1888, Briefe 969–1231a
1096. An Carl Fuchs in Danzig
Sils, Sonntag <26. August 1888>
Lieber Freund,
ein paar Tage Ruhe. Es gab auch ein Paar Tage Krankheit. Doch soll es gehn — und es geht. Dies Mal bin ich an der Reihe zu erzählen. — Zuerst von Dr. Brandes. Derselbe hat für mich nur gethan, was er seit 30 Jahren für alle unabhängigen Geister Europa’s thut — er hat mich seinen Landsleuten vorgestellt. Was ich in meinem Falle hoch zu ehren habe, das ist, daß er da seinen leidenschaftlichen Widerwillen gegen alle jetzigen Deutschen überwunden hat. Eben hat er wieder, nach dem Besuch des Kaisers, in „einer wahren Teufels-Laune“, wie die Kölnische Zeitung sagt, seine Verachtung gegen alles Deutsche ausgedrückt. Nun, man giebt es ihm reichlich zurück. In den gelehrten Kreisen genießt er des allerschlechtesten Rufs: mit ihm in Beziehung zu stehn gilt als entehrend (Grund genug, für mich, so wie ich bin, der Geschichte von den Winter-Vorlesungen die allerweiteste Publizität zu geben). Er gehört zu jenen internationalen Juden, die einen wahren Teufels-Muth im Leibe haben, — er hat auch im Norden Feinde über Feinde. Er ist mehrsprachig, hat sein bestes Auditorium in Rußland, kennt die gute geistige Welt Englands und Frankreichs auf’s Persönlichste — und ist ein Psycholog (was ihm die deutschen Gelehrten nicht verzeihen…) Sein größtes Werk, mehrmals erschienen, „die Hauptströmungen der Litteratur des neunzehnten Jahrhunderts“ ist immer noch das beste deutsch geschriebene Cultur-Buch über dieses große Objekt. — Zur Musik steht er, wie er mir im Winter schrieb, zu seinem Bedauern in keinem Verhältniß. —
Vor 4 Tagen hat uns Herr von Holten verlassen. Wir sind alle betrübt. Eine solche Vereinigung von Liebenswürdigkeit und Bosheit ist ein ganz selten Ding. Ein alter Abbé, mit den Launen eines großen Schauspielers. Dabei eine ganz merkwürdige Erfindsamkeit im Wohlthun, im Freude-machen — Jedermann hat eine Geschichte davon zu erzählen. Er muß in der That in den glücklichsten Verhältnissen sein, ich meine nicht des Beutels sondern des Herzens, denn es vergieng kein Tag, wo er nicht Etwas derart „verbrochen“ hätte. — Für mich hatte er sich folgende Artigkeit ausgedacht: er hatte sich eine Composition des einzigen Musikers, den ich heute gelten lasse, meines Freundes Peter Gast eingeübt und spielte sie mir privatissime sechs Mal auswendig vor, entzückt über „das liebenswürdige und geistreiche Werk“. — In rebus musicis et musicantibus vertrugen wir uns zum besten d. h. wir waren ohne jede Toleranz und secirten den „Einäugigen“ unter den Blinden… Was Riemann betrifft, so haben wir ernst genug darüber gesprochen, doch auch im gleichen Sinn, nämlich daß eine „phrasirte“ Ausgabe schlimmer ist als jede andere — nämlich als eine bösartige Schulmeisterei. Was „unrichtig“ ist, läßt sich in der That in zahllosen Fällen bestimmen, was richtig ist, fast nie. Die Illusion der „phraseurs“ in diesem Punkte schien uns außerordentlich. Die Grundvoraussetzung, auf die sie bauen, daß es überhaupt eine richtige d. h. Eine richtige Auslegung giebt, scheint mir psychologisch und erfahrungsmäßig falsch. Der Componist, im Zustande des Schaffens wie des Reproduzirens, sieht diesen feinen Schatten in einem bloß labilen Gleichgewicht — jeder Zufall, jede Erhöhung oder Ermattung des subjektiven Kraftgefühls faßt bald größere, bald nothwendig engere Kreise als Einheiten zusammen. Kurz, der alte Philologe sagt, aus der ganzen philologischen Erfahrung heraus: es giebt keine alleinseligmachende Interpretation, weder für Dichter, noch für Musiker (Ein Dichter ist absolut keine Autorität für den Sinn seiner Verse: man hat die wunderlichsten Beweise, wie flüssig und vag für sie der „Sinn“ ist —).
