1885, Briefe 568–654
568. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Nizza, Anfang Januar 1885>
Meine Lieben,
es war meine Absicht, Euch brieflich gleich nach dem Eintreffen der Bücher zu danken: aber — die Bücher treffen nicht ein, ich weiß nicht, was geschehn sein mag. So will ich denn keinen Tag mehr verlieren und euch erzählen, wie herzlich angenehm die kleine hübsche Sendung war: erstaunlich, was Alles in so wenig Raum Platz hat! Die goldnen Knöpfchen sind aber für euren halbblinden Fritz zu kostbar, ich wage nicht sie zu tragen. Ich lag zu Bett, als Euer Geschenk ankam: am ersten Januar (ich rechne aus, daß ich nun 5 Mal hinter einander an diesem Tage krank war!)
Die Wahrheit zu sagen: seit meinem letzten Briefe gieng es immerfort schlecht, das Wetter änderte sich, und damit war es für mich aus. Ewige Anfälle, Erbrechen über Erbrechen; jetzt weiß ich vor jeder Mahlzeit nicht mehr, ob essen oder nicht essen. Die Schwäche des Magens ist in einer eklatanten Weise wieder zum Vorschein gekommen, und in einer Pension ist da schlimm sich einrichten.
Mein Seufzer, den ich schon Ein Mal ausdrückte, heißt auch heute wieder: man schaffe mir eine Köchin!
Dann ist Nizza auf die Dauer nicht möglich, die große Stadt, das unerträgliche Gelärm der Wagen usw. Ebenso habe ich die Herrn Mit-Pensionäre satt, man ist eigentlich in einer gar zu schlechten Gesellschaft, und darf kaum hinsehn, wie der liebe Tisch-Nachbar bei Tisch Messer und Gabel führt. Von dem, was bei Tisch geredet wird, nicht zu reden! Ich denke an meine ehemalige Genueser Isolirtheit mit Trauer und Sehnsucht zurück, obgleich ich wie der ärmste Schlucker gelebt habe; aber ich war nicht von solchem mittelmäßigen deutschen „Pack“ umgeben, es war stolzer und mir angemessner.
Herr Lanzky ist ein rücksichtsvoller mir sehr ergebener Mensch — aber die alte Geschichte: während ich Jemanden nöthig habe, der mich unterhält, läuft es darauf hinaus, daß ich unterhalte. Er schweigt, seufzt, sieht auch aus wie ein Schuster und versteht weder zu lachen noch Geist zu zeigen. Unausstehlich auf die Länge. —
Er geht nächsten Sonntag fort, nach St. Raphael, ein paar Stunden weiter an der Küste, um diesen Ort für mich zu untersuchen. Wir stehen mit einer dortigen Villa in Unterhandlung. —
Köslitz hat in einem Tonhallen-Concert seine Ouvertüre mit schönem Erfolge aufgeführt und selber dirigirt: ich habe einen langen Bericht von Overbeck darüber, der zugegen war. —
Der Gedanke der „Bismarckreden“ kommt in der angenehmsten Weise einem Wunsche entgegen, den ich den ganzen Winter über schon gegen Lanzky ausgesprochen habe. B<ismarck> nämlich läßt sich im Reichstag gehen und bringt seine innewendigsten Dinge heraus, wie Goethe vor Eckermann. Der erste Fall, daß ein Staatsmann einen Reichstag nöthig hat, um über Alles und Jedes sein Herz auszuschütten. Offenbar kann er vor seiner Frau es nicht thun: die ist zu dumm. Schließlich beneide ich ihn selbst um einen solchen Reichstag.
— Von Herzen Euer dankbarer
F.
Was hat mir der gute Stein für einen dunklen Brief geschrieben! Und das zum Danke dafür, daß ich ihm ein Gedicht von mir schickte! Es weiß Keiner mehr sich zu benehmen.
Lanzky’s Aufsatz ist zu dumm und unklar, ich hab’s satt mit der deutschen Stumpfheit.
Nachschrift drei Tage später: endlich sind die Bücher angelangt, allerschönsten Dank! Aber wo bleibt das röthliche dicke Schreibbuch? — Gesundheit langsam sich verbessernd, schönes Wetter.
Mit den Augen geht es immer schlimmer — —
569. An Franz Overbeck in Basel
Pension de Genève Nice sur mer, petite rue St. Etienne
<Anfang Januar 1885>
Mein lieber Freund, dies Mal habe ich mich für zwei Briefe zu bedanken — und doch darf es nicht länger werden als ungefähr auf einem Kärtchen Platz hat. Die Augen!! — und leider, in summa, die ganze Gesundheit! Bisher ist mir in Bezug auf die Gesundheit der Winter mißrathen — — —.
Lanzky, ein rücksichtsvoller, mir sehr ergebener Mensch, aber nichts für längeres Zusammensein. Lieber noch einen Hanswurst. Er geht Sonntag fort, nach St. Raphael, um diesen Ort für mich auszukundschaften: wie er es schon mit Ajaccio gethan hat. Auf die Dauer ist Nizza nämlich für Deinen Philosophen unausstehlich! — unwürdig! — großstädtisch-lärmend — stupid! —
Herzlichen Dank für die Nachrichten über meinen Züricher Musikanten. Dein Wort in Bezug auf seine Musik „naiv“ trifft den Kern.
Dir und Deiner lieben Frau herzlich zugethan
N.
Von Schmeitzner weiß ich seit Monaten nichts; und bin zufrieden damit. Mein Onkel in Sangerhausen, ein geschickter Justizrath, hat die Aufgabe, so viel von den 5000 Mark zu retten als möglich. — Neue Verleger? Moser?! — „Daß Gott erbarm!“
N. B. Das Geld ist in meinen Händen. Schönsten Dank, alter lieber Freund!
Ich freute mich so sehr, unerwartet-Günstiges über Dein eignes Befinden zu vernehmen: will’s gerne Dir nachmachen!
570. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Nizza,> Mittwoch. <14. Januar 1885>
Meine liebe Mutter und Schwester,
eben kam Eure besorgte Karte an; ich hoffe, daß inzwischen mein vor einigen Tagen abgesandter Brief einige Beruhigung gegeben hat. Die Verzögerung entstand dadurch, daß ich von einem Tag zum andern auf die Bücher wartete — bis sie kamen; da habe ich gleich geschrieben.
Ich bin beständig krank. Diese Nacht noch war ich ganz desperat und wußte wieder einmal nicht wo aus noch ein. Winter-Wetter auch hier. Es schneit heute, wie schon gestern. Wir sind zwei Grad unter Null. Unbeschreiblich, wie ein bewölkter Himmel auf mich wirkt! Der Barometer steht 20 Grad tiefer als mir zuträglich ist! Die Ärzte Nizza’s sagen, daß diesen Winter es allen chronisch Kranken schlechter geht als andre Winter.
Seit Sonntag ist Hr. Lanzky fort, nach St. Raphael. Gestern telegraphirte er, daß er diesen Ort für mich unmöglich finde. Er ist in solchen Dingen höchst zuverlässig und mir sehr werthvoll.
Mich graut vor allem Reisen und Orts-Wechseln. Voriges Jahr habe ich, seit ich Nizza verlassen habe, es nur zu ganz wenig erträglichen Tagen gebracht — ausgenommen die erste Zeit in Zürich.
Schreibt mir doch immer, wie viele Grade der kleine Haar-Hygrometer in Eurer Stube zeigt.
Ich möchte es gerne einmal mit einem Sommer in einer benachbarten Sommerfrische (c. 1000 bis 2000 Meter hoch) versuchen, in Anbetracht daß mit diesem heitren Provence-Himmel kein Stück Europa’s auch für die Sommerzeit concurriren kann. Aber es giebt andre Gründe, die schließlich doch nordwärts treiben.
Ach die Augen! Alles steht still.
Von Herzen Euer
sehr leidender
F.
571. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Nizza, den 29 Januar 1885
Dies Mal, meine liebe gute Mutter, wird es mir besonders schwer, Dir Etwas Bestimmtes zu wünschen, das dies Jahr Dir bringen soll; und selbst der Wunsch, daß dies Jahr Dir nichts nehmen soll, will mir nicht über die Lippen. Wir sind allesammt jetzt in großer Schwebe und Unsicherheit und geben deshalb wohl das „Wünschen“ auf; aber was kommt, das wollen wir mit einander tragen und uns zurecht machen.
Sehr gerne wünschte ich auch auf Deinem Geburtstags-Tische vertreten zu sein, mit irgend einem hübschen nützlichen Ding, das Dir Freude macht.
Seit den letzten Nachrichten, die ich gab, habe ich von Dir und unsrer Lisbeth so liebevolle Briefe erhalten, daß ich gern auf der Stelle geantwortet hätte. Aber die Augen, mit denen es schlecht und schlechter geht, geben mir diesen Winter die Entschuldigung für mein briefliches Verstummen nach allen Seiten hin.
Das Wetter hat eine große Crisis auch hier bestanden, es gab drei Tage, wie man sie für Nizza nicht glauben möchte, und eine solche Sturmfluth des Meeres, daß die Promenade des Anglais bis heute jämmerlich an den Nachwirkungen leidet. Seit 50 Jahren hat man so eine Noth nicht erlebt. — Inzwischen ist aber der vollkommen helle Himmel von früh bis Abends zur Regel wieder geworden: was meiner Gesundheit sehr zu Hülfe gekommen ist.
Herr Lanzky ist von St. Raphael zu mir wieder zurückgekehrt und bleibt noch bis zu Ende des Februars. Daß wir uns viel in Gedanken damit beschäftigen, für mich eine bessere und würdigere Existenzform zu schaffen als meine jetzige es ist, und daß ich mich eigentlich fortwährend etwas schäme, so wenig noch auch im äußeren Leben ein Vorbild abzugeben, nach der Art meines Zarathustra, der doch seine Höhle hat und seine zwei Hausthiere — das kannst Du Dir vorstellen. Ein Ort ist zwar schon gefunden, unweit Nizza’s, wo ich später leben will, die Halbinsel St. Jean; aber da muß noch Viel geschafft und geglückt sein, bis es dazu kommt, daß ich dahin übersiedle. Ebenso ist meine Sommer-Existenz im Engadin auf eine ganz neue Basis zu stellen. Überall begreife ich, daß es mit dem Bisherigen vorüber ist, und daß ich jetzt ohne alle Übereilung definitive Zustände zu schaffen habe, zum mindesten ausreichend für 10 Jahre, um mein Lebenswerk mit der vollkommensten Ruhe in Angriff nehmen zu können. Eine Umgebung die zu mir paßt, ich meine zu meinem Werke! Oktober bis Mai in St. Jean, Juli und August im Engadin, die Übergangs-Monate vielleicht in Zürich: so sieht einstweilen das Programm aus. — —
In St. Jean fanden wir vor 8 Tagen die schönsten grünen Geranium-Hecken mit den rothen Blüthen; da dachte ich Eurer und der traurigen Schnee-Welt. —
Abends trinke ich immer jetzt einen starken Grog — heute will ich’s auf Dein Wohl thun!
Dein F.
571a. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Nizza, Januar 1885>
Meine liebe Schwester,
ich antworte sofort auf Deine besorgte Karte, um Dich zu beruhigen. Es geht gerade heute nicht gut, ein schlimmes Wetter zieht seit gestern Abend herauf. Sonst aber hat sich mein Zustand in den zwei letzten Wochen verbessert, abgerechnet die Augen: welche ich nicht in dem Maaße schone als ich sollte. Aber ohne meine Arbeiten ist das Leben hier unerträglich. Nizza ist kein Spaziergehe-Ort für mich, die Landschaft widersteht mir, ebenso wie der Mensch in dieser Landschaft (ich meine den Fremden eben[so]sehr als die Franzosen von heute). Zuletzt ist ein Wagen- und Karren-lärm in Nizza und weit und breit herum, wie ich es mir anderswo gar nicht vorstellen kann. — Im Geiste bin ich viel in Venedig: das wäre für mich der rechte Ort, wenn er nicht gerade die umgekehrten klimatischen Verhältnisse besäße. — Genua hat sich, nachträglich, nach vielen gesammelten meteorologischen Daten, als eine glänzende und merkwürdige Wahl meines Instinkts herausgestellt: worüber viel zu sagen wäre. Es ist immer noch nicht unmöglich, daß ich Genua wieder aufsuche: da die Bewohnbarkeit meiner Halbinsel St. Jean für mich allein nicht Leicht moglich ist. Es müßte denn sein, daß ich eine ausgezeichnete Wirthschafterin und Köchin fände. An Villen, die ganz oder theilveise vermiethbar sind, fehlt es dort nicht. Für nächsten Winter übrigens glaube ich daß die beiden Sarasins, meine alten Schüler, die jetzt in Ceylon sind, zurückkommen und sich bei ihrem Aquarium in Villefranche (1/2 Stunde vor Beaulieu und St. Jean) niederlassen, zusammen mit dem Würzburger Professor Semper; da bekomme ich Naturforscher nach meinem Geschmack in die Nähe von St. Jean. Auch wäre ein Zusammenleben zu Dreien (nämlich Köselitz, Lansky und ich) in einer solchen kleinen Villa ausführbar, selbst pekuniär. Wenn Jeder für sein Theil jeden Tag auf 5 frs. rechnet, so könnten wir mit diesen täglichen 15 frs. alles haben, auch die Wirthschafterin. — Noch rationeller wäre vielleicht eine gute wirtschaftliche Gattin für mich, welche ihre Aufgabe darin sehe, mich in dem Zustand zu erhalten, in dem ich meiner überschweren Lebens-Aufgabe am besten nachkomme. Aber alles, was ich von Weibern kennen gelernt habe, ist mit, auf diese Mission angesehn, als unzureichend erschienen: so daß ich eigentlich in diesem Punkte keinen Glauben mehr habe. Sie müßte jung sein, sehr heiter, sehr rüstig und wenig oder gar nicht „gebildet“: und außerdem eine gute Wirtschafterin aus eigener Neigung.
Voila! hier hast Du zu lachen! In Betreff des Geburtstags bin ich sehr einverstanden: die Bismarck-Fortsetzung aber jetzt nicht! sondern, vielleicht s’il vous plait, zum 15. Oktober!
Von Herzen Dein
F.
572. An Carl von Gersdorff in Ostrichen
12 Febr. 1885 Nizza (France) pension de Genève petite rue St. Etienne
Mein lieber alter Freund,
ich lebe so abseits und sehe und höre nichts mehr von Dir. Aber dieses Jahr muß ich, aus Familien-Gründen, wieder einmal nach Deutschland kommen: ich denke, in dieser Erwartung denken wir Beide uns zusammen ein kleines Rendez-vous aus, etwa für Leipzig.
Heute theile ich Dir, nicht ohne einige Bedenken, Etwas mit, das eine Frage an Dich in sich schließt. Es giebt einen vierten (letzten) Theil Zarathustra, eine Art sublimen Finale’s, welches gar nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist (das Wort „Öffentlichkeit“ und „Publikum“ klingt mir, in Bezug auf meinen ganzen Zarathustra, ungefähr so wie „Hurenhaus“ und „öffentliches Mädchen“ — Pardon!). Aber dieser Theil soll und muß jetzt gedruckt werden: in 20 Exemplaren, zur Vertheilung an mich und meine Freunde, und mit jedwedem Grade von Discretion. Die Kosten für einen solchen Druck (bei C. G. Naumann in Leipzig, der die letzten Theile gedruckt hat) können nicht erheblich sein; ich selber aber bin, durch die große Unredlichkeit meines Verlegers, jetzt weniger bei Gelde als je (das will sagen: er ist mir 6000 Francs schuldig, und mein Rechtsanwalt sagt mir, es sei kaum möglich, den Prozeß gegen ihn mit Erfolg durchzuführen). Anders ausgedrückt: ich habe, bis zu meinem vierzigsten Jahre, thatsächlich mit meinen vielen Schriften noch keinen Groschen „verdient“ — —: was der Humor (und wenn Du willst, der Stolz) der ganzen Sache ist.
Mehr aber sage ich nicht. Gieb mir, mein lieber alter Freund, so bald wie möglich, hierher Deine Antwort, eine unbefangene Antwort (man kann gegen mich so unbefangen sein, wie gegen „den lieben Gott“, — vorausgesetzt, daß es einen solchen giebt).
Und vor Allem, seien und bleiben wir guter Dinge: es giebt hundert Gründe, in diesem Leben tapfer zu sein.
Dein Freund Nietzsche.
