1888, Briefe 969–1231a
1207. An Heinrich Köselitz in Annaberg
Turin, den 22. Dezember 1888.
Lieber Freund,
dies Papier habe ich entdeckt, das Erste, auf dem ich schreiben kann. Insgleichen Feder, diesen aber aus Deutschland: Sönnekken’s Rundschrift-Feder. Insgleichen Tinte, diesen aber aus New-York, theuer, ausgezeichnet. — Ihre Nachrichten sind ausgezeichnet; der Fall Joachim ist ersten Ranges. Ohne Juden giebt es keine Unsterblichkeit, — sie sind nicht umsonst „ewig“. — Auch Dr. Fuchs macht seine Sache vortrefflich; ich bekenne, daß, so lange es eine chance Hochberg giebt — es kann ja jeden Augenblick ein toller Wagnerianer an seine Stelle treten — ist die Chance im Auge zu behalten. — Von Herrn Wiedemann erbitten Sie sich, so rücksichtsvoll wie möglich, das Exemplar wieder aus: ich muß das Werk gegen alle Zufälle von Leben und Tod sicher stellen. —
Sehr curios! Ich verstehe seit 4 Wochen meine eignen Schriften, — mehr noch, ich schätze sie. Allen Ernstes, ich habe nie gewußt, was sie bedeuten; ich würde lügen, wenn ich sagen wollte, den Zarathustra ausgenommen, daß sie mir imponirt hätten. Es ist die Mutter mit ihrem Kinde: sie liebt es vielleicht, aber in vollkommner Stupidität darüber, was das Kind ist. — Jetzt habe ich die absolute Überzeugung, daß Alles wohlgerathen ist, von Anfang an, — Alles Eins ist und Eins will. Ich las vorgestern die „Geburt“: etwas Unbeschreibliches, tief, zart, glücklich…
Gehn Sie nicht zu Prof. Deussen: er ist zu stupid für uns, — zu gewöhnlich. — Herr Spitteler ist, seit Ihrem „Kunstwart“, zur Salzsäule erstarrt: er blickt auf seine Dummheit vom letzten Januar zurück…
Die Schrift N<ietzsche> contra W<agner> wollen wir nicht drucken. Das „Ecce“ enthält alles Entscheidende auch über diesen Beziehung. Die Partie, welche, unter Anderm, auch den maestro „Pietro Gasti“ bedenkt, ist bereits in „Ecce“ eingetragen. Vielleicht nehme ich auch das Lied Zarathustras — es heißt: „von der Armut des Reichsten“ — noch hinein. Als Zwischenspiel zwischen 2 Hauptabschnitten.
Unbeschreiblich delikater Brief von Ms. Taine aus Paris (— er bekommt auch Peter Gast zu lesen!); er beklagt, für toutes mes audaces und finesses nicht genug deutsch zu verstehn — das heißt nicht gleich beim ersten Blick sie zu verstehn — und empfiehlt mir, als einen competenten Leser, der aufs Tiefste auch Deutschland und deutsche Litteratur studirt habe, Niemand Geringeres als den Chef-Redakteur des Journal des Débats und der Revue des deux Mondes, Ms. Bourdeau, eine der ersten und einflußreichsten Personnagen Frankreichs. Der soll mein Bekanntwerden in Frankreich in die Hand nehmen, die Frage der Übersetzung: dazu empfiehlt ihn Ms. Taine. — Damit ist der große Panama-Canal nach Frankreich hin eröffnet.
Meine herzlichsten Grüße an Ihre verehrten Angehörigen!
Erster Schnee, hübsch!!!
Ihr Freund Nietzsche.