— Ein andrer Gesichtspunkt, über den wir sprachen (— es könnte sein, daß ich ihn auch schon einmal gegen Sie, lieber Freund, berührte, vor ein paar Jahren). Dieses Beseelen, Beleben der kleinsten Redetheile der Musik (— ich möchte, Sie und Riemann wendeten die Worte an, die Jeder aus der Rhetorik kennt: Periode (Satz), Kolon, Komma, je nach der Größe, insgleichen Fragesatz, Conditionalsatz, Imperativ — denn die Phrasirungslehre ist schlechterdings das, was für Prosa und Poesie die Interpunktionslehre ist), — also: wir betrachteten diese Beseelung und Belebung der kleinsten Theile, wie sie in der Musik zur Praxis Wagner’s gehört und von da aus zu einem fast herrschenden Vortrags-System (selbst für Schauspieler und Sänger) geworden, mit verwandten Erscheinungen in anderen Künsten: es ist ein typisches Verfalls-Symptom, ein Beweis dafür, daß sich das Leben aus dem Ganzen zurückgezogen hat und im Kleinsten luxuriirt. Die „Phrasirung“ wäre demnach die Symptomatik eines Niedergangs der organisirenden Kraft: anders ausgedrückt: der Unfähigkeit, große Verhältnisse noch rhythmisch zu überspannen — eine Entartungsform des Rhythmischen… Dies klingt beinahe paradox. Die ersten und leidenschaftlichsten Förderer der rhythmischen Präzision und Eindeutigkeit wären nicht nur Folgeerscheinungen der rhythmischen décadence, sondern auch deren stärkste und erfolgreichste Werkzeuge! In dem Maße, in dem sich das Auge für die rhythmische Einzelform („Phrase“) einstellt, wird es myops für die weiten, langen, großen Formen: genau wie in der Architektur des Berninismus. Eine Veränderung der Optik des Musikers — die ist überall im Werke: nicht nur in der rhythmischen Überlebendigkeit des Kleinsten, unsere Genußfähigkeit begrenzt sich immer mehr auf die delikaten kleinen sublimen Dinge… folglich macht man nur auch noch solche — —
Moral: Sie sind mit Riemann ganz und gar auf dem „rechten Wege“ — dem einzigen nämlich den es noch giebt…
Wir besprachen auch einen Punkt, der Sie besonders angeht. Von Holten meinte, mit solchen Phrasirungs-Concerten, wie Sie sie veranstalten, werde absolut nichts erreicht. Es sei da die Illusion des Vortragenden vollkommen. Man höre eben gar nicht, inwiefern der Vortrag von jedem früher gehörten abweiche: selbst dem professionellen Klavierspieler sei durchaus nicht mit der wünschenswerthen Deutlichkeit (einzelne Fälle, wie billig, ausgenommen) die von ihm gewohnte und festgehaltene Interpretation dergestalt Bewußtseins-Sache, um in jedem Augenblick eine Verschiedenheit zu spüren. Solche Concerte überzeugten absolut von nichts, weil sie gar keinen Unterschied zum Bewußtsein brächten. Ein Anderes sei es, natürlich auch nur in Hinsicht auf ganz raffinirte Musiker, verschiedene Vortrags-Arten dicht hinter einander zu stellen; was er leugne, sei, daß die Evidenz des Richtigen sich damit beweisen lasse. Sie möchten nur abstimmen lassen…
Alles, was Sie mir schreiben, bestärkt mich in dem Wunsche, daß Danzig delenda est, — Bonn: das klingt viel heiterer… Ich nehme im Stillen an, daß daselbst noch als Kapellmeister der gutartige Schumannianer Brambach fungirt (— ich habe unter ihm mit in Köln in dem großen Gürzenich-Musikfeste gesungen — z. B. Schumann’s Faust —). Es lebt viel gute Welt daselbst, auch Ausländerinnen. Die klimatische Differenz ist unbeschreiblich günstig… Die gesamte Welt-Färbung verändert sich am Rhein im „lieben Gemüth“ — crede experto —. Zuletzt giebt es wirklich ein rheinisches Musik-Leben. — Sie haben einmal in Naumburg meinen Freund Krug gesehn: derselbe, jetzt ein großes Thier, das 80 Angestellte unter sich hat, Justizrath und Direktor der linksrheinischen Eisenbahn, Sitz Köln, hat ganz vor Kurzem in Köln einen Wagner-Verein großen Stils in’s Leben gerufen: er ist dessen Präsident. —
Mit vielen herzlichen Wünschen und für alles Nicht-Willkommne dieses Briefs um Verzeihung bittend
Ihr ergebenster
Nietzsche
NB. bis 14. Sept. Sils. Am 15. Abreise — —
— Sie haben hoffentlich mein „litterarisches Recept“ nicht ernst genommen?? — Ich mache in puncto „Publizität“ und „Ruhm“ nichts als Bosheiten. — Einige werden posthum geboren. —