573. An Heinrich Köselitz in Zürich
<Nizza, 14. Februar 1885>
Mein lieber Freund!
geben Sie mir und meiner herzlichen Neugierde so bald als möglich einen ausführlichen Bericht über Das, was Sie thun und wollen, und was in diesem Jahre geschehn soll. — Meine Augen wollen von mir, daß ich diesen Winter unartig-stumm gegen Jedermann bin — auch „gegen mich selber“ — um dunkel von dunklen Dingen zu reden. Ich sehne mich nach Ihrer Musik, erwäge tausend Mal, wie Sie selber hier anzusiedeln wären — und wie „Mistral“ und der unglaublich weiße Lichthimmel Nizza’s auf Sie wirken müßten. Mitunter geht meine Sehnsucht so weit, mich nach Venedig zu drängen, weil ich glaube, Sie leichter dorthin locken zu können als hierher. (Überdieß: ich bin Nizza’s — einer lärmend-widerlichen Franzosenstadt, im Grunde meiner Seele müde und weiß mir leider davon nicht zu helfen, da, bei genauestem Nachforschen, die klimatischen Bedingungen dieses Ortes sich nicht zum zweiten Male in Europa wiederholen wollen.
Im April komme ich (spätestens!) nach Zürich: wäre es möglich, da etwas von Ihrer Musik aufgeführt zu hören, etwas Vokalisches namentlich, so würde ich Vieles Dumme und Verdrießliche, das mir in diesem Jahre bei meiner Reise nach dem Norden bevorstehn mag, gerne dagegen in den Kauf nehmen! —
Bleiben Sie guter Dinge, alle Trübsal lohnt weder auf Erden, noch im Himmel. In Ihrem letzten Briefe waren ein Paar Worte bei Gelegenheit von H. Berlioz, bei denen ich Größtes Vergnügen hatte.
Overbeck schrieb mir des Genaueren über Ihr erstes öffentliches „Auftreten“. Oh daß ich Sie hier an der Spitze des italiänischen Orchesters (dirigirt von Gialdino—Gialdini) sehen könnte! es ist nämlich das neuerbaute italienische Theater eben eröffnet worden (Aida).
Grüßen Sie Freund und Hegar, die Studentinnen nicht zu vergessen!
— Wollen Sie diesen Sommer mich im Engadin (in dem kleinen Stübchen meiner braven Familie Durisch) vertreten? So lernen Sie mein Sils-Maria kennen: — ich selber muß nach Naumburg.
— Was ist aus dem Bruder von Fl. Druscowicz geworden? —
Unter uns gesagt: es giebt etwas Neues als „Frucht“ dieses Winters, aber ich habe keinen Verleger, vor allem aber gar keine Lust mehr daran, neue Dinge gedruckt zu sehn. Die ungeheuere Albernheit, so etwas wie meinen Zarath<ustra>) herauszugeben, ohne es nöthig zu haben, ist mir mit entsprechenden Albernheiten vergolten worden: wie es billig war.
Mittag und Ewigkeit
Von
Friedrich Nietzsche
Erster Theil: die Versuchung Zarathustra’s.
Übrigens vielleicht undruckbar: eine „Gotteslästerung“, gedichtet mit der Laune eines Hanswursts. — Wer aber hübsch gegen mich ist und mir mit Köselitzischer Musik schmeichelt, soll das Ding privatissime zu lesen bekomen.
Addio, und auf Wiedersehn
Ihr N.
Nizza, pension de Genève
(petite rue St. Etienne)
574. Vermutlich an Marie Köckert in Hanau (Entwurf)
<Nizza, Mitte Februar 1885>
Der Himmel weiß (oder weiß er es nicht?) ob ich mich über Ihren Brief gefreut habe. Es kam daß ich’s gestehe, ein kleines boshaftes Vergnügen noch dazu; ich hatte nämlich bei mir gewettet, daß Sie mir diese Worte schreiben würden (Werden Sie es glauben, daß ich hier und da an der Einbildung leide, das zu sein, was man einen Menschenkenner, einen Nierenprüfer nennt? Nein, Sie werden es nicht glauben.
Diesen April werde ich wieder nach Zürich kommen; und später muß ich nach Deutschland, unter die lieben Deutschen — über welche Sie mir nach dem Herzen reden. Es wird muthmaaßlich für lange Zeit meine letzte Reise in diese nordische Welt sein, deren Aufgaben und Werthschätzungen nicht meine Aufgaben und Werthschätzungen sind, und deren Luft mir leicht den Athem nimmt. Damit — will ich aber noch nichts gegen die jetzigen Deutschen gesagt haben: nur daß ich nicht unter sie gehöre.
Haben Sie das tiefste und hellste, südlichste, ja sogar morgenländischste Buch gelesen das es giebt? Pardon, ich meine „Also sprach Zarathustra“ von Friedrich Nietzsche.
575. An Marie Köckert in Hanau (Fragment)
<Nizza, 20. Februar 1885>
Seien wir guter Dinge! Alle Trübsal lohnt sich weder in Himmel noch auf Erden!
576. An Franz Overbeck in Basel
Nizza Freitag 20 Febr. 1885.
Lieber Freund,
ich freute mich herzlich, wieder von Dir zu hören. Mein Leben ist darin jetzt sehr insel-haft geartet, als nur ganz selten noch Nachrichten und Briefe zu mir kommen. Es scheint, daß die größte Zahl meiner früheren Freunde und Bekannten entweder nicht mehr zu mir gehören wollen oder es nicht können — genug, sie schweigen. Ich selber stehe unter der Tyrannei meines Augenleidens und darf nicht schreiben (meine Besorgniß ist nicht gering, ich fürchte, daß ich eines Tages ganz plötzlich blind werde — unter uns gesagt!)
Der Winter ist dies Mal für Nizza mißrathen, und äußerst seltsam. Eine Sturmfluth, wie seit 50 Jahren nicht; zwei Erdbeben; schon vier Mal große Landregen von 2 bis 3 Tagen Dauer — etwas sonst hier Unerhörtes. Alle Kranken sind kränker. Viel bewölkter Himmel. Ich selber habe Viel ausgestanden, die Anwesenheit des braven Lanzky (der nächsten Montag abreist) hat über Manches hinweggeholfen. Doch hätte ich, in letzterer Hinsicht, eine Gegen-Rechnung zu machen — in summa habe ich gelernt, wie nöthig für mich noch eine gute Zeit lang (sagen wir 5 Jahre!) eine vollständige Einsamkeit ist. Es will zu Vieles in mir noch reif werden und zusammenwachsen; die Zeit für „Schüler und Schule“ et hoc genus omne ist noch nicht da.
Die Angelegenheit „Schmeitzner“ steht schlecht, mein Onkel schrieb „kaum möglich“ und „größte Schwierigkeiten“. Ich gestehe, daß Deine mir ganz unerwartet kommenden Geld-Nachrichten zu einem sehr geschickten Momente kamen, und mir zur Beruhigung wurden.
Das Schlimme ist überdieß, daß ich nun keinen Verleger habe, und wenn ich gut genug über meinen litterarischen Ruf in Deutschland unterrichtet bin, auch schwerlich jetzt einen finden werde. Es hat keiner — den Muth dazu. Einige Tage später werde ich mehr in hoc puncto wissen, denn ich habe Unterhandlungen eingeleitet. Weißt du, mein lieber Freund, es ist seit längerer Zeit Etwas da zum Drucken: der Titel wird Dich genügend aufklären.
Mittag und Ewigkeit,
Erster Theil
die Versuchung Zarathustra’s.
Im Monat April denke ich für eine kurze Zeit in Zürich zu erscheinen, wo es Mancherlei abzuwickeln giebt. Das ganze Jahr stellt mir eine Reihe praktischer Aufgaben, zum Theil durch die Dir bekannte Familien-Angelegenheit herbeigezogen. Ich werde nach Deutschland gehn, muthmaaßlich für lange zum letzten Male. Von dem Quartal-Gelde nimm, bitte, so viel weg als zur Anschaffung einer Obligation nöthig ist. Das Übrige sende an mich hierher, womöglich in französischem Papier.
Von Peter Gast hatte ich dieser Tage einen Brief. Drei Akte der Oper sind im Klavierauszuge fertig, die beiden letzten in Arbeit. Ich will, mit ihnen bewaffnet, mein Heil bei deutschen Kapellmeistern versuchen; diese Oper „unter die Haube“ zu bringen gehört zu meinen Sommer-Projekten. Deiner lieben Frau das Herzlichste wünschend Dir immer herzlich-dankbar zugethan
N.
Weißt Du Jemanden, der für diesen Sommer in Sils-Maria mein Zimmer bewohnen könnte? (30 frs. per Monat.)
577. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Nizza,> Donnerstag<5. März 1885>
Meine Lieben,
Eure heiteren Briefe sind mir sehr willkommen gewesen, ich wünschte mit ähnlichen Heiterkeiten und Festlichkeiten aufwarten zu können. An diesem Winter in N<izza> bleibt aber Viel auszusetzen, und wollte ich anfangen aufzuzählen, so bekämt Ihr die langweiligste Litanei von der Welt. Das Dümmste ist 1) die Augen — — 2) der beständige (fast beständige) Schmerz im Kreuz, mit einer Ausstrahlung nach der rechten Hüfte zu. Derselbe ist so lästig, daß er mir immer und immer wieder die Frage vorlegt: ob ich überhaupt dies Jahr nach Deutschland kommen kann. Reisen ist nämlich eine Marter für mich geworden, von der Ihr Euch keine Vorstellung machen könnt: die Reise von Zürich bis hierher war etwas Schreckliches, und der Gedanke, mich gar noch weiter als Zürich nach dem Norden zu zu entfernen, will mir nicht in den Kopf. Mir ist zu Muthe, als ob ich eben erst die letzten Reisen überwunden hätte — es kommt dazu, daß ich Sammlung im höchsten Grade nöthig habe, und gar keine Zeit mehr verlieren möchte, nachdem ich so viel verloren habe. (Morgen verläßt mich Herr Lanzky, ein recht braver Mensch, der aber doch mir den Werth und die Nothwendigkeit der Einsamkeit für mich wieder recht an’s Herz gelegt hat. Ich will wohl auf der Hut sein, nicht wieder auf diese Art mir einen Winter rauben zu lassen. Es versteht sich, daß ich mich für viele Zeichen von Wohlwollen und Sorgfalt bei ihm sehr zu bedanken habe: aber Eins ist bei mir hundert Mal wichtiger als alles Andre —)
Was den Sommer betrifft, so habe ich den unheimlichen und mich entmuthigenden Eindruck der warmen Jahreszeit und der Ebenen vom vorigen Jahre her noch zu sehr in Erinnerung, als daß ich daran dächte, den Sommer anderswo als im Engadin zu verleben. (Nicht in Sils-Maria, sondern wahrscheinlich in Celerina) So weiß ich mir denn gar nicht zu helfen, als Euch zu bitten, ob nicht eine Zusammenkunft zwischen uns zu verabreden ist, bei der mir es möglich ist, in der Schweiz zu bleiben. Wenn Hr. Dr. Förster Ende April kommt, wer weiß, ob es dann im Verlauf des Jahres nicht einen Anlaß für zwei Menschen mindestens giebt, etwas herumzureisen. Unsre gute Mutter bitte ich von Herzen darüber nachzudenken (in Bezug auf die nächsten 10 Jahre), daß ein alljährliches Zusammentreffen und -Wohnen sich am besten vielleicht für einen Ort der Schweiz ausdenken ließe*: aber auch Venedig würde mir recht sein.
Was ich von St. Jean, der Halbinsel schrieb, ist inzwischen näher geprüft worden: ich fürchte, es ist unausführbar.
Nizza ist unerträglich geräuschvoll. —
(Über Schmeitzner habe ich einen Brief des Onkel Bernhard: ich sage nichts weiter als daß der Ausdruck, „kaum möglich“ und „größte Schwierigkeit“ darin vorherrscht. —) Am Liebsten gienge ich Ende März aus Gründen der Augen und der Stille nach Venedig. Aber wahrscheinlich wird eine Reise nach Zürich daraus, wo Mehreres auf mich wartet.
Mit den herzlichsten Wünschen, und der Bitte, mit meinem körperlich und geistig sehr angegriffnen Zustande fürlieb zu nehmen
Euer F.
578. An Resa von Schirnhofer in Paris
11 März 1885 Nizza, Pension de Genève, petite rue St. Etienne
Verehrtes Fräulein,
man bekommt diesen Winter schwer Etwas von mir zu lesen, das wollen meine Augen so. Ich wünschte sogar dieser dummen Augen wegen in irgend einem dunklen Venedig oder sonstwo zu sein; denn was ich eigentlich von Nizza verlange, sehr trockne Luft und beständigen sehr reinen Himmel, das kann man diesen Winter hier so wenig als anderwärts haben. Es ist ein Ausnahme-Winter: wir hatten eine Sturmfluth wie seit 50 Jahren nicht, zwei kleine Erdbeben, vier zwei- bis dreitägige Landregen à la tedesca, und ein beständiges unklares Ja- und Neinsagen des Himmels: — was meiner Gesundheit schlecht genug bekommen ist. Sodann aber gab es für mich bis vor wenig Tagen einen Deutschen im Hause hier, der mir sehr zugethan ist, — aber ich mag die Deutschen wenig, es ist eine andre Art von „ziehendem Gewölk“, und mir gar nicht zuträglich. — —
Mag ich denn die Franzosen? Einige von ehemals, vor Allem Montaigne. Aus diesem Jahrhunderte im Grunde nur Beyle, und was auf seinem Boden gewachsen ist.
Und Das ist es, was mir heute diesen Brief an Sie, mein liebes verehrtes Fräulein Resa, abzwingt: obgleich, wie gesagt, die Augen-Moral mir zuschreit „Lesen und Schreiben Sie nicht, mein Herr Professor!“ —
Es soll nämlich in Frankreich eine Art von Stendhal-Schwärmern geben, man spricht mir von solchen, die sich „Rougistes“ nennen. Machen Sie, ich bitte, etwas Jagd darauf: zb. auf eine neue Ausgabe von „Le rouge et le noir“, bevorredet von einem Herrn Chapron, wenn ich recht gehört habe. Wohin hat dieses feine Huhn (es ist todt) seine Eier gelegt? Größere Bücher giebt es nicht von ihm. Und machen Sie doch die Bekanntschaft des lebendsten Schülers von Stendhal, Hr. Paul Bourget und erzählen Sie mir, welche Aufsätze er neuerdings geschrieben hat (— ich zeigte Ihnen hier in Nizza seine gesammelten essays zur psychologie contemporaine) Er ist, wie mich dünkt, der rechte Schüler jenes Genie’s, das die Franzosen 40 Jahre zu spät entdeckt haben (von Deutschen bin ich der Erste, der ihn erkannt hat, und nicht auf eine Anregung von Frankreich her) Die sonstigen berühmten Litteratur-Menschen dieses siècles z. B. Sainte-Beuve und Renan, sind mir viel zu süßlich und undulatorisch; aber was ironisch, hart, sublim-boshaft ist, von der Art wie Mérimée, — oh wie Das meiner Zunge wohlschmeckt!
Ende März geht es über die Schweiz nach Deutschland. Die Verheirathung meiner Schwester ist für dies Jahr im Vordergrunde: — grüßen Sie Malwida von mir und seien Sie selber herzlich gegrüßt
von Ihrem ergebensten
Nietzsche
Ms. Bourget ist Mitarbeiter der Revue nouvelle. — Grüßen Sie die ausgezeichneten Menschen, die ich so sehr liebe, ich meine Monods, von mir, Fl. Natalie ja nicht zu vergessen!
Adieu, ma chère philosophe —, veuillez agréer les tendres et respectueux hommages d’un hermite.
579. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
<Nizza>, 12. Febr. 1885.
Geehrtester Herr,
ich sende Ihnen hiermit, mit der Bitte um jedweden Grad von Diskretion, den vierten und letzten Theil meines Zarathustra, der nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist, sondern nur in 20 Exemplaren gedruckt werden soll. Der Druck muß, wie ich auf das Dringendste Ihnen an’s Herz legen möchte, sofort beginnen und so sehr beschleunigt werden, als es nur möglich ist; ich nehme an, daß jede Woche 4 Correktur-Bogen abgesandt werden. Der Correkturgang ist dieser: 2 Abzüge nebst dem Manuscript gehen an diese Adresse:
Herrn Heinrich Köselitz in Zürich (Schweiz)
Stadelhofer Platz, Kleiner Sonnenhof
zu gleicher Zeit wird ein Abzug an mich abgesandt:
Prof. Dr. Nietzsche
Nizza (France)
Pension de Genève
petite rue St. Etienne
Daß wir Beide, Herr Köselitz und ich, „pünktliche“ Leute sind, werden Sie von früher her wissen.
Alles, was zum Zweck des Drucks nöthig wird, an Abzügen, Probedrucken und dergleichen, muß, zum Schluß, vernichtet oder in meine Hände abgeliefert werden; ich bitte Sie, hochgeehrter Herr, mir eine ausdrückliche Erklärung darüber zukommen zu lassen, ob Sie mir eine Garantie gegen Veruntreuung einzelner Exemplare durch beschäftigte Arbeiter, Druckergehülfen und dergl. geben können. —
Daß ich ein Freund tiefschwarzen Drucks bin und solchen auch für die Correkturbogen mir ausbitte, wissen Sie von früher her. Ausstattung und Papier sollen vollkommen dem letztgedruckten (dritten) Theile meines Zarathustra entsprechen.
