekelhaften Entartung gradwegs in das überging, was ich immer am meisten verachtet hatte, in den Schwindel mit moralischen und christlichen Idealen. — Jetzt ist so viel erreicht, daß ich mich mit Händen und Füßen gegen die Verwechslung mit der antis<emitischen> Canaille wehren muß; nachdem meine eigne Schw<ester>, meine frühere Schw<ester> wie neuerdings wieder Widemann zu dieser unseligsten aller Verwechslungen den Anstoß gegeben haben. Nachdem ich gar den Namen Z<arathustra> in der antis<emitischen> Correspondenz gelesen habe, ist meine Geduld am Ende — ich bin jetzt gegen die Partei Deines Gatten im Zustand der Notwehr. Diese verfluchten schmutzigen Antisemiten-Fratzen sollen nicht an mein Ideal greifen!!
Daß unser Name durch Deine Ehe mit dieser Bewegung zusammen gemischt ist, was habe ich daran schon gelitten! Du hast die letzten 6 Jahre allen Verstand und alle Rücksicht verloren.
Himmel, was mir das schwer wird!
Ich habe, wie es billig ist, nie von Dir verlangt, daß Du etwas von der Stellung <verstündest>, die ich als Ph<ilosoph> zu meiner Zeit einnehme; trotzdem hättest Du, mit ein wenig Instinkt der Liebe, es vermeiden können, so geradewegs Dich bei meinen Antipoden anzusiedeln. Ich denke jetzt über Schwestern ungefähr so, wie Sch<openhauer> dachte, — sie sind überflüssig, sie stiften Unsinn.
Ich genieße als Ergebniß der letzten 10 Jahre, daß <ich> die gutmüthige Illusion verloren habe, als ob irgend Jemand wüßte, worum es sich bei mir handelt. Ich bin Jahre lang in der Nähe des Todes gewesen: nicht eine Ahnung davon bei irgend Jemandem, warum. Und als ich wieder Herr wurde und langsam wieder haben fast alle M<enschen> die ich kenne förmlich gewetteifert, meine Genesung durch die beleidigendste Mißhandlung immer wieder in Frage zu stellen:
ich hüte mich nachgerade, mich mit gegenwärtigen M<enschen> einzulassen; denn meine Erinnerung in Betreff fast aller derer, die ich bis jetzt kenne, ist, daß ich von ihnen in den härtesten Zeiten meines Lebens schändlich mißhandelt worden bin
Bis jetzt <habe ich es> freilich Niemandem vergessen, der sich in den letzten 10 Jahren an mir vergriffen hat: <doch lerne ich vielleicht auch das noch,> mein Gedächtniß hat wenig Platz für meine Erlebnisse
es war mir z. B. bisher unmöglich, Overbecks in Basel zu besuchen, weil <ich> es Frau Overbeck nicht vergeben hatte, daß sie sich schmutzige und unwürdige Vorstellungen über ein <Wesen gebildet hatte,> von dem ich ihr selbst gesagt habe, daß es die einzige Verwandte Natur ist, der ich bisher im Leben begegnet bin. Dasselbe gilt auch von Malvida und im Grunde von allen meinen alten Bekannten: man hat in diesem Punkte meine Ehre bis diesen Augenblick nicht wieder hergestellt. Der Besuch des vortreffl<ichen> Deussen erinnerte mich an diese Sachlage.
3. Ich habe allzulange aus einer gewissen absurden Gutmüthigkeit vorausgesetzt, daß man ungefähr wisse, worum es sich bei mir handele (zb. warum ich Jahrelang in der nächsten Nachbarschaft des Todes gelebt habe.) Nun, Schritt für Schritt bin ich hierüber (daß Niemand etwas von mir weiß) „wissend“ geworden; und das Beste ist, daß ich, seitdem ich das „weiß“, mich besser unabhängiger wohlwollender gegen Jedermann gestimmt fühle.
Ich habe mich jetzt in die Lage geschickt, zu der ich mich bisher nur „verurtheilt“ fühlte (nämlich nie einen verwandten Laut zu hören) mehr noch, ich habe eben darin das Auszeichnende meiner Lage, meines Problems, meiner neuen Fragestellung begriffen.
Ich lerne es mich in die Lage zu schicken zu der ich mich bisher immer verurtheilt glaubte: nämlich nie einen verwandten Laut zu hören