1888, Briefe 969–1231a
995. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Entwurf)
<Nizza, vermutlich 17. Februar 1888>
Dies Mal muß ich an m<eine Mutter> einen recht freundlichen und lieblichen Brief schreiben, nachdem ich sie das letzte Mal so arg erschreckt habe. Aber es steht wirklich diesen Winter schlimm mit mir; und wenn Du es aus der Nähe sähest, würdest Du mir gewiß einen solchen schmerzlichen Schrei verzeihen (wie es mein letzter Brief gewesen sein muß). Ich verliere mich mitunter ganz aus der Gewalt; und bin beinahe die Beute der düstersten Entschließungen. Leide ich etwa an der Galle? Ich habe Jahr aus Jahr ein zu viel Schlimmes hinunterschlucken müssen und sehe mich rückwärts blickend, vergebens nach auch nur Einem guten Erlebniß um. Jetzt bin ich von einer ganz und gar lächerlichen und erbärmlichen Verwundbarkeit, daß beinahe Alles, was von außen kommt, mich krank macht, und das Kleinste zu einem Unthier anwächst. Das Gefühl allein zu sein, der Mangel an Liebe, die allgemeine Undankbarkeit und selbst Schnödigkeit gegen mich — aber ich will nicht fortfahren in dieser Tonart. Die Wahrheit ist, daß Dein Sohn ein tapferes Thier ist und daß er Erstaunliches in dem letzten Jahre wieder durchgesetzt hat: aber warum muß jede meiner Thaten mir hinterdrein zur Niederlage werden? Warum fehlt mir jeder Zuspruch, jede tiefe Theilnahme, jede herzliche Verehrung?
Eine unerträgliche Spannung liegt Tag und Nacht auf mir hervorgebracht durch die Aufgabe, die auf mir liegt und die absolute Ungunst aller meiner sonstigen Verhältnisse zur Lösung einer solchen Aufgabe: das ist die Hauptsache
Meine Gesundheit hat sich unter der Gunst eines außerordentlich schönen Himmels und guter Nahrung (und stärk<enden> Spaziergehen<s>) ziemlich aufrecht erhalten: nichts ist krank, nur die liebe Seele. Ich fürchte mich geradezu vor dem Frühling: dies ist immer meine schwache Zeit. Andrerseits weiß ich keine Stelle mehr, wo ich M<enschen> habe, die mir jetzt nütze wären: und meine gute M<utter> ist zu weit weg.
Es thut mir wohl, was Du mir aus dem B<rief> vom Lama abschreibst: wirklich habe ich lauter häßliche Briefe an sie geschrieben und zuletzt hat man sich lieb, wie sehr man sich auch wehe gethan hat.