Mit Hochachtung
Ihr ergebenster
Dr. Friedrich Nietzsche
Prof.
580. An Heinrich Köselitz in Venedig
Nizza, Sonnabend. <14. März 1885>
Mein lieber Freund,
als ich Ihre Mittheilung bekam, hatte ich eine Stunde lang großes Vergnügen, um Ihretwillen und um meinetwillen; denn ich weiß Sie lieber in V<enedig> als in Z<ürich>, und mich gleichfalls. Hinter drein aber bin ich Ihnen beinahe böse geworden: es schien mir, Sie hätten in Anbetracht alles dessen, worüber wir im vorigen Frühjahr übereinkamen, (nämlich, daß es für das fernere Schaffen vorbei sei mit Venedig, und etwas Neues, klimatisch-Grundverschiedenes versucht werden müsse) sich entschließen sollen, nach Genua zu gehn, oder vielmehr mir ein paar Worte früher schreiben. Ich wäre bereit gewesen, Sie in Genua, Santa Marguerita, Porto fino einen Monat lang und mehr herumzuführen und mit Ihnen zu erwägen, ob und wie da für Sie zu leben wäre. — Aber nun ist das zu spät, und ich bin Ihnen auch schon lange nicht mehr böse. Ich sage sogar, daß Ihr Venedig auch mir die liebste Verführung ist, und daß es nicht lange mehr dauern wird, so bin ich verführt. Meine Gesundheit ist schlecht, der Zustand der Luft und des Himmels anders als andre Winter, und viele seltsame Melancholien sind mir über das Herz gelaufen, — vom eigentlichen Kranksein nicht zu reden.
Mit den Augen steht es schlimm und schlimmer. — Es kommt vielleicht dieser Tage ein Druckbogen bei Ihnen an: seien Sie nicht ungeduldig, lieber Freund und helfen Sie mir auch dies Mal noch. Es ist der vierte und letzte Theil von „Also s<prach> Z<arathustra>“; der Titel, welchen ich Ihnen das letzte Mal brieflich meldete, war eine Verlegenheits-Auskunft in Hinsicht auf einen neuen Verleger. Damals nämlich suchte ich einen Verleger, und billigerweise hätte ich keinen „vierten Theil“ anbieten können. Für das, was ich noch zu sagen habe comme poète-prophète, brauche ich eine andre Form als die bisherige; und es war eine harte Sache, mich um eines Verlegers willen zu einem solchen Titel zu entschließen. Genug, ich fand keinen Verleger und drucke nun mein Finale auf eigne Kosten. Dafür nur in wenig Exemplaren und nicht für die „Öffentlichkeit“. Bitte, schreiben und sprechen auch Sie nicht davon, daß es einen 4ten <Zarathustra> giebt.
Ihr Orpheus hat mich sehnsüchtig-schwermüthig gemacht. Ach, Freund, daß Sie mir schreiben könnten, Ihre Dichtung sei gedichtet! Es ist eine herrliche Erfindung.
Denken Sie im Spazierengehen daran, mir ein Zimmer, das für mich paßt, zu schaffen — hoch, still, voller Möbel, alterthümlich, und bei reinlichen rechtschaffnen Leuten. Ihr Freund
Nietzsche.
581. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Nizza,> Sonnabend <14. März 1885>
Endlich, meine Lieben, das will sagen: seit einer Stunde kann ich Euch Nachricht und Aufschluß darüber geben, was ich dieses Frühjahr thun will. Zürich ist nämlich, durch eine plötzliche Entschließung von Hrn. Köselitz, aus dem Programm gestrichen worden; er meldet mir heute morgen, daß er es daselbst absolut nicht mehr aushalte und auf dem Wege nach Venedig sei. Nun habe ich ein Zusammentreffen mit Hr. K<öselitz> auf Grund gemeinsamer Pläne jetzt nöthig; auch ist Venedig für meinen gegenwärtigen Zustand der Augen die wohlthätigste aller Städte —: genug, ich bin sehr erfreut über diese Wendung, welche mir die Reise nach Zürich erspart.
Dem armen K<öselitz> ist es mit Zürich ergangen, wie mir seiner Zeit (das will sagen ungefähr 10 Jahre meiner Jugend!) mit Basel: das Clima dieser Städte ist im Widerspruch mit unsern produktiven Fähigkeiten, und diese beständige Qual macht uns krank. Nach der Seite hin war Basel ein ganz großes Unglück für mich, noch heute leide ich an der schrecklichen Nachwirkung dieser Zeit (und werde nicht mehr davon loskommen).
Man wird tüchtig für seine Unwissenheit bestraft: hätte ich mich zur rechten Zeit mit medizinischen, klimatologischen und dergleichen Problemen beschäftigt, statt mit Suidas und Laertius Diogenes: ich wäre kein halb-zu-Grunde-gerichteter Mensch. — —
Also: ich habe das Meer nöthig usw. Pardon, ich langweile Euch mit diesen alten Geschichten.
Und so verliert man seine Jugend, und ist nun schon über 40 hinaus, und immer noch in den ersten Experimenten über das, was man nöthig hat, und spätestens seit 20 Jahren haben sollte. —
Ihr seht, ich bin wieder heiterer, der wesentlichste Umstand ist wohl der, daß Herr Lanzky fort ist. Ein sehr achtungswürdiger Mensch und mir sehr zugethan — aber was liegt mir an dem Beiden! Er bedeutete für mich das, was ich „bedecktes Wetter“ „deutsches Wetter“ und dergleichen nenne. Es lebt übrigens jetzt Niemand, an dem mir viel gelegen wäre; die Menschen, die ich gerne habe, sind lange, lange todt, z. B. der Abbé Galiani oder Henri Beyle oder Montaigne.
Über die Zukunft meiner Schwester mache ich mir meine Gedanken: das will sagen, ich glaube nicht recht an ein Zurückkehren des Hr. Dr. Förster nach Paraguay. Europa ist gar nicht so klein, und wenn man nicht in Deutschland leben will (worin ich ihm gleichgeartet bin) so braucht man noch lange nicht so weit zu gehn. Zum Enthousiasmus für „deutsches Wesen“ habe ich’s freilich noch wenig gebracht, noch weniger aber zum Wunsche, diese „herrliche“ Rasse gar rein zu erhalten. Im Gegentheil, im Gegentheil —
Pardon, Ihr seht, wie heiter ich bin. Vielleicht, daß wir uns dies Jahr wiedersehn. Aber nicht in Naumburg: Ihr wißt, es bekommt mir schlecht, und der Ort hat Nichts in meinem Herzen, was für ihn spricht. Ich bin dort nicht „geboren“, und niemals „heimisch“ geworden.
Rückenschmerzen, wie sonst. Nizza diesen Winter ausnahmsweise weniger hell und trocken. Vor Ende März werde ich aber schwerlich weg können.
Euch in Liebe zugethan
F.
Ich vergaß mich für Deinen Brief, meine liebe Mutter, der sich mit dem meinen gekreuzt hat <zu danken>. Es ist mir nicht in den Sinn gekommen, Etwas „übel zu nehmen“ — — im Gegentheil!
582. An Paul Lanzky in Florenz (Entwurf)
<Nizza, Mitte März 1885>
So geht es, wenn man nicht am rechten Orte Halt macht, nämlich in St. M., wo es Etwas Gutes zu sehen und auch Etwas zu machen gab.
Die Heiterkeit des „Himmels“ hängt davon ab, daß es sehr viele gute Dinge auch zu machen giebt: und daß das Leben zu kurz ist, um je damit fertig zu werden (— dies ist die Feinheit der Sache)
— Seit Sie fort sind, habe ich es wieder so weit gebracht, fortwährend meinem Lebensloose dankbar zu sein, das mir erlaubt in Nizza zu leben (und nicht im trüben Deutschland), wo ich nicht nöthig habe, mein thatsächliches „Eremitenthum“ auf eine brutale Weise auch noch zur Schau zu tragen. Ich liebe den Komödianten-Mantel mehr als die Kapuze-Trägerei.
583. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Entwurf)
<Nizza, Mitte März 1885>
Als ich deinen Brief las, kam mir wieder einmal zum Bewußtsein, weshalb mich einige feinere Köpfe in Deutschland für irrsinnig halten oder gar erzählen, ich sei im Irrenhaus gestorben. Ich bin viel zu stolz als je zu glauben, daß ein Mensch mich lieben könne: dies würde nämlich voraussetzen, daß er wisse, wer ich bin. Ebensowenig glaube ich daran, daß ich je Jemanden lieben werde: das würde voraussetzen, daß ich — einmal — Wunder über Wunder! — einen Menschen meines Ranges fände — Vergiß nicht, daß ich solche Wesen wie Rich<ard> W<agner> oder A. Schopenhauer eben so sehr verachte als tief bedaure und daß ich den Stifter des Christenthums als oberflächlich empfinde im Vergleich mit mir ich habe sie alle geliebt, als ich noch nicht begriff, was der Mensch ist.
Es gehört zu den Räthseln, über die ich einige Male nachgedacht habe, wie es möglich ist, daß wir blutsverwandt sind. — Was mich beschäftigt, bekümmert, erhebt, dafür habe ich nie einen Mitwisser und Freund gehabt! es ist Schade, daß es keinen Gott giebt, damit es doch Einer wüßte.. — So lange ich gesund bin, habe ich guten Humor genug, um meine Rolle zu spielen und mich vor aller Welt darunter zu verstecken zb. als Basler Professor. Leider bin ich sehr viel krank, und dann hasse ich die Menschen, welche ich kennen gelernt habe, unsäglich, mich eingerechnet. —
Meine liebe Schwester, das Wort unter uns — und Du darfst den Brief hinterdrein verbrennen. Wenn ich nicht ein gut Stück von einem Schauspieler wäre, so hielte ich’s nicht eine Stunde aus, zu leben.
Für Menschen, wie ich bin, giebt es keine Ehe: es sei denn im Stile unseres Goethe. Ich denke nicht daran, je geliebt zu werden.
Wenn ich Dir sehr gezürnt habe, so ist es, weil Du mich zwangst, die letzten M<enschen> aufzu<ge>ben, mit welchen ich ohne Tartüfferie sprechen konnte. Jetzt — bin ich allein.
mit denen ich ohne Maske von den Dingen reden konnte, die mich interessiren. Was sie von mir dachten und hielten, war mir sehr gleichgültig. — Jetzt bin ich allein.
Verbirg diesen Brief unserer Mutter und — — —
Es scheint mir, daß ein Mensch, bei dem allerbesten Willen, unsäglich viel Unheil anstiften kann, wenn er unbescheiden genug ist, denen nützen zu wollen, deren Geist und Wille ihm verborgen ist.
Um ein Beispiel zu nehmen: die gute Malvida hat ihr ganzes Leben nichts als Unheil angestiftet, Dank jener eben genannten Unbescheidenheit.
Sei mir eines solchen Briefs wegen nicht böse! Es liegt mehr Artigkeit darin, als wenn ich wie gewohnt, eine Komödie spiele.
Du weißt, daß ich von den Franzosen dieses Jahrhunderts Henri Beyle (Stendhal) am liebsten habe. Von seinen Schülern ist bei weitem der einflußreichste Taine: um Dir einen Begriff von ihm zu geben, sende ich Dir seinen M. Graindorge, ein Buch, das für meinen Geschmack etwas zu harmlos ist, aber vielleicht um so mehr geeignet ist, dir einen günstigen Begriff von seinem Verfasser zu geben.
584. An Heinrich von Stein in Halle (Entwürfe)
<Nizza, Mitte März 1885>
Diesen Winter bekommt man keine Briefe von mir, ich bin augenleidend, in einem Grade, daß ich fürchte, eines Tages und ganz plötzlich, blind zu sein — Dies sage ich nur, um mich zu entschuldigen, dafür daß ich auf Ihren Brief so spät antworte. — Mein werther Freund, Sie wissen nicht, wer ich bin, noch was ich will. Mein Vortheil ist es, zuzusehen, was Andere thun und wollen, ohne selber dabei erkannt zu werden. — Ich weiß sehr gut, daß Ihre Liebe und Verehrung für R<ichard> W<agner> zu groß ist, als daß Sie einen M<enschen> erkennen könnten, der grundsätzlich von ihm verschieden ist. Was würden Sie von mir denken, wenn ich sagte, daß ich R<ichard> W<agner> eben so sehr tief bedaure als verachte? Sie würden denken, ich sei verrückt. Es ist mein Loos, mich nur unter Masken zu zeigen, ich bin sehr ehrlich gegen Sie, Ihnen so viel von mir zu verrathen. —
Dies unter uns
Ihr ergebenster
N
Sie gefallen mir sehr: nur sollten Sie ernsthaft Dichter und schlechterdings nicht Aesthetiker und Philosoph sein wollen.
Was R<ichard> W<agner> anbetrifft, von dem Ihr Brief redet: so gehört er zu den Menschen, welche ich am meisten geliebt und auch am meisten bedauert habe. Doch liegt es mir ferne, mich je mit ihm zu verwechseln oder zu vergleichen: er gehört einer ganz anderen Ordnung von Menschen an — und am letzten wohl zu den großen Schauspielern —
Es ist schwer zu erkennen, wer ich bin: warten wir 100 Jahre ab: vielleicht giebt es bis dahin irgend ein Genie von Menschenkenner, welches Herrn F. N. ausgräbt. — Im Übrigen — unter uns gesprochen — habe ich Gründe vorsichtig zu sein und Schritt für Schritt zu thun. Schon diesen 4ten Z<arathustra> habe ich nicht mehr der Öffentlichkeit anvertraut.
Dies Werk — es braucht Ihnen nicht zu gefallen, Sie sollen sich ja keinen Zwang anthun! Werke dieser Art sind sehr anspruchsvoll, sie wollen Zeit. Da muß erst die Autorität von Jahrhunderten dazu kommen, daß so Etwas recht gelesen wird. Einstweilen — — —
Ich will bei Gelegenheit einmal den deutschen Musikern die Leviten darüber lesen, was sie von W<agner> zu lernen und zu verlernen haben — sonst bleibt auch in der Geschichte der Musik W<agner> schließlich wie ein großer Thunichtgut übrig
Was aber gar das Reich der Erkenntniß angeht — um des Himmels Willen, wo haben Sie Ihre Augen — was hat da dieses Genie der deutschen Unklarheit zu schaffen, der Nichts ordentlich gelernt und Alles durcheinander gemantscht hat, Pardon und — — —
Soll denn dieses Genie der deutschen Unklarheit auch noch nach seinem Tode fortfahren Unfug zu stiften? Sie mir in einem trüben Winter unter Freunden mit dem W<agner> L<exikon> beschäftigt zu denken — nein, dabei jammert’s mich und ich gedenke meiner eigenen elenden Zeiten, als ich jung war. Lesen Sie doch zur Wiederher<stellung> etwas Stärkend<es> und Herzerh<e>bend<es>, lesen Sie Montaigne — falls Sie zu meinem eigenen, freilich gefährlich starken Wein keinen Durst haben, und noch nichts von besseren Büchern wissen.
Ihnen als dem Verfasser des Wagner-Lexikons! in das ich inzwischen auch ein Mal hineingeblickt habe — und daß ichs ausspreche, mit einem unsäglichen Abscheu vor diesem anmaaßlichen Gefasel über jeglich Ding. „Man soll diesen Sumpf nicht aufrühren“ μὴ κωὴ καμαρώοου, sagte der Syrakusaner — — —
585. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
Nizza Donnerstag <19. März 1885>
Geehrter Herr,
es wird mir eben gemeldet, daß Herr Heinrich Köselitz, der mich, wie ich Ihnen mittheilte, in der Correctur unterstützen wird, inzwischen seinen Wohnort gewechselt hat. Seine Adresse ist:
Venezia (Italia)
San Canciano calle nuova 5256
Das Manuscript, hier am 12. d. M. abgesandt, wird in Ihren geehrten Händen sein. Ich bitte nochmals um die größte Beschleunigung des Drucks.
Was das Papier betrifft, so bitte ich doch ein besseres, namentlich stärkeres Velin zu wählen, als zum Druck des dritten Theils verwendet wurde: nur die Farbe muß ähnlich sein. —
Was die Zahl der Exemplare betrifft, so habe ich mich auch (entgegen meiner ersten Mittheilung) zu einem „Mehr“ entschlossen: ich ersuche Sie, im Ganzen 40 Exemplare herstellen zu lassen. —
Im Übrigen wissen Sie, daß ich ein gutes Vertrauen zu Ihrer Druckerei habe, es ist die beste, welche ich bisher kennen lernte.
Ihr ergebenster
Prof. Dr. Nietzsche.
NB Eben erhalte ich Ihre Zeilen. „Discret, gut und billigst“ va benissimo!
Aber das Ms. ist noch nicht in Ihren Händen! —
586. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Nizza, 24. März 1885> Dienstag Mittag.
Meine liebe Mutter,
Hier sind ein paar Blumen für das gute Lama; ich rechne nämlich aus, daß dieselben zu gleicher Zeit bei ihr ankommen können, wie Herr Dr. Förster: so daß sie sich damit hübsch schmücken kann. Man sagt mir, daß die Blumen sofort in warmes Wasser gesetzt werden müssen, bei der Ankunft: dann erhalten sie sich noch einige Tage wie frisch.
Herzlich grüßend
(Fast immer krank) Dein F.
587. An Malwida von Meysenbug in Rom
<Nizza,> Donnerstag <26. März 1885>
Verehrte Freundin,
Sie wundern sich darüber, daß ich Ihnen gar nicht mehr schreibe? Ich wundere mich gleichfalls darüber; aber immer, wenn ich mich dazu anschickte, legte ich endlich die Feder wieder weg. Wüßte ich die Gründe dafür genau, so würde ich mich nicht mehr wundern, aber — vielleicht betrüben.
Es gieng mir nicht gut, den ganzen Winter (die trockne Luft fehlte mir, dank den Abnormitäten dieses Jahrs), und als Ihr gütiger Brief zu mir kam, lag ich zu Bett, sehr leidend. Aber das ist eine alte Geschichte, und im Grunde bin ich’s satt, Briefe über meine Gesundheit zu schreiben. „Helfen“ — wer könnte mir helfen! Ich selber bin bei weitem mein bester Arzt. Und das Positivum, daß ich’s aushalte und meinen Willen durchsetze unter viel Widerständen, ist mein Beweis dafür.
Es war den Winter über ein Deutscher um mich, der mich „verehrt“: ich danke dem Himmel, daß er fort ist! Er langweilte mich, und ich war genöthigt, so Vieles vor ihm zu verschweigen. Oh über die moralische Tartüfferie aller dieser lieben Deutschen! Wenn Sie mir einen Abbé Galiani in Rom versprechen könnten! Das ist ein Mensch nach meinem Geschmack. Ebenso Stendhal. — Was Musik angeht: so habe ich letzten Herbst gewissenhaft und neugierig die Probe gemacht, wie ich jetzt zu R. Wagner’s Musik stehe. Was mir diese wolkige, schwüle, vor allem schauspielerische und prätentiöse Musik zuwider ist! So sehr zuwider als — als — als — tausend Dinge, zum Beispiel Schopenhauer’s Philosophie. Das ist Musik eines mißrathenen Musikers und Menschen, aber eines großen Schauspielers — darauf will ich schwören. Da lobe ich mir die tapfere und unschuldige Musik meines Schülers und Freundes Peter Gast, eines ächten Musikers: der mag einmal für seinen Theil dafür sorgen, daß die Herrn Schauspieler und Schein-Genies nicht mehr zu lange den Geschmack verderben. — Der arme Stein! Er hält R. Wagner sogar für einen Philosophen!
Warum rede ich davon? Es ist nur, daß ich Ihnen irgend ein Beispiel gebe. Es ist der Humor meiner Lage, daß ich verwechselt werde — mit dem ehemaligen Basler Professor Herrn Dr. Friedrich Nietzsche. Zum Teufel auch! Was geht mich dieser Herr an! —
Sehen Sie, meine verehrte Freundin, das ist ein Brief „unter vier Augen“.
Ende dieses Monats kommt Herr Dr. Förster nach Naumburg, von der Liebe beschleunigt, nämlich um einen Monat früher als es die Vernunft seiner Land-Studien wollte. Was ich froh bin über diese Wendung! Und wie ich hoffe, damit für die Zukunft einer ganz lebensgefährlichen Art von Folterung enthoben zu sein, welche diese letzten Jahre über mich verhängt war! —
Geben Sie mir doch die Adresse jenes Klosters! Es könnte sein, daß ich vielleicht im Herbst einmal den Versuch mit Rom mache, vorausgesetzt, daß ich incognito dort leben kann, und meiner Einsiedler-Natur nichts Widernatürliches zugemuthet wird.
Sie wissen doch, wie sehr ich Ihnen zugethan bin?
Ihr
N.
Ich liebe diese Küste nicht, ich verachte Nizza, aber im Winter hat es die trockenste Luft in Europa.
588. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Nizza, 30. März 1885>
Lieber Freund,
seltsam! Ich erinnere mich gar nicht mehr, daß ich jemals eine Reise nach einem Orte hin mit Vergnügen unternommen hätte. Aber diesmal: — zu denken, daß ich bald in Venedig und bei Ihnen sein werde, erquickt mich, entzückt mich, es ist wie die Hoffnung auf Genesung bei einem lange und geduldig Kranken. Dabei habe ich entdeckt, daß Venedig mir bisher allein gefallen und wohlgethan hat: oder vielmehr, ich sollte ganz andre (und bescheidenere) Ausdrücke gebrauchen. Als Landschaft ist mir Sils-Maria verwandt (leider nicht als Ort) — wüßte ich nur, wie ich dort mir eine würdige Einsamkeit und Einsiedlerschaft erhalten könnte! Aber — es kommt in Mode!
Sie selber aber, mein lieber Freund und maestro, gehören einstweilen für mich wesentlich zu Venedig, und im Grunde höre ich nichts lieber, als daß Sie dieser Stadt noch nicht müde sind. Wie Viel habe ich neuerdings an Sie und über Sie gedacht!
Sogar, als ich in den mémoires des alten De Brosses (1739—40) über Venedig las und über den damals berühmtesten maëstro, nämlich Hasse (il detto „Sassone“). Sein Sie nicht böse, es liegt mir ferne, unehrerbietige Vergleichungen zu machen.
An Malvida schrieb ich dieser Tage, Herr Peter Gast werde für seinen Theil dafür sorgen, daß die Herrn Schauspieler und Schein-Genies der Musik nicht mehr lange den Geschmack verderben. „Nicht mehr lange“ — das ist vielleicht eine große Übereilung. In einem demokratischen Zeitalter ist das Schöne jeder Art Eigenthum Weniger: pulchrum paucorum est hominum. Ich freue mich, in Ihrem Falle ein „Weniger“ zu sein. Die Menschen, die tief und lustig genug für mich sind, mit âmes mélancholiques et folles, gleich meinen verstorbenen Freunden Stendhal und Abbé Galiani, haben es auf Erden nicht aushalten können ohne die Liebe zu einem Musiker des Glücks (Galiani nicht ohne Piccini, und Stendhal nicht ohne Cimarosa und Mozart)
Ah, wenn Sie wüßten, wie allein ich jetzt auf der Welt bin! Und wie viel Komödie noth thut, um nicht, hier und da, aus Überdruß, irgend Jemandem in’s Gesicht zu spucken! Glücklicher Weise ist etwas von den höflichen Manieren meines Sohnes Zarathustra auch in seinem verrückten Vater vorhanden.
Wenn ich aber zu Ihnen und nach Venedig komme, hat es, für eine Zeit lang, einmal mit der „Höflichkeit“ und der „Komödie“ und dem „Überdruß“ und der ganzen verfluchten Nizza-haftigkeit ein Ende — nicht wahr, mein werther Freund?
Nicht zu vergessen: es werden wieder „bajicoli“ gegessen!
Von Herzen
Ihr N.
NB. Ich will hier die Beendigung des Drucks abwarten.
589. An Franz Overbeck in Basel
Nizza 31 März 1885.
Alles ist glücklich in meinen Händen, ich danke Dir, lieber alter Freund, für alle diese Sorge und Sorgfalt um mich. Du schreibst nichts von Deiner und Deiner lieben Frau Gesundheit: ich nehme es als ein gutes Zeichen, daß Ihr diesen sonderbaren Winter glücklicher bestanden habt als ich. Für mich gab es viel Überwindung, viel kranke Tage. Mit den Augen steht es immer bedenklicher. Die Mittel Schiessens haben nichts geholfen. Seit vorigem Sommer ist eine Wendung eingetreten, die ich nicht verstehe. Flecken, Verschleierung, auch Thränenfluß. Ich darf schwerlich wieder nach Nizza: die Gefahr, überfahren zu werden, ist hier zu groß. Bei Tische hat man mir immer vorlegen müssen, ich mag bei diesem Zustande nicht mehr in Gesellschaft essen.
Es ist wahrscheinlich, daß ich mir die Reise nach dem Norden erspare, die Gefahren und Aufregungen des Allein-Reisens sind jetzt zu groß für mich geworden. — Dr. Förster ist aus Paraguay zurückgekehrt, großer Jubel in Naumburg. Vielleicht entsteht aus der Verheirathung meiner Schwester auch für mich Etwas Gutes: sie wird die Hände voll zu thun haben und Jemanden besitzen, dem sie völlig vertrauen darf und dem sie wirklich nützen kann: was Beides, bisher, in Bezug auf mich, nicht immer möglich war.
Vom Prozeß contra Schm<eitzner> höre ich nichts Neues. Er hatte sich selber zuletzt den ersten Januar als Termin gesetzt, aber ihn wieder, wie früher, verstreichen lassen, ohne „Mucks“. — Was ich am meisten wünsche, meine 3 ersten Theile Zarathustra ihm aus den Händen und damit aus der „Publicität“ zu ziehn, läßt sich vielleicht erreichen.
Natürlich habe ich für den vierten Z<arathustra> keinen Verleger gefunden. Nun, ich bin’s zufrieden und genieße es sogar als ein neues Glück. Wie viel Scham war immer, bei allen meinen Publicationen, für mich zu überwinden! Wenn ein Mensch, wie ich, die Summe eines tiefen und verborgenen Lebens zieht, so gehört dergleichen vor die Augen und Gewissen der ausgesuchtesten Menschen. Genug, es hat Zeit. Mein Verlangen nach Schülern und Erben macht mich hier und da ungeduldig und hat mich, wie es scheint, in den letzten Jahren sogar zu Thorheiten verleitet, welche lebensgefährlich waren. Zuletzt bringt mich das ungeheure Schwergewicht meiner Aufgabe immer wieder zum Gleichgewicht: und ich weiß ganz gut, was zuerst und zunächst allein Noth thut. —
Ich las jetzt, zur Erholung, die Confessionen des h<eiligen> Augustin, mit großem Bedauern, daß Du nicht bei mir warst. Oh dieser alte Rhetor! Wie falsch und augenverdreherisch! Wie habe ich gelacht! (zb. über den „Diebstahl“ seiner Jugend, im Grunde eine Studenten-Geschichte.) Welche psychologische Falschheit! (zb. als er vom Tode seines besten Freundes redet, mit dem er Eine Seele gewesen sei, „er habe sich entschlossen, weiter zu leben, damit auf diese Weise sein Freund nicht ganz sterbe“. So etwas ist ekelhaft verlogen.) Philosophischer Werth gleich Null. Verpöbelter Platonismus, das will sagen, eine Denkweise, welche für die höchste seelische Aristokratie erfunden wurde, zurecht gemacht für Sklaven-Naturen. Übrigens sieht man, bei diesem Buche, dem Christenthum in den Bauch: ich stehe dabei mit der Neugierde eines radikalen Arztes und Physiologen. —
Über das plötzliche Verschwinden unsres „rückfälligen“ Musikers, der auch mich mit einer Karte consternirte, war ich böse. Zuletzt hilft es nichts, ich muß wieder, wie voriges Jahr, nach Venedig und zusehn, woran es eigentlich fehlt. Wir wollen übrigens billig sein: er führt seit Jahren, eine unwürdige Hunde-Existenz als Notenschreiber, was Wunder, wenn er einmal aus der Haut fährt! Das Abschreiben ungeheurer Partituren, das Machen von Klavierauszügen, in den produktivsten Jahren eines produktiven Menschen, wo etwas ganz Anderes noth thut, ist für mich ein Jammer. So schlecht hat es R. Wagner nicht gehabt, und selbst Herr Bungert beschäftigt zu solchen Zwecken andre Musiker und Notenschreiber. Es fehlt Geld — voilà tout! Und deshalb muß dieser „Löwe von Venedig“ erst öffentlich brüllen. Und ich will thun, was ich kann.
Über die Maaßregel des Fl. v. Salis habe ich gelacht. Das gehört unter die Feinheiten der agents provocateurs: sie wollte genau Das, was sie erreicht hat, eine Abweisung, um daraus für die „Agitation“ Capital zu schlagen.
Mich Dir und Deiner lieben Frau zu freundlichem Angedenken empfehlend immer Dein
F. N.
590. An Heinrich Köselitz in Venedig
Oster-Montag früh. <Nizza, 6. April 1885>
Lieber Freund,
eben erhalte ich Ihre Correctur des fünften und sechsten Bogens, wieder mit Dank und Bewunderung der feinen Augen und der feinen Sorgfalt meines Herrn Correctors. —
Ich halte dafür, daß wir jetzt sehr bald uns wiedersehn. Übermorgen (Mittwoch) will ich abreisen; ich hatte bei meiner Zeit-rechnung die christlichen Feste nicht in Betracht gezogen, durch welche die Druckzeit meines IV. Z<arathustra> sich bedeutend verlängert. Wenn ich hier auch nicht „auf Kohlen“ sitze, so will ich doch sehr aufathmen, wenn ich erst wieder an der Lagune sitze. Der Winter war ein großes Pensum der Selbst-Überwindung, und mein einziges Gebet früh und spät „mein Herr, fahren Sie nicht aus der Haut!“
Meine Bitte, lieber Freund, mich hübsch venetianisch irgendwo unterzubringen, — still muß es sein! — habe ich Ihnen schon vorgetragen. Aber machen Sie sich keine Noth deshalb, lassen Sie den Zufall Ihnen etwas zuflüstern! Thut er’s nicht, nun, so versuche ich’s und probire eine Zeit lang dies und das.
Was ich mich auf Ihre Musik freue! — Nehmen wir an, daß ich Freitag Abend in Venedig bin. Jedenfalls telegraphire ich von Genua aus. Meine dumme Gesundheit erlaubt mir nichts fest zu versprechen.
In Freundschaft Ihr
N.
591. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Nizza, 8. April 1885>
Meine Lieben,
herzliche Glückwünsche allerseits!
Morgen geht es fort nach Venedig.
Meine Adresse:
Venezia (Italia)
poste restante.
In Liebe Euer F.
(sehr augenleidend!!!)
592. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
Nizza, Mittwoch . <8. April 1885>
Mein lieber Freund,
morgen früh geht es fort: ein Winter voll viel Noth und Selbst-Überwindung ist wieder hinter mir! — Mit den Augen steht es zum Schlimmsten, es verlangt mich sehr nach der dunkelsten aller Städte, nach Venedig. — Ein Tag ist für Genua zurückbehalten: diesem Ort bin ich tief dankbar, und vielleicht passen wir auch fernerhin zu einander. Adresse: Venezia poste restante.
Von Herzen Dein N.
593. An Carl von Gersdorff in Ostrichen
Nizza, 9 April 1885.
Mein lieber alter Freund,
ich bin sehr betrübt durch die Andeutung, welche Du mir in Betreff der Gesundheit Deiner lieben Frau machst. Nun lebe ich zwar hier an einem Orte, wo es Einem nicht an allerlei Ermuthigungen in dieser Hinsicht gebricht; es ist mir sogar erstaunlich, wie lange, wie (relativ) gut und namentlich wie heiter durchschnittlich ein solcher Zustand ertragen wird. Es scheint, wenn das Leben nicht selber eine lebensgefährliche Sache wäre, diese Krankheit würde es noch nicht dazu machen. So bitte ich Dich denn, auch bei dieser Herzenssorge Deinen Himmel hell zu erhalten, so viel es nur möglich ist.
— Was meine Angelegenheit betrifft, über welche ich Dir Mittheilung machte, so bin ich mitten im Druck; C. G. Naumann hat versprochen „diskret“, gut, billigst“, und ich habe Gründe, an seine Versprechungen zu glauben. Bei einem Worte Deines Briefes kam ich auf den Gedanken, daß zum mindesten das Motto dieses Finale Dir sehr nach dem Herzen sein werde.
Wenn Alles fertig ist, will ich Dir erzählen, wie es steht: Du kannst dann erwägen, was in Deinen Kräften steht. Du bist, mein lieber alter Freund, in dieser Sache vor mir vollkommen frei: in meiner Liebe zu Dir verrückt sich Nichts um einen Zoll, gehe es so oder so. Aber dies versteht sich, unter Menschen, wie wir sind, von selber.
