1888, Briefe 969–1231a
1104. An Carl Fuchs in Danzig
Sils den 9. Sept. 1888.
Lieber Freund,
ich komme noch nicht so bald fort als ich vor zwei Tagen noch glauben durfte; einige Verlags- und Druck-Fragen wollen durchaus noch hier abgewickelt resp. abgewartet sein. Der nächste, ziemlich wahrscheinliche Termin ist der 16. September. — Heute bin ich in einer unvorhergesehenen freien Verfassung der „lieben Seele“ — und Sie sollen’s sofort zu spüren bekommen. Die letzten Wochen war ich auf die seltsamste Art inspirirt: so daß Einiges, was ich mir nicht zugetraut hatte, wie unbewußt eines Morgens fertig war. Dies gab manche Unordnung und Ausnahme in meiner Lebensweise: ich stand (oder sprang) öfter Nachts um 2 auf, um „vom Geist getrieben“ Etwas hinzuwerfen. Dann hörte ich wohl die Hausthür gehn: mein Wirth schlich auf die Gemsen-Jagd. Wer von uns Beiden war mehr auf der Gemsen-Jagd? — Unglaublich, aber wahr: ich habe heute morgen das sorgfältigste, sauberste und ausgearbeitetste Manuscript, das ich je verfaßt habe, an die Druckerei geschickt — ich mag gar nicht nachzählen, in wie wenig Tagen es zu Stande gekommen. Der Titel ist liebenswürdig genug „Müssiggang eines Psychologen“ — der Inhalt vom Allerschlimmsten und Radikalsten, obwohl unter viele finesses und Milderungen versteckt. Es ist eine vollkommene Gesammt-Einführung in meine Philosophie: — das Nächste, was dann kommt, ist die „Umwerthung aller Werthe“ (deren erstes Buch beinahe fertig ist) Sehen wir zu, bis zu welchem Grade eigentlich „Denkfreiheit“ heute möglich ist: ich habe einen dunklen Begriff, darauf hin in schönster Form verfolgt zu werden.
Moral: ich habe Zeit bekommen, zwei Briefe zu lesen — und aufrichtig! mit Entzücken. Der Humor der Sache ist, daß ich eben Riemann öffentlich gelobt habe: und damit Sie meine intimere Gesinnung verstehen, schreibe ich Ihnen ein paar Worte des Herrn Gast ab, die er, beim Correctur-lesen der betreffenden Worte, mir geschrieben hat.
„Riemann’s metrische Studien, angeregt und hervorgegangen aus Wagner’s Vortrags-Propaganda, sind vielleicht noch als Wagnern gefährlich werdende Waffe zu bezeichnen: wie Sie einmal (Morgenröthe S. 184) die historische Wissenschaft als Tochter und schließliche Besiegerin der Romantik darstellten. Ich möchte wenigstens glauben, daß wenn sie die Schärfung der Empfänglichkeit für die musikalische Periode einige Jahrzehnte fortsetzen, sie dann auch den Sinn für den großen Parallelismus der Perioden und endlich für den Bauplan einer Composition wieder erwecken werden, wie er um die Wende dieses Jahrhunderts wach war; und ein Gesetz dazu!“ — Sie werden mir gewiß erlauben, daß ich Ihre ganz ausgezeichnete oratio pro domo (und arte) meinem Freunde zu lesen gebe? Er ist im Augenblick gar nicht zu weit von Ihnen: von einer vornehmen Familie zu Gast auf deren Güter in Hinterpommern geladen (— Venediger Freundschaft; sehr schönes Mädchen usw) Vielleicht geben Ihnen die abgeschriebenen Worte selbst einen Begriff von unsrem sehr purificirten gustus. Ich bin eben mit Bülow in Beziehung getreten, zum Zweck, eine komische italiänische Oper des Herrn Gast („der Löwe von Venedig“) der Menagerie Pollini zu überantworten. Der Öffentlichkeit ist fast Nichts bisher übergeben; es liegt nicht gerade in den Wünschen meines Freundes, gerade jetzt schon, mitten in einer Geschmacks-Verwirrung, auf sich aufmerksam zu machen. Eine tiefe Stille, ein Für-sich-sein im Besseren ist hundert Mal wichtiger als „bekannt“ d. h. mißverstanden werden. — Im Übrigen genau mein Fall — und meine Praxis…
Aus meinem „Pamphlet“ werden Sie von meinem Musik-Pessimismus einen gehörigen Begriff bekommen; und auch, in diesem besondren Falle, bin ich noch durch gewisse sehr deutliche und unangenehme Erinnerungen an meine Intimitäts-Zeit mit Wagner bestimmt. Eine Aufführung der Zauberflöten-Ouvertüre in Mannheim (— wo ich die Ehre hatte, Frau Cosima bei ihrem ersten Auftreten vor der „Welt“ als cavaliere zu führen) war durch die „Überlebendigkeit“ um jeden Preis, durch wahre Excesse von Contrasten eine Art Typus von „Berninismus“ im Vortrag. —
Ich bekenne zum Schluß, daß es mir außerordentliches Vergnügen macht, einmal gegen Sie, lieber Freund, ganz entschieden Unrecht gehabt und selbst gethan zu haben. Dies verbessert unsre Beziehungen unvergleichlich: glauben Sie dies dem „müßiggängerischen Psychologen“…
Der Himmel weiß — Sie sind ein Künstler und kein Schulmeister! — ich weiß es auch…
Treulich Ihr N.
Nochmals gesagt: für die nächste Woche und vielleicht noch länger bin ich wieder menschenfreundlich…