— Morgen breche ich auf und gehe für ein paar Monate nach Venedig. Ich bin sehr augenleidend, und sehne mich nach dem Dunkel seiner Gäßchen. Zuletzt ist es die einzige Stadt, die ich liebe. Und dann ist der einzige Musiker dort, der jetzt Musik macht, wie ich sie liebe, nämlich unser Freund „Peter Gast“. Weißt Du wohl, was den goldigen Glanz des Glücks, was ächte Naivetät, was Meisterschaft im Sinne alter Meister betrifft, so ist dieser Köselitz jetzt unser erster Componist. Es gehört freilich eine gute Nase dazu dies herauszuriechen. Unsre Zeit ist durch die prätensiöse und übertreibende Theater-Musik R<ichard> W<agner>’s (welcher zuletzt ein Schauspieler war, ein sehr großer Schauspieler, auch als Musiker, aber nicht mehr!) arg verdorben in allen Angelegenheiten des musikalischen Geschmacks und Wohlgeschmacks. Die Oper unsres Freundes, welche absolut jetzt auf die deutschen Bühnen muß, heißt „der Löwe von Venedig“. Da wird Einem endlich einmal wieder venetianisch-wohl, wie 1770 ungefähr. —
Meine Adresse: Venezia, poste restante.
Dir und Deiner lieben Frau meine angelegensten und herzlichsten Wünsche.
594. An Heinrich Köselitz in Venedig (Telegramm)
Genova, 10 Aprile 1885. 7. 10 mattina.
Venio questa sera.
Amico.
595. An Bernhard Förster in Naumburg
Venedig, Donnerstag. <16. April 1885>
Lieber und sehr werther Herr Doctor,
— endlich eingerichtet: Geistes-Gegenwart, Tintenfaß-Gegenwart und Alles, was dazu gehört, um einen Brief zu schreiben. Voilà!
Hier und da fällt auch mir ein guter Tag vom Himmel: so geschah’s kürzlich, als ich wieder in der Stadt war, die ich allein liebe. Und da gerade, zu allen den guten Geschenken eines ersten Vormittags auf dem St. Marco-Platze, kam mir auch noch Ihr Brief zu Händen. Es ist gar nicht möglich, daß ich einen Brief unter herzlicheren Empfindungen lesen kann. —
— Also, es hilft Nichts, meine Schwester geht „in die weite weite Welt“ und mit Ihnen, mein lieber Herr Doctor. Die Liebe führt das Lama — Pardon! so nannte ich sie bisher — wie mir scheint, in viele Gefahren, fernab von der Heimath, in ein Leben voller Versuche, wo Manches schief, Manches gut gehn wird: in summa es erwartet sie eine tapfere Zukunft. In dem Allen thut sie mir es gleich: es scheint, dies gehört zur Rasse. Und wenn die Liebe sie in weniger „abstrakter“ Gestalt führt als mich, so hat sie vielleicht von uns Beiden den besseren Geschmack, und „den besseren Theil“ erwählt: nämlich Herrn Bernhard Förster. Die Frauen sind in solchen Dingen schlauer als die Männer: unsereins läuft der „Wahrheit“ und solchen andern blassen Schönheiten nach, und schließlich, wenn man es weit bringt, bringt man es so weit, bei dieser Leidenschaft, daran zu zweifeln, ob man noch im Stande ist, irgend einen Menschen recht aus letztem Herzensgrunde zu lieben: was, nach Briefen und sonstigen Dokumenten der Seele zu schließen, meiner Schwester ganz und gar nicht widerfahren ist.
Dies soll nicht ein Seufzer meinerseits sein, sondern nur ein Einwand gegen eine gewisse allzuschmeichelhafte und unverdiente Wendung Ihres viel zu ernsten Briefes. Man soll, wenn man liebt, eine Sache auch mit ihren schlimmen Kehrseiten lieben (wie das Leben einmal eingerichtet ist, bezahlt man Alles etwas zu theuer — scheint mir) Umgekehrt: um mit meinem Sohne Zarathustra zu reden: „jedwedes schlimme Ding hat zwei gute Kehrseiten“ — und was Ihnen fürderhin auch begegnen mag, verehrter Herr Doctor, meine Schwester wird Ihnen helfen, die „guten Kehrseiten“ und den Himmel wieder hell zu finden. Es scheint, auch dies gehört zur Rasse. —
Mit vielen guten Wünschen, auch unaussprechbaren — Ihr sehr ergebener
Nietzsche.
596. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
Venezia (Italia), calle del ridotto, casa Fumagalli. <16. April 1885>
Meine liebe Mutter und Schwester,
in Venedig endlich angekommen, es ist kalt, ich fand nichts von Wohnungen, das nach meinen Wünschen ist, Magen durch diese klimatische Veränderung sehr außer Rand und Band, Augen umschleiert, wie ich’s noch nie im Leben gehabt habe. Genug, es muß Vieles besser werden. Andererseits gefällt mir die Musik meines maëstro so sehr, als nur möglich, nämlich mehr als alle andre Musik — und ich habe nicht mehr viel Dinge übrig, die mir gefallen.
Eben habe ich einen Brief an Herrn Dr. Förster abgeschickt, mit der einfachen Adresse Naumburg a/Saale; ich denke, er ist berühmt genug dazu, daß man nicht mehr nöthig hat.
Meine Wäsche — großer Jammer! Helft mir aus, und schnellstens, wenn es möglich ist! Also: ich habe noch 2 tragbare (ungefähr tragbare) Hemden, Alles Andre sind Lumpen.
Das zuletzt angefertigte Hemd ist im Halse etwas zu eng; das letzte Nachthemd ist zu kurz. Auch mit den Strümpfen steht’s böse.
Auch, bitte, 2 Paar Unterbeinkleider!
Über die Schmeitzner-Angelegenheit bin ich sehr erstaunt. Es kommt mir sehr zustatten, denn ich habe, weil ich diesen Winter keinen Verleger fand, trotz ernstlicher Bemühung, und weil dies Suchen endlich gegen meinen Stolz gieng, den vierten (und letzten) Theil Zarathustra auf eigne Kosten drucken lassen. Es ist übrigens gut so, dieser Theil ist noch weniger als die 3 ersten für die „Öffentlichkeit“; ich bitte darum, daß von der Existenz dieses Theils nicht gesprochen wird; aber ich freue mich, jetzt etwas zu haben, wodurch ich Menschen, welche sich um mich hübsch „verdient“ machen, eine Artigkeit erweisen kann. Die Exemplare sind bisher mir noch nicht ausgehändigt (im Ganzen nur 40) Vielleicht gebe ich C. G. Naumann in Leipzig Auftrag, den Bücher-Ballen nach Naumburg zu expediren: stellt ihn hübsch in eine Ecke und laßt ihn schimmeln!
Meine Sachen fangen erst an, etwas zu taugen, wenn ich selber erst schimmle.
Wozu ich hier in Venedig noch nicht präparirt bin. —
Da fällt mir ein: es giebt ja etwas auszudenken, als Geschenk für die Hochzeit des berühmten und vielgefeierten Lama. Aber hierzu müßt Ihr mich inspiriren, es muß etwas sein, das sie gern mit in ihre ferne neue Heimat nimmt.
In alter Liebe Euer
F.
597. An Heinrich Schieß in Basel (Entwurf)
<Venedig, gegen Ende April 1885>
Meine Augen geben mir große Besorgnisse und noch mehr Unbequemlichkeit und Langeweile. Der Zustand ist so, daß ich mit Mühe lesen kann, durch die Menge Schleier, die vor mir herumschweben: dabei thränen die Augen beständig. Hier, in der feuchten Luft Venedigs, finde ich es viel lästiger als in der trocknen Luft Nizzas: sollte hier das Licht, wegen des vielen Wasserdampfs, eine andre Art von Reizung des Sehnervs hervorbringen als dort, wo die Lichtstrahlen direkter sind und nicht so undulatorisch wirken wie hier? — Mein jetziges Augenleiden scheint mir toto genere verschieden von meinem früheren: das frühere hatte, wie mir scheint, seinen Grund in Ernährungs-störungen des Gehirns, welche den nervus opticus zeitweilig depotenzirten: mein jetziges hat wohl mit der Netzhaut zu thun? Verzeihung für solche Vermuthungen: zuletzt ist es vor Dir eine Unbescheidenheit, auch nur solche Vermuthungen zu äußern.
Die Salbe mit Kali jodatum hat keine irgendwie merkbare Veränderung hervorgebracht.
598. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Venedig, Ende April 1885>
Meine liebe Mutter, ich antworte sofort, sehr erfreut über Deinen Brief und Deine Sendung. Im Grunde bin ich vielleicht niemals so guter Stimmung gewesen wie die letzten Wochen, und es scheint mir, daß ich fortwährend es fühle, wie Ihr bei einander in einer festlichen und freudigen Stimmung seid. Daß ich außerdem einen Musiker habe, der ganz eigens für meinen Geschmack und meine Ohren Musik macht, während ich andre Musik kaum mehr aushalte, ist ein großes Glücks-Geschenk für einen mit schweren Aufgaben überladenen und oft gedrückten, halbzerdrückten Menschen, der nicht mehr ganz jung ist. Es bleibt zu sagen übrig, daß mit meinen Augen es schlimm steht, unheimlich-schlimm; mein ganzes Leben habe ich niemals eine so seltsame und schnell zunehmende Verdunkelung erlebt: es ist Alles vor mir mit Schleiern, welche sich schnell bewegen, überdeckt, dabei thränen die Augen beständig. Für den Sommer muß ich irgend wohin „ins’s dunkle Loch“; ich weiß mir noch nicht zu rathen. Vielleicht nach Vallombrosa, wohin Augenleidende aus Rom zu gehn pflegen: es ist inmitten großer Tannenwälder. Aber freilich, ich möchte nicht wieder mit Herrn Lanzky zusammentreffen, an dem ich diesen Winter mehr „laborirt“ habe als Ihr denken könnt. Ich habe viel Geduld im Verkehr mit den mir fremdesten Naturen; und habe noch Niemanden von mir gestoßen: aber zuletzt büße ich’s immer mit meiner Gesundheit. Am schlimmsten bekommen mir die Langweiligen; am besten die geistigen Hanswürste, — und im Grunde habe ich deshalb, weil man diese unter Deutschen heute nicht findet, fast nur mit Todten Verkehr. — „Bekenntniß einer schönen Seele“, nicht wahr?
Die Steuer hat mich mit 5 frs. gestraft; und gestern, als C. G. Naumann in Leipzig mir Bücher schickte, wurde ich auch mit 5 frs. gestraft: er hatte einen Brief eingelegt, was in Italien strengstens verboten ist. Auf diese Weise werde ich nicht reich, scheint es; aber es schadet meiner guten Laune nichts.
Meine liebe Mutter, Dein Sohn eignet sich schlecht zum Verheirathet-werden; unabhängig sein bis zur letzten Grenze ist mein Bedürfniß, und ich bin für meinen Theil äußerst mißtrauisch geworden in diesem Einen Punkte. Eine alte Frau, und noch mehr ein tüchtiger Diener wäre mir vielleicht wünschenswerther. Wüßte ich nur erst einigermaaßen, wo leben! Du glaubst nicht, an was für delikate Bedingungen die Freiheit meines Kopfes und meine ganze geistige Tüchtigkeit gebunden ist. Und nun die Augen!
Außerdem bin ich gar noch von einer gräßlichen und ganz unmöglichen Verwegenheit meiner Meinungen, ich meine für deutsche Verhältnisse und sittsame gute Freunde und Nachbarn unmöglichen Verwegenheit. Immer aber Komödie spielen, wie ich es so viel thue und gethan habe, geht mir wider den Geschmack; zuletzt ist man doch gerne „bei sich zu Hause“ wenigstens ehrlich. Ich meine: ich kann mir eine „Lebensgefährtin“ gar nicht vorstellen, ohne aus der Haut zu fahren. — —
Gersdorff schrieb mir betrübt: Tuberculose bei seiner Frau constatirt. — Was Köselitzens Oper betrifft: der Löwe von Venedig — die schönste Musik seit Mozart, und doch eine Musik, welche Mozart nicht hätte machen können —, so ist Berlin’s Hoftheater dafür ausgedacht, und Herr von Hülsen wird die Ehre haben, die beste deutsche komische Oper in Scene zu setzen.
Ich sende Herrn Dr. Förster und meiner lieben Schwester die herzlichsten Grüße; auch wißt Ihr, wie hoch ich den Dr. v. Stein schätze (ob er gleich noch im Wagnerschen Sumpfe sitzt, und für meine Denkweise noch keine Nase hat), Dir selber aber den allerschönsten Dank!
Dein F.
Ich wäre gern den Sommer über mit Seydlitzens zusammen, falls sie einen schönen dunklen Wald ausfindig machen. Lisbeth möge ein Bischen nachdenken.
599. An Franz Overbeck in Basel
Venezia 7. Mai 1885.
Sehr erbaut durch Deinen Brief und sehr beruhigt: denn mitunter kam mir der Verdacht, Du möchtest gar den Verfasser des Z<arathustra> für übergeschnappt halten. Meine Gefahr ist in der That sehr groß, aber nicht diese Art Gefahr: wohl aber weiß ich mitunter nicht mehr, ob ich die Sphinx bin, die fragt, oder jener berühmte Oedipus, der gefragt wird — so daß ich für den Abgrund zwei Chancen habe. Das geht nun seinen Gang. —
Der übersandte Brief aus Holland, von einem alten Herrn van Eeden, Direktor des Colonialmuseums in Haarlem, war einer jener „Huldigungsbriefe“, bei denen ich immer mich frage: ob diese selbe Gattung von Menschen, wenn sie mit Einem Male erführen, was ich langsam, langsam vorbereite, mich nicht wie den Tod hassen würden. — Mir ist auch diese Art von Freuden seit langem vergällt. — Mit den Augen steht es hier noch schlimmer als in Nizza; ich habe nach einer erträglichen Wohnung gesucht und gesucht und nichts gefunden, — in solchen Dingen kann mir auch unser K<öselitz> nicht recht rathen und zu Hülfe kommen. Er ist ein ungeschickter Mensch, mit dem man seine Noth hat; und zum Verkehre nicht gemacht, — aber deshalb mir nicht weniger lieb. In seinen eignen Sachen zeigt er sich ebenso gedankenlos und ungeschickt wie in fremden. Er war so ziemlich entschlossen, sein Werk nach Berlin an Hrn. v. Hülsen zu schicken: es kam mir vor wie ein Mittel, wieder lange Zeit nichts davon hören zu müssen. Ich rede ihm zu, den ganz fertigen (prachtvoll gerathenen) Klavierauszug an jenen Musikverleger und ehemaligen Virtuosen Ries (bei Dresden) zu schicken; der will ihm wohl und ist, namentlich wenn er den Klavierauszug druckt, am besten geeignet, zwischen Bühnen und dem Componisten zu vermitteln, — es ist ein sehr erfahrener und bekannter Mann. — An der Musik selber und ihrer Mozartischen Idealität kann ich mich nicht satt hören; es mag aber sein, daß ich dergleichen Musik nöthiger habe als Andre, und insofern auch weniger befähigt bin, ihren Werth festzusetzen. — Einen ganz überraschenden Erfolg hatte ich jüngst, durch einen Brief des Herrn Lanzky: ich hatte gemeint, die Bemühung um ihn, und im Grunde damit dieser Winter in Nizza, sei umsonst gewesen, wie andre Bemühungen meinerseits — aber siehe, es kam anders. Er schrieb wie ein umgedrehter Mensch, von seinem „Pessimismus“ befreit und zu einem ganz ernsthaften wissenschaftlichen Leben entschlossen (ob er schon nicht mehr jung ist). Alles hatte sich verbessert, selbst die Handschrift; er schrieb sehr dankbar. — Den „Kampf um Gott“ habe ich nicht gesehn und mag ihn einstweilen nicht sehn; man bezeugt der Verfasserin, von sehr verschiedenen Seiten her, Respekt. Und wenn Deine liebe Frau auf Grund dieser Art Mémoires und Halb-Roman dem Frl. S<alomé> wieder eine etwas günstigere Beurtheilung gönnt, so soll es mir von Herzen lieb sein; zuletzt hat sie genau das ausgeführt, was ich von ihr in Tautenburg gewünscht habe. Im Übrigen hole sie der Teufel! — Den 22. Mai ist die Hochzeit meiner Schwester, Du verstehst das Datum. Es ist mir der Wunsch ausgedrückt worden (bei meiner Anfrage, womit ich im Stande sei, eine Art „Hochzeitsgeschenk“ zu machen), daß jenes Dürer’sche Blatt „Ritter Tod und Teufel“, welches in Deinen Händen ist, mit diesen beiden Auswanderern als ein werthvolles und tapferes Wahrzeichen, in ihre neue ferne Heimat wandern solle. Es thut mir eigentlich gründlich wehe, es aus Deinen Händen zu nehmen, denn zuletzt hast Du solcher Trostmittel ebenso nöthig als irgend welche Auswanderer, als ein Seefahrer und Vereinsamter auf Deine Art. Vielleicht aber ist es für Deinen Geschmack zu düster: und so sende es, wenn es Dir gefällt, an meine Schwester ab. —
Mein Prozeß gegen Schmeitzner hat, wie ich eben höre, eine überraschende Wendung gemacht: Vater Schmeitzner ist als Bürge eingetreten, und im Juni sollen die 5600 Mark ausgezahlt werden. Da will ich denn zunächst den Druck meines 4ten Z<arathustra> bezahlen. Er ist als Finale gemeint: lies nur einmal die „Vorrede“ des ersten Theils. Der Titel den ich Dir zuerst schrieb, war eine „Condescendenz“ an die Herrn Verleger, welche absolut keine „vierten Theile“ verlegen wollen, wenn sie nicht die drei vorher haben.
Meine herzlichsten Grüße an Deine liebe Frau, und wer sonst in Basel mir wohl will. (Ausdrücklich bemerkt: ich habe weder Burckhardt, noch irgendwem in Basel ein Exemplar geschickt — verschweigen wir, bitte, das Factum, daß ein 4ter Theil existirt.
Dankbar ergeben
Dein Freund N.
Adresse dieselbe wie Köselitzens:
Venezia, San Canciano calle nuova 5256.
600. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Venedig, 7. Mai 1885>
Mein liebes, liebes Lama,
eigentlich kommt mir Alles sehr wunderbar vor, zum Beispiel, daß Du da so, Dir nichts, mir nichts, mit einem fremden Manne Dich abgiebst und sogar in die weite weite Welt gehn willst. Nun habe ich gleich an Overbeck geschrieben, von wegen des Dürerschen Blattes, das freilich mir viel zu düster vorkommt; dann will ich Dir auch noch mein buntes persisches Handexemplar meines Zarathustra schicken, Du kannst es in irgend einem amerikanischen Urwalde aufstellen, als Fetisch. Auch sende ich zugleich 2 Exemplare des vierten Theils, für Dich und Herrn Dr. Förster, mit der ausdrücklichen Bitte, daß dieser vierte Theil überallhin verschwiegen wird, wie als nicht vorhanden. — Kommt später die Frage in die Nähe, was Alles mit hinüber genommen werden soll in die neue Heimat: so möchte ich dann gern etwas von dem, was am nothwendigsten ist, beschaffen dürfen, als eine Art „Hochzeits-Geschenk post festum“. Die Schmeitznersche Angelegenheit nimmt ja einen Verlauf, daraufhin ich ja wagen dürfte, sogar Geschenke zu machen: zunächst kommt dann mein Drucker Herr C. G. Naumann, welcher 284 Mark 40 Pfennige verlangt. Deine Vorschläge für die Zukunft klingen nicht übel auf meinem Resonanz-Boden wieder; für die Sorge, die sich darin ausdrückt, weiß ich nicht genug zu danken. Meine Gegen-Bemerkung ist, daß vielleicht alle Sorgen für meine Zukunft mit Einem Male abgethan sein könnten. Ich ertrage Vormittags das Leben, aber kaum mehr Nachmittags und Abends; und es scheint mir sogar, daß ich genug gethan habe, unter ungünstigen Umständen, um mich mit Ehren aus dem Staube machen zu können. — Dann werde ich zu blind, um noch lesen und schreiben zu dürfen, es fällt mir fast jeden Tag genug ein, daß deutsche Professoren daraus zwei dicke Bücher machen könnten. Aber ich habe Niemanden, für den das Zeug paßt. Es ist so viel Unerlaubtes darunter; es thut Andern wehe. Ich gestehe, daß ich ganz gerne hier und da eine Vorlesung halten würde, ganz ziemlich und schicklich, als Moralist und großer „Erzieher“, der nicht auf den Kopf gefallen ist; aber Studenten sind so dumm, Professoren sind noch dümmer! Und wo! In Jena? Ich habe jetzt keinen Ort mehr, wo ich gerne bin, ausgenommen Venedig: nur daß der hohe Gehalt der Feuchtigkeit der Luft 90 procent, mich malträtirt. Nizza und Oberengadin sind sehr trocken. Und dann wäre ich besser daran in Venedig, wenn mein werther Freund K<öselitz>, der große Musiker, nicht hier wäre. Er ist ein Tölpel und zum Verkehre ungeschickt; ich habe zu viel zu überwinden, was mir wider den Geschmack geht. Freilich: seine Musik ist ein Ding ersten Ranges, von mozartischer Güte und Verklärung: daran kann der Meister Richard nicht rühren. — Übrigens rührt es mich, daß Ihr den 22. Mai gewählt habt: mir ist immer zu Muthe, als ob Du Dich, in allen möglichen Beziehungen, auf einen Fleck Erde niedergelassen und festgesetzt hast, wo ich einmal früher gesessen habe; alles, was Du thust, ist mir Erinnerung, Nachklang. Ich selber — ich bin schrecklich weit davon gelaufen, und habe Niemanden mehr, dem ich auch nur erzählen möchte, wohin. Glaube ja nicht, daß mein Sohn Zarathustra meine Meinungen ausspricht. Er ist eine meiner Vorbereitungen und Zwischen-Akte. — Verzeihung!
Gersdorff kommt den Sommer in die Schweiz, mit seiner kranken Frau (die Tuberkulose, unter uns gesagt) Lanzky schrieb, zu meinem großen Erstaunen, kürzlich einen großen Dankes-Brief hierher: wie ein ganz umgewandelter Mensch —, und ich soll daran Schuld sein! So sind die Bemühungen dieses Winters vielleicht doch nicht so umsonst gewesen, wie andre Bemühungen. — Ein alter Holländer aus Haarlem hat mir ein „Huldigungsschreiben“ geschickt: daß, nach dem Tode Schopenhauer’s, ich usw. — Die Leute wissen und riechen nicht genug, wohin es mit mir geht. Ich bin ein gefährliches Thier und eigne mich schlecht zum Verehrtwerden.
Die akad. Gesellsch. in Basel hat für 3 Jahre wieder die 1000 frs. Pension erneuert, insgleichen sind die 1000 frs. aus dem Heuslerschen fond, seitens der Universität-Regenz, mir auch wieder zuerkannt. Der Staats-Beitrag von 1000 frs. geht mit diesem Jahre (nicht schon mit dem Juni) zu Ende, und es ist kaum wahrscheinlich, daß er erneuert wird. Dies ist die „Sachlage“. —
Unsrer lieben Mutter habe ich gleich nach Empfang der schönen Sendung geantwortet; was für gute Hemden! Was für Honig! Danke ihr noch mals in meinem Namen. — Ich weiß nicht, wohin ich diesen Sommer gehe. Ein tiefer Wald wäre das Beste, aber es müßten heitere Menschen da sein, vor denen ich nicht auf der Hut zu sein noth habe. — Alles was für „Emancipation des Weibes“ schwärmt, ist langsam, langsam dahinter gekommen, daß ich „das böse Thier“ für sie bin. In Zürich, unter den Studentinnen, große Wuth gegen mich. Endlich! — Und wie viele solche „Endlichs“ habe ich abzuwarten! — —
In Liebe
Dein Bruder.
Ich habe schrecklich hier gewohnt, bin umgezogen, und nun ist’s noch schlimmer. Niemand sorgt für so etwas. Oh Genua! und Nizza!
Himmel! Ich muß doch selber die drei ersten Zarathustra’s haben! Also bitte, schicke mir umgehend die drei Hefte aus dem Naumburger Vorrathe. Du bekommst, wie gesagt, mein Exemplar.
601. An Carl von Gersdorff in Ostrichen
<Venedig, 9. Mai 1885>
Lieber alter Freund,
vor einigen Tagen habe ich ein Exemplar meines vierten und letzten Zarathustra an Dich auf die Post gegeben; hinterdrein beunruhigt mich die Vorstellung, daß das Kreuzband vielleicht nicht fest genug gewesen ist, und daß ich um keinen Preis ein Exemplar dieses ineditum in fremde Hände und unter falsche Augen gerathen lassen möchte. Sollte das Buch zur Stunde nicht eingetroffen sein, so thue, ich bitte Dich, Schritte bei der Post. Die Widmung des Exemplars an Dich steht auf der Titelblatt-seite außen: so daß eine Nachfrage Deinerseits Erfolg haben dürfte.
Das Zweite, was ich zu schreiben habe, ist die ganz unerwartet günstigere Gestaltung meines Prozesses contra Schmeitzner. Die Wahrscheinlichkeit ist in der That groß, daß ich, in zwei Monaten ungefähr, zu meinem Gelde komme; der Vater Sch<meitzner>’s ist als Bürge eingetragen u.s.w. In summa: daraus ergiebt sich die angenehme Möglichkeit, daß ich meinen Herrn Drucker in Leipzig selber bezahlen kann: ein etwas kostspieliger Scherz bleibt es, den ich mir nicht so leicht zum zweiten Male erlauben dürfte. Aber wie glücklich bin ich nun, etwas in den Händen zu haben, womit ich solchen Menschen, welche sich um mich „wohlverdient“ gemacht haben, auf meine Art eine Artigkeit erweisen kann! Zuletzt habe ich Dich noch zu bitten, mein lieber alter Freund Gersdorff, von diesem ineditum nicht zu sprechen. Overbeck bekommt ein Exemplar, ebenso Köselitz — ich habe Beide um dasselbe gebeten.
Ein schönes Motto aus einem alten Mysterium ist mir eingefallen:
„adventabat asinus
pulcher et fortissimus.“
Mit herzlichem Gruße, und in Betreff Deiner lieben Frau voll der aufrichtigsten Wünsche
Dein Freund
N.
Venezia, an der Rialtobrücke.
(Meine Adresse aber Venezia poste restante.)
601a. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Entwurf)
<Venedig, 20. Mai 1885>
Mein liebes Lama, für den Tag, welcher über Dein Lebensloos entscheidet, und zu dem Dir Niemand mehr als ich Glück und Gedeihen und gute Vorzeichen und guten Muth anwünschen kann — für diesen Tag muß ich mir selber eine Art Lebens-Abrechnung machen. [Ich vermuthe], daß Du jetzt ganz andre Sachen zunächst im Kopfe u. Herzen haben wirst als etwa die Sache Deines Bruders: und ebenso liegt es in der Natur daß Du mehr u. mehr die Denkweise Deines Gatte theilen mußt: welche nicht die meine ist, u. es viel weniger ist als Du [weißt]. Das Schlimme ist: ich habe bisjetzt, von Kindesbeinen an, Niemanden gefunden, mit dem ich dieselbe Noth auf Herzen und Gewissen hätte. Dies zwingt mich heute noch, wie zu allen Zeiten, mich so gut es geht mit im Grunde sehr viel schlechter Laune unter irgend einer der heute erlaubten Menschheits-Sorten zu präsentiren. Daß man eigentlich nur unter Gleich-Gesinnten gedeihen kann, ist mein Glaubenssatz: daß ich keinen habe ist mein Malheur, und ich bin nicht umsonst so tief krank gewesen und noch immer durchschnittlich krank. Meine Philologie in L<eipzig> u<nd> B<onn> war ein Versuch der Anpassung; meine Annäherung an W<agner> war eine Übereilung: die aber begreiflich für Jeden sein wird, der die Marter der Vereinsamung kennt: fast alle meine menschl<ichen> Beziehungen sind zuerst aus der Verzweiflung solcher Vereinsamungs-Gefühle entstanden: Malvida ebenso gut als Rée, Overbeck ebenso gut als Köselitz usw. mit denen ich eigentlich immer nur ein Eckchen und Fleckchen gemein habe.
Ich betrachte mich deshalb ganz u<nd> gar nicht als einen versteckten oder hinterhältigen u<nd> mißtrauischen Charakter: im Gegentheil sogar! man hat es eben nicht in der Hand, sich mitzutheilen wenn man auch noch so mittheilungslustig ist. sondern man muß Den finden, gegen den es Mittheilung geben kann. Stein hat mir deshalb gefallen, weil er mir direkt eingestand, daß er noch nichts von meinen eigentlichen Gedanken verstehe; das Gefühl, daß es da etwas sehr Fremdes u<nd> Fernes gebe, daß die Worte in meinem Munde einen anderen Sinn haben als in einem andren Munde — genau dies, was mir neuerdings von verschiednen Seiten bezeugt wird, ist noch der feinste Grad von Verständniß, welchen ich bisher gefunden habe. Alles, was ich bisher geschrieben habe, ist Vordergrund; für mich selber geht es immer erst los, wo meine Gedankenstriche beginnen.
Was ich mir früher unter dem Symbol des Dionysos gedacht habe, was ich jetzt langsam durch den Mund meines Z<arathustra> vorbereite, sind Dinge der gefährlichsten Art: daß ich dazwischen in populärer Weise Sch<openhauer>’s und W<agner>s den Deutschen anempfohlen habe und mich über die moderne Bildung lustig machte<,> gehört ganz in meine Vordergründe, es sind Erholungen für mich gewesen, aber zugleich Verstecke für mich, um mir gute Verborgenheit und Zeit zu schaffen.
602. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
Venezia 20 Mai 1885.
Mein liebes Lama,
für den Tag, welcher über Dein Lebensloos entscheidet (und zu dem Dir Niemand mehr als ich Glück und Gedeihen und gute Vorzeichen und guten Muth anwünschen kann) — für diesen Tag muß ich mir selber eine Art Lebens-Abrechnung machen. Von jetzt ab wirst Du ganz andre Sachen zunächst und zuvorderst in Kopf und Herzen haben als die Sachen Deines Bruders, und so soll es recht und billig sein — und ebenso liegt es in der Natur, daß Du mehr und mehr die Denkweise Deines Gatten theilen wirst: welche ganz und gar nicht die meine ist, so viel ich an ihr auch zu ehren und zu rühmen habe. Damit Du aber künftighin eine Art Direction hast, in wiefern die Beurtheilung Deines Bruders viele Vorsicht und vielleicht auch Schonung erfordert: schreibe ich es Dir heute, zum Zeichen großer Herzlichkeit, worin das Schlimme und Schwere meiner Lage liegt. Ich habe bisjetzt, von Kindesbeinen an, Niemanden gefunden, mit dem ich dieselbe Noth auf Herzen und Gewissen hätte. Dies zwingt mich heute noch, wie zu allen Zeiten, mich, so gut es gehn will, und oft mit sehr viel schlechter Laune unter irgend einer der heute erlaubten und verständlichen Menschheits-Sorten zu präsentiren. Daß man aber eigentlich nur unter Gleichgesinnten, Gleich-Gewillten gedeihen kann, ist mein Glaubenssatz (bis hinab zur Ernährung und Förderung des Leibes); daß ich keinen habe, ist mein Malheur. Meine Universitäts-Existenz war der langwierige Versuch der Anpassung an ein falsches Milieu; meine Annäherung an Wagner’s war dasselbe, nur in entgegengesetzter Richtung. Fast alle meine menschlichen Beziehungen sind aus den Anfällen des Vereinsamungs-Gefühls entstanden: Overbeck, so gut als Rée, Malvida so gut als Köselitz — ich bin lächerlich-glücklich gewesen, wenn ich mit Jemandem irgend ein Fleckchen und Eckchen gemein fand oder zu finden glaubte. Mein Gedächtniß ist überladen mit tausend beschämenden Erinnerungen, in Hinsicht auf solche Schwächen, in denen ich die Einsamkeit absolut nicht mehr ertrug. Mein Kranksein hinzugerechnet, welches immer die schauerlichste Entmuthigung über mich bringt; ich bin nicht umsonst so tief krank gewesen und noch jetzt durchschnittlich krank — wie gesagt, weil es mir am rechten milieu fehlt und ich immer etwas Komödie spielen muß, statt mich an den Menschen zu erholen. — Ich betrachte mich deshalb ganz und gar nicht als einen versteckten oder hinterhältigen oder mißtrauischen Menschen; im Gegentheil! Wäre ich’s, so würde ich nicht so viel leiden! Man hat es aber nicht in der Hand, sich mitzutheilen, wenn man auch noch so mittheilungslustig ist, sondern man muß den finden, gegen den es Mittheilung geben kann. Das Gefühl, daß es bei mir etwas sehr Fernes und Fremdes gebe, daß meine Worte andere Farben haben als dieselben Worte in andern Menschen, daß es bei mir viel bunten Vordergrund giebt, welcher täuscht — genau dies Gefühl, das mir neuerdings von verschiedenen Seiten bezeugt wird, ist immer noch der feinste Grad von „Verständniß“, den ich bisher gefunden habe. Alles, was ich bisher geschrieben habe, ist Vordergrund; für mich selber geht es erst immer mit den Gedankenstrichen los. Es sind Dinge gefährlichster Art, mit denen ich zu thun habe; daß ich dazwischen in populärer Manier bald den Deutschen Schopenhauern oder Wagner’n anempfehle, bald Zarathustra’s ausdenke, das sind Erholungen für mich, aber vor Allem auch Verstecke, hinter denen ich eine Zeit lang wieder sitzen kann.
Halte mich deshalb mein liebes Lama nicht für toll, noch für ausgesucht-schlecht, und vergieb es mir insbesondre, daß ich nicht bei Deinem Feste zugegen bin: so ein „krankhafter“ Philosoph gäbe einen schlechten Brautvater ab! Mit tausend zärtlichen Wünschen
Dein F.
603. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Telegramm).
<Venedig, 22. Mai 1885>
Mit innigen Segenswünschen gegenwärtig Euer Fritz
603a. An Luise Röder-Wiederhold
Venedig den 28. Mai 1885.
Hochverehrte Frau,
es unterliegt gar keinem Zweifel, daß ich irgendworüber nicht hinreichend unterrichtet war, als ich Ihnen meinen Vorschlag zu machen wagte: – im andern Falle würde ja mein Brief etwas ganz Unziemliches sein.
Trotzdem scheint es mir, daß der ausgezeichnete maëstro wegen dieser „Unterlassung“ weder Strafe noch Vorwurf verdient. Er hat sehr menschlich, zum mindesten sehr natürlich gehandelt: naturalia aber, wie sogar das Volk weiß, non sunt turpia.
Ich bin und verbleibe, hochverehrte Frau, Ihr ergebenster Diener
Prof. Dr. Nietzsche
604. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Venedig, Ende Mai 1885>
Meine liebe gute Mutter,
es ist mir nicht viel anders zu Muthe gewesen, diese ganze Zeit über, als Dir; die ganze Sache gieng mir durch und durch.
Und da Dein Sohn eine schlechte Gesundheit hat, so war er folglich immer krank; dieser Frühling ist einer der melancholischsten Frühlinge meines Lebens. Es fehlt mir hier an Abziehung und an theilnehmenden Menschen: an Herrn K<öselitz> nehme ich den wärmsten Antheil, aber zu einem Verkehre mit mir ist er nicht gemacht, noch weniger dazu, etwas für einen Halbblinden Vorsorge zu haben. Für den Tag der Hochzeit hatte ich das Glück, daß eine Baseler Familie, welche mir von Nizza aus bekannt ist, mit mir eine Ausfahrt nach dem Lido machte; die Nöthigung, mit wohlwollenden halbfremden Menschen zu reden, war mir eine wahre Erleichterung.
Vielleicht ist Alles so, wie es gekommen ist, in Ordnung; auch haben wir Beide (ich meine Dr. Förster und mich) uns bisher schicklich genug und mit sehr viel gutem Willen benommen. Die Sache ist aber gefährlich, und wir wollen etwas auf der Hut sein; für meinen persönlichen Geschmack ist ein solcher Agitator zum näheren Verkehre etwas Unmögliches. Er selber hat wohl das gleiche Gefühl: er schrieb zuletzt an mich „Ob eine persönliche Begegnung vor unserer Abreise uns dauerndes Behagen zurücklassen würde, wage ich zu bezweifeln“. Du verstehst.
Ich verstehe die Gestaltung seiner Zukunft nicht, und ich für meine Person bin sogar zu aristokratisch gesinnt, um mich dermaaßen mit 20 Bauernfamilien rechtlich und gesellschaftlich auf gleichen Fuß zu stellen: wie er es im Programm hat. In solchen Verhältnissen bekommt der, welcher den stärksten Willen hat und am klügsten ist, das Übergewicht; gerade zu diesen beiden Qualitäten sind deutsche Gelehrte schlecht präparirt. Pflanzen-Nahrung wie Dr. F<örster> sie will, macht solche Naturen nur noch reizbarer und verstimmbarer. Man sehe sich doch die „fleischfressenden“ Engländer an: das war bisher die Rasse, welche am besten Colonien gründete. Phlegma und Rostbeef — das war bisher das Recept für solche „Unternehmen“.
Was mit mir für diesen Sommer wird, weiß ich immer noch nicht. Wahrscheinlich das alte Sils-Maria: ob ich gleich von allen meinen dortigen Aufenthalten eine schauerliche Erinnerung habe. Ich war immer krank, hatte keine Nahrung, die gerade mir Noth thut, langweilte mich unerhört, aus Mangel an Augenlicht und Menschen — und kam immer in einer Art Verzweiflung in den September hinein. Dies Mal habe ich eine alte Dame in Zürich eingeladen, dorthin zu kommen; noch habe ich keine Antwort. Die jungen Damen, alles wenigstens, was um Malvida von Meysenbug herum wächst, ist nicht nach meinem Geschmack; und ich habe die Lust verloren, bei diesem halbverrückten Volke meine Unterhaltung zu suchen. Ich würde sogar den Umgang mit deutschen Professoren vorziehn: die haben wenigstens alle etwas Rechtschaffnes gelernt, und folglich kann man was bei ihnen lernen.
Mit den Augen steht es täglich schlimmer; und, ohne daß mir Jemand zu Hülfe kommt, bin ich am Ende des Jahrs wahrscheinlich blind. So will ich denn schließen, ich sollte gar nicht lesen und schreiben: aber man hält’s nicht aus, wenn man ganz allein ist.
Mit alter Liebe
Dein Sohn.
NB. Es ärgert mich immer, daß meine dumme Gesundheit und Dein Naumburg und Haus sich nicht mit einander vertragen wollen. Es wäre mir keine kleine Wohlthat, wenn Du bei mir sein könntest.
Venezia (Italia) (poste restante)
605. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
Venedig, 5. Juni 1885
Eben, meine liebe Mutter, erhalte ich Deinen Brief: ich las ihn nicht ohne Rührung. Meine Augen sind im schlimmsten und gefährlichsten Zustande, es ist absolut jetzt unerlaubt, zu schreiben, sonst würde ich gern Dir antworten, ebenso den Tautenburgern, an welche ich oft und mit Herzlichkeit denke. Morgen Abreise nach Sils-Maria. Ein Wiedersehn in diesem Jahre möchte ich nicht verschwören, aber es muß sich erst Manches entscheiden, ehe ich’s versprechen könnte.
In Liebe
Dein F.
605a. An Heinrich Köselitz in in Venedig
(Sils-Maria, vermutlich Anfang Juni 1885)
Endlich, nach vieler Geduld, bin ich doch der Inconvenienzen meines Venediger Aufenthaltes überdrüssig geworden: in der That habe ich alles dort anders gefunden als ich wünschen mußte, — abgerechnet Ihre Musik.
606. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Sils-Maria Freitag.<26. Juni 1885>
Meine liebe Mutter,
Dein Brief mit den vielen hübschen kleinen Sachen hat mir großes Vergnügen gemacht; er gab mir eine gute Vorstellung von dem Befinden und neuen Leben unsrer Lisbeth. Inzwischen habe ich selber ein paar Worte an sie und ihren Gatten geschrieben; hoffentlich ist’s freundlich aufgenommen worden — ich gestehe, daß ich Schwierigkeiten habe, mich mit dieser Thatsache von Ehe und Auswanderung zu vertragen. Zuletzt bin ich nicht nur in diesem Falle, sondern bei Allem beinahe, was die Menschen gegenwärtig treiben, verwundert, und außer Stande, dazu „Ja“ oder „Nein“ zu sagen. Mögen Sie es „besser wissen“, was ihnen gut thut! — Dieser Sommer ist bisjetzt der heißeste, dessen man sich im Engadin erinnert: was mich für Euer Wohlbefinden in den Ebenen fürchten macht. Ich vertrage keine Hitze mehr, nachdem ich mir Jahre lang eine Art von mildem Winter fast für alle Jahreszeiten hergerichtet habe. Sils-Maria ist vielleicht zum letzten Male mein Aufenthalts-Ort: es fehlt mir an Schatten, und im Hause fehlt Alles das, was ich gern habe: ein hohes Zimmer, ein bequemer Lehnstuhl, Licht ohne direkte Sonne und ebenso ohne Reflex-licht weißer Häuserwände: — ich habe von Allem was ich brauche, das extreme Gegentheil. Mit dem Magen steht es ein wenig besser, seit ich nur noch zartes Fleisch und Milchreis zu mir nehme, und ich hoffe es mit dieser Diät noch vorwärts zu bringen. Sehr wohl that mir bisher die Nähe einer trefflichen alten Dame, Frau Röder-Wiederhold aus Zürich; bisher habe ich fast jeden Tag ihr 3 Stunden diktirt. Aber ihre Zeit ist nun bald vorbei, und dann bin ich wieder mir selber überlassen. Mit den Augen verhalte ich mich ähnlich, wie Du es mir anräthst. Übrigens hatte ich eine große Gesammt-Consultation über meine Gesundheit mit einem alten Arzte und Freunde des bekannten Dr. Schweninger aus München (der, wie Du wissen wirst, der Arzt Bismarck’s ist) Sein Scharfblick war, nach 1 1/2 tägigem Zusammensein mit mir, für mich überraschend; seine Vorschläge der Kur (mit Beiseitelassung aller Medizin) haben sich aber nicht bewährt. In Betreff der Nahrung hat er mir geradezu genau dasselbe verboten, was ich mir, auf Grund langer Beobachtung jetzt selber verbiete (und ohne daß er von Letzterem eine Ahnung hatte), nämlich Kartoffeln, Kohl, Blumenkohl, Essig, Senf, Pfeffer, Schwarzbrod, Zwiebel, Saucen, alle Suppen, Würste, Käse, alle Liqueure und starken Alcoholica. Ich bin im Grunde sehr einfach zu ernähren: nur gerade in Deutschland nicht, wo man nicht versteht, mir mein Fleisch auf dem Rost zu braten. Eier, Reis, Gries, Milch usw., vor Allem aber gutes Fleisch.
Verzeihung für diese Details. — Einstweilen glaube ich nicht um Nizza herumzukommen, es ist der einzige Ort, der mir den Stoffwechsel so anregt, daß ich mich im Kopfe frei fühle; das Umgekehrte geschieht an Orten mit Luft-Feuchtigkeit und viel Gewölk. Deshalb ist Deutschland im Ganzen, und unser Naumburg im Besonderen, mir unzuträglich. Nizza und Oberengadin sind vielleicht im ganzen Europa die stimulantesten Climata, Dank der trocknen Luft. Warum ist mein System so träge, daß es immer nur mit der größten Noth arbeitet? In Venedig habe ich zuletzt auch die leichteste Mahlzeit nicht mehr zu Ende bringen (verdauen) können. Andrerseits braucht ein Gehirn, wie das meine, eine sehr starke Ernährung: — und ich habe Jahrelang an unzureichender Ernährung gelitten, weil ungünstiges Clima (wie das Basel’s) mir die Schwierigkeit vermehrte. Die herzlichsten Grüße und Wünsche an Dich und Deine „Nächsten“!
Dein F.
Bitte, etwas Honig! Eigentlich gehört’s jetzt zur Tradition meines Aufenthalts hierselbst. Und ein Paar waschlederne gelbe Handschuhe, wie ich sie gern habe!
Ich erwarte die alte Russin Excellenz von Mansuroff, auch meine zwei Engländerinnen wieder. General Simon und Tochter sind in der Nähe von St. Moritz.
Bitte etwas Hübsches für die kleine Adrienne!
607. An Resa von Schirnhofer in Paris
Sils-Maria im Oberengadin. Juni 1885.
Mein verehrtes Fräulein,
Sie haben mir wieder mit Ihrem Brief eine angenehme Überraschung gemacht, beinahe war’s ein Besuch in Sils-Maria. Im Grunde würden Sie selber sich vielleicht hier oben jetzt wohler fühlen als in den heißen Ebenen und Städten; und sollten Sie den alten Einsiedler hier oben, gemäß dem schönen Präcedenz-Falle von 1884 mit einem mehr als brieflichen Besuche auszeichnen, so verspricht er Ihnen, daß er bei besserer Laune und Gesundheit sein will als voriges Jahr. Einstweilen habe ich die treffliche Frau Röder-Wiederhold im Hause; sie erträgt und duldet „engelhaft“ meinen entsetzlichen „Antidemocratismus“ — denn ich diktire ihr täglich ein paar Stunden meine Gedanken über die lieben Europäer von heute und — Morgen; — aber zuletzt, fürchte ich, fährt sie mir doch noch „aus der Haut“ und fort von Sils-Maria, getauft wie sie ist, mit dem Blute von 1848. — Auch steht es ganz schlimm mit meinen Ansichten über das „Weib an sich“. Genug, ich argwöhne, daß es Niemand lange mehr um mich aushält. Obwohl es viele Gründe gäbe, mir „gute Gesellschaft“ zu wünschen. Ah, wer kennt meine „sieben Einsamkeiten“! —
Schade, daß Sie Paul Bourget nicht kennen lernen! Ich meine, das wäre ein feines Fühlhorn für Alles, was jetzt in Frankreich noch „fein“ ist. Ich las: in Vorbereitung nouveaux essais de psychologie contemporaine von Paul Bourget. Paris, Alphonse Lemerre, éditeur, 27—31 Passage Choiseul. Sie würden mich beglücken, wenn Sie mir meldeten, sie seien erschienen.
Sagen Sie unserer ehrwürdigen Malvida etwas zu Gunsten Ihres Einsiedlers: ich glaube, daß ich sie diesen Winter einmal angebrummt habe. Ebenso wünsche ich der ausgezeichneten Kameradin Ihrer Zürcher Studentenzeit, Frl. Wildenow, allerbestens empfohlen zu sein.
Mit ergebenstem Gruße
Ihr N.
Und die Doctor-Dissertation? Welches Thema? —
Ihr Verhalten gegen Frl. Sal<is> ist excellent.
— „Phädra“ gelesen? Nein. — An Monods die besten Grüße.
608. An Heinrich Köselitz in Venedig
Sils-Maria Oberengadin 2 Juli 1885.
Lieber Freund,
inzwischen habe ich über Sie durch Frau Röder Dinge gehört, zu denen ich gerne meinen Glückwunsch schicken möchte. Der Gedanke an Wien gilt mir in Bezug auf Ihre Musik, wie Sie es wissen, als der eigentliche „Vernunftgrund“ — in hoc signo vinces, das ist auch heute noch mein Glaube. Wie dumm, daß ich unnützer Mensch nicht einmal dazu dienen kann, ein wenig die Brücke zwischen Venedig und Wien zu machen!
Theilen Sie mir etwas über Ihre neue Musik mit, auch, wie sich der Schluß der Sinfonia ungherese gestaltet hat. Und um welche Zeit des Jahres Sie gedenken, Ihr Schiff auslaufen zu lassen. Alles geht mich so nahe an, — ich wünschte, ich hätte ein Paar Menschen mehr, deren Thun und Lassen mich so nahe angienge wie Ihr Thun und Lassen. Das Letztere sage ich ironice: der Himmel segne Sie dafür, daß Sie hübsch in Ihrem Geleise bleiben und nicht zu viel nach fremdem Rathe hinhorchen.
Ihre treffliche Frau Röder bemüht sich erstaunlich, mir über die Schwierigkeiten meines allzu vereinsamten Lebens hinwegzuhelfen. Doch glaube ich, daß sie zu sehr mit dem „Blute von 48“ getauft ist, als daß sie, in Bezug auf mich, mehr thun könnte als die „allerbeste Miene machen.“ In der Hauptsache mag es ein „böses Spiel“ sein; nun, in der nächsten Woche ist sie davon erlöst. Sie sind bei weitem der liebste Gegenstand unsrer Unterhaltung; und, was Sie auch denken mögen, Ihr Züricher Winter hat Ihnen eine sehr zugethane und rücksichtenreiche Freundin geschenkt.
Meine Gesellschaft vom vorigen Sommer ist auch wieder da, und mir zugethaner als je, die beiden Engländerinnen, welche mir den Genuß distinguirter Lebensformen geben, und die alte russische Hofdame (und Schülerin Chopin’s): noch im letzten Monat hat sie eine Fuge componirt, die keinen „Spaaß versteht“.
— Die letzte Nacht an der Rialtobrücke brachte mir noch eine Musik, die mich zu Thränen bewegte, ein unglaubliches altmodisches Adagio, wie als ob es noch gar kein Adagio vorher gegeben habe.
Mit tausend guten Wünschen
Ihr Freund N.
Ich erwarte auch, aus Paris, das Frl. von Schirnhofer.
609. An Franz Overbeck in Basel
(2. Juli) Sils-Maria, Oberengadin. <1885>
Lieber alter Freund Overbeck,
es beunruhigt mich, nichts von Dir zu hören; und zum Mindesten will ich wünschen, daß Deine Gesundheit nichts mit diesem Schweigen zu thun hat — obwohl die Hitze dieses Jahres und ebenso die Erinnerung an die schlechte lähmende Luft Basels, wie ich sie im vorigen Juni wieder kennen gelernt habe, mir auch nach dieser Seite hin besorgliche Gedanken eingiebt. Als ich hier oben ankam, war eine meiner ersten Handlungen, nach Deinem „Teichmüller“ zu suchen; leider ergab er sich als absens — woraus folgt, daß er in der Nizza-Bücherkiste steckt: was ich hiermit, zu meinem großen Bedauern, Dir melde. Dagegen habe ich hier, aus Deinem Bücherschatze, den Mainländer. Großen Dank noch für die Übersendung des Dürers an meine Angehörigen: man hat mir so sehr dafür gedankt, daß ich glauben muß, damit weit über den Begriff „Hochzeitsgeschenk“ hinausgeschossen zu haben. Möge aber die Zukunft des jungen Paars sich tröstlicher und hoffnungsvoller gestalten als dies unheimliche Bild zu verstehen giebt! Unter uns, ich habe viele Besorgnisse auf dem Herzen —, allerdings auch einige sonderbare Wünsche, gerade was diese neue Welt in Paraguay betrifft. Es kann im Handumdrehen jetzt für mich Europa unmöglich werden; und siehe da, vielleicht findet sich dort in der Ferne auch für einen solchen verflogenen Vogel, wie ich es bin, ein Ast. (Wie geschrieben steht: „so häng ich denn auf krummem Aste“ usw.)
Hier oben habe ich wieder die gleiche, mir sehr zugethane Gesellschaft des vorigen Jahres; zwei sonst in Genf lebende distinguirte Engländerinnen und jene alte Dame vom russischen Hofe, von der ich schrieb, daß sie eine der nächsten Schülerinnen Chopin’s ist: — ihr Verhältniß zur Musik ist kein Spaaß, noch im letzten Monate hat sie eine tüchtige strenge Fuga componirt. Nun ist in meiner Gesellschaft eine deutsche Dame aus Meiningen, welche auf eine briefliche Einladung meinerseits hierher gekommen ist und mir, durch Vorlesen und Nachschreiben, mit großer Güte entgegenkommt: leider ist nächste Woche ihre Zeit zu Ende. Was die Augen betrifft, so ist mein Zustand jetzt von dem Dührings wenig verschieden; dieses plötzliche reißend schnelle Verschwinden des Augenlichtes vom vorigen Sommer an bis jetzt gehört zu den Dingen, wofür ich die Gründe nicht weiß. Die Jodsalbe, welche Schiess verordnete, war wirkungslos. — Ich habe fast jeden Tag 2—3 Stunden diktirt, aber meine „Philosophie“, wenn ich das Recht habe, das, was mich bis in die Wurzeln meines Wesens hinein malträtirt, so zu nennen, ist nicht mehr mittheilbar, zum Mindesten nicht durch Druck. Mitunter sehne ich mich darnach, mit Dir und Jakob Burckhardt eine heimliche Conferenz zu haben, mehr um zu fragen, wie Ihr um diese Noth herumkommt als um Euch Neuigkeiten zu erzählen. Die Zeit ist im Übrigen grenzenlos oberflächlich; und ich schäme mich oft genug, so viel publice schon gesagt zu haben, was zu keiner Zeit, selbst zu viel werthvollern und tiefern Zeiten, vor das „publicum“ gehört hätte. Man verdirbt sich eben den Geschmack und die Instinkte, inmitten der „Preß- und Frechheits-Freiheit“ des Jahrhunderts; und ich halte mir das Bild Dante’s und Spinoza’s entgegen, welche sich besser auf das Loos der Einsamkeit verstanden haben. Freilich, ihre Denkweise war, gegen die meine gehalten, eine solche, welche die Einsamkeit ertragen ließ; und zuletzt gab es für alle die, welche irgendwie einen „Gott“ zur Gesellschaft hatten, noch gar nicht das, was ich als „Einsamkeit“ kenne. Mir besteht mein Leben jetzt in dem Wunsche, daß es mit allen Dingen anders stehn möge, als ich sie begreife; und daß mir Jemand meine „Wahrheiten“ unglaubwürdig mache. — —
Von meiner Mutter erhielt ich die besorgte Meldung, daß Schmeitzner bisher nicht gezahlt hat: es wäre schrecklich, wenn der Prozeß weiter gehn, resp. die Subhastation usw. beantragt werden müßte. Der Juni war der festgesetzte Termin der Zahlung. Mein Onkel, der die ganze Sache übernommen hatte, liegt auf den Tod krank.
Bitte, sende mir wieder 500 frs hier herauf. Deiner vortrefflichen Frau mich herzlich anempfehlend in alter Liebe Dein
F. N.
610. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Sils-Maria, 4. Juli 1885>
Lieber Freund,
klassisches Beispiel von Briefe-Kreuzung: die 2 Posten müssen sich, eine Stunde von Sils entfernt, begegnet sein. Ich hoffe, daß mein Brief auf alle Deine Fragen Antworten bringt. — Von der „Gesundheit“ habe ich nichts geschrieben, abgesehn von den Augen; es ist gar nichts Befriedigendes zu melden, und oft fängt es bei mir an, an Geduld für das ewige „Geduld-habensollen“ zu fehlen. Venedig war im Ganzen eine Quälerei für mich; Resultat viel Melancholie und Mißtrauen gegen alles Unternommene. Hier oben geht es ein wenig besser. Kranken-Kost, wesentlich Milch. Über Gersdorff ohne Nachricht.
Deiner lieben Frau Besserung und Ent-Baselung „so bald wie möglich“ wünschend Dein alter Freund
N.
611. An Elisabeth Förster in Tautenburg
Sils-Maria 5. Juli 1885. (Montag.)
Mein liebes Lama
zuletzt nämlich bleibt mir das Vorrecht, Dich so zu benamsen, denn ich höre, daß Dein Gatte Dich anders anredet (allerdings ebenfalls hebräisch, was mich bei einem alten Antisemiten wunder nimmt: Eli bedeutet „mein Gott“ und wahrscheinlich, im besonderen Falle „meine Göttin!“) Genug, ich wünsche von ganzem Herzen, daß Dich die Menschen auch fürderhin mit hübschen Namen anreden, sei es nun deutsch oder hebräisch oder paragyaisch: ebenfalls „daß es Dir wohlgehe und Du lange lebest auf Erden“: nämlich alle, welche mir bisher bekannt worden sind als Colonisten Südamerika’s (ich lebte in Rapallo und S. Margherita unter solchen), waren dort reich geworden und hatten nicht nur ihr „Schäfchen“, sondern ein tüchtiges Schaf über’s Meer „in’s Trockne“ gebracht, nämlich in ihre alte genuesische Heimat. Nach diesen sehr weltlichen Wünschen blieben mir noch genug irdische, ja sogar ganz persönliche und geschwisterliche übrig: aber — es will mir Vieles nicht mehr über die Lippen, geschweige denn über eine solche verfluchte kritzliche Schreibefeder. Jedes geschriebene Wort ist vieldeutig, mißverständlich, eines Commentars durch Blicke und Händedrücke bedürftig. Wie viel Dummheiten macht man, wenn man schreibt, was man wünscht! Wie viel dumme Briefe habe ich schon geschrieben! Es lebe die Weisheit meiner Augen, welche mich immer mehr aus einem Schreibethier in ein Schweigethier verwandelt! —
Morgen geht Frau Röder fort, und ich bin wieder allein in dieser erbärmlichen Hütte, welche mir so wider den Geschmack geht, leider auch wider die Gesundheit. Vielleicht kommen die Züricher Mädchen, welche Du kennst, etwas zu dem Einsiedler herauf, nämlich Frl. Wildenow und Frl. Blum. Übrigens gelte ich, in den Studentinnen-Kreisen, als das „böse Thier“ — es scheint, daß eine gewisse Anspielung auf ein lärmmachendes und klatschendes Instrument geradezu bezaubernd gewirkt hat! Wenn Du übrigens vielleicht noch nach München kommen solltest, so sieh Dir zwei dort lebende Mädchen an, von welchen die treffliche Frau Röder mit Bewunderung redet: Frl. von Rantzau und Frl. von Alten — sie leben zusammen. (Dagegen ist die Abneigung gegen Frl. von Salis überall sehr stark, seltsamer Weise, nicht nur bei Frau R<öder> sondern auch bei Köselitz und Frl. von Schirnhofer, — mir selber war sie gar nicht so unsympathisch, vor allem, weil sie gute Manieren hochschätzt, und, wenn auch etwas schweizerisch-steif, selber übt: etwas, das in diesem Pöbel- und Bauern-Zeitalter mir mehr gilt als „Tugend“, „Geist“ und „Schönheit“.) Eine sehr leidende alte Engländerin, von der ich wohl schon im Herbste erzählte, macht mir nach dieser Seite hin Vergnügen; und wenn Du irgend ein Wunderthier von Elégance des Geistes und der Gebärden noch entdeckst, meine liebe Schwester, so melde mir’s: Dein Bruder hat wenig Dinge übrig, die ihm noch Vergnügen machen.
Wie steht der Fall Schmeitzner? Es versteht sich, daß, sobald sein Geld „im Kasten klingt“, es auch zu Jedem springen soll, der etwas davon haben will: sage das, bitte, ausdrücklich unsrer lieben Mutter! — Und wie steht es mit Onkel Bernhard? — Für die Versprechungen auf der letzten Karte meinen besten Dank! — Mit der Gesundheit will es nicht von der Stelle, doch sagt man mir, daß ich besser aussehe als vor 4 Wochen. Milchdiät. Grüße mir meinen Herrn Schwager auf das Angelegenste und behaltet zusammen, wenn Ihr Euch lieb habt, mir irgend ein Winkelchen des Herzens vor!
In Liebe Dein Fritz.
611a. An Louise Röder-Wiederhold
Sils-Maria, 12. Juli 1885.
Verehrte Frau,
wie angenehm, daß man noch in seinem vierzigsten Lebensjahre, unvermuthet und unverdientermaßen, zu neuen „Tanten“ kommen kann! —
Kaum waren Sie abgereist, so nahm ich mir die Erlaubniß, krank zu werden, und so ordentlich krank (mit wüthenden Kopfschmerzen und Erbrechen Tag und Nacht) daß ich, im wörtlichsten Sinne des Worts, erst heute morgen — Sonntag — wieder fähig bin, eine Feder zu führen; gestern bin ich erst vom Bett aufgestanden. Die Feder zu führen – nicht mehr! noch nicht die Gedanken! Aber ein Zeichen von mir und meines herzlichen Gefühls für Sie soll heute morgen noch zur Post, schon damit Sie nicht glauben, ich ahme die Züricher Studentinnen nach: in der That ist inzwischen nichts Briefliches an Sie eingetroffen. Alle Welt schweigt: glauben Sie mir, die Hitze „unterbindet die Blutadern aller Pflichten“, um mich mit einem medizinischen Gleichniß auszudrücken. Mein Verleger z. B. hat den Monat Juni verstreichen lassen, ohne zu zahlen: hoffentlich kommt endlich kühles Wetter und damit „Pflicht“ und „Geld“ zum Vorschein. Auch der Churer Schneider hat sein Ihnen gegebnes Versprechen nicht gehalten; doch kam eine entschuldigende Karte. Die Schreibebücher gefallen mir; und in summa hat die Tante sich in Chur viel Noth gemacht! —
Frl. v. Schirnhofer sendet Ihnen ihre Grüße, sie geht an den atlantischen Ozean, um sich zu erholen. Insgleichen grüßt auf das artigste unser maestro in Venedig: in einem Briefe, welcher von lauter mißrathnen Dingen erzählte und zuletzt den sehr energischen Entschluß ausdrückte, in einer Hauptstadt Europa’s es durchzusetzen, daß man seine Sache anhöre. Er will im Herbst nach Berlin. Man hat ihm von Wien aus eine Empfehlung für das Carlsruher Theater (u. Mottl) angeboten, doch scheint er gegen Carlsruhe eingenommen zu sein (er hat den Wiener Brief nicht beantwortet (derselbe rieth von Wien ab) Sonderbarer Weise kam Carlsruhe noch ein Mal dieser Tage in Erwägung: man empfiehlt mireinen Verleger: H. Reuther (Carlsruhe u. Leipzig) mit den Worten: „ein muthiger anständiger leistungsfähiger Verlag“. Wissen Sie etwas diesen Worten beizufügen? —
Mehr darf ich nicht schreiben. Erzählen Sie mir von Wolfsburg; auch ein alter Wunsch nach Hohenschwangau ist in mir wieder aufgetaucht.
Behalten Sie ein gutes Gedächtniß für diesen Sommer und den tollen Menschen, der so unvermuthet Ihnen über den Weg gelaufen ist — — —
Sehr dankbar, sehr ergeben
Nietzsche.
612. An Franz Overbeck in Basel
<Sils-Maria, 13. Juli 1885>
Mein lieber Freund,
das Geld ist in meinen Händen: was für Umstände habe ich Dir gemacht! — Ich erhebe mich eben von einem ganz schlimmen Anfalle, der fast die vorige ganze Woche eingenommen hat. — Solche Dinge von sich fordern, wie ich es thue — und eine solche Gesundheit! Und zuletzt habe ich in den letzten 10 Jahren doch Einiges durchgesetzt.
— Ein Brief von Köselitz, den ich Dir durchaus mittheilen muß, weil ich Deinen Rath brauche, wirft mich ganz um. Daß man gar nichts machen kann! Oder was könnte ich noch machen? Ich weiß zu gut, daß auf persönlichem Wege Alles zu erreichen ist, daß aber, ohne „Connexion“ und thätige Freunde, der beste Künstler verlornes Spiel spielt: gerade das Seltene und Außerordentliche seines Werks steht ihm im Wege! —
Seit 4 Jahren hat K<öselitz> von außen her nichts als Zurückweisungen und Demüthigungen erfahren: ausgenommen die kleine Züricher Episode. (Seltsam, daß dieselbe Zeitung des Dr. Curti, welche sich ehemals meiner politischen Ansichten anzunehmen verstanden hat, über die Löwen-Ouvertüre tiefe feine und grundsätzliche Sachen geäußert hat, welche wie Prophezeiungen klangen: und Niemand weiß, wer der Verfasser ist!)
Zuletzt thut K<öselitz> das, was mir im Frühjahr das Rathsamste schien: er wendet sich an Ries. Aber es scheint mir, er thut es auf eine Weise, um lauter negative Antworten sich zu erzwingen! — —
Meine „Gesellschafterin“ ist abgereist, seit einer Woche. Ich habe ihr etwas diktirt, was ungefähr eine fünfte Unzeitgemässe Betrachtung zu nennen wäre. Doch war es mehr, um mir etwas Luft zu machen.
Wenn Du mich inmitten meiner Bücher hocken sähest! Und was für Bücher! Eigentlich habe ich erst in den letzten 10 Jahren mir Kenntnisse verschafft; von der Philologie her lernte ich im Grunde nur Methoden (denn den furchtbaren antiquarischen Krimskrams mußte ich wieder wegschaffen, gleichsam „ausmisten“). Nun aber sagen die Augen wiederum auf das Bestimmteste, daß das Kenntnisse-sammeln, soweit es von Büchern abhängt, seine Zeit gehabt hat. Das Durchdenken der principiellen Probleme, das unwillkürlich den Inhalt meiner Engadiner Hochgebirgs-Sommer ausmacht, bringt mich immer wieder, trotz der verwegensten Angriffe von Seiten meines innewendigen „Sceptikers“ auf dieselben Entscheidungen: sie stehen schon, so verhüllt und verdunkelt als möglich in meiner „Geburt der Tragödie“, und alles, was ich inzwischen hinzugelernt habe, ist hineingewachsen und ein Theil davon geworden.
Übrigens ist es mein letzter Sommer in Sils. Die Augen commandiren auch hierin, ich halte es in der Helle nicht mehr aus. In allen sonstigen Beziehungen lebe ich hier oben wie ein Ascet, der alles um sich herum gerade so hat, wie es ihm am unangenehmsten ist: die Natur abgerechnet und die zuträgliche trockne Luft.
Dein Freund und Einsiedler
N.
— Wo werdet Ihr im Sommer sein, bevor Du nach Dresden gehst?
613. An Heinrich Köselitz in Venedig
Sils-Maria Oberengadin 23 Juli 1885.
Lieber Freund,
darauf hätte ich wetten mögen, daß Sie auf Ihren „Nothschrei“-Brief in dieser Weise selber antworten würden, wie es heute durch Ihre Karte geschieht — zu meiner großen Freude, wie ich gerne eingestehe. Aus meinem eignen Briefschreibe-leben kenne ich das Phänomen nur zu gut, daß man eine Dummheit und noch dazu eine Unzartheit begeht, wenn man, als Adressat eines Briefs, durch eine geschwinde Beileids-Bezeugung sich zwischen diese natürliche „Auslösung“ (Herstellung der persönlichen Souverainetät) drängt. Ecco! Geredet wie ein Pedant! — aber gefühlt wie ein Freund, glauben Sie’s mir! —
Ich notirte mir gestern, zur eigenen Bestärkung auf dem einmal eingeschlagnen Wege des Lebens, eine Menge Züge, an denen ich die „Vornehmheit“ oder den „Adel“ bei Menschen herauswittere — und was, umgekehrt, Alles zum „Pöbel“ in uns gehört (In allen meinen Krankheits-Zuständen fühle ich, mit Schrecken, eine Art Herabziehung zu pöbelhaften Schwächen, pöbelhaften Milden, sogar pöbelhaften Tugenden — verstehen Sie das? Oh Sie Gesunder!) Vornehm ist z. B. der festgehaltene frivole Anschein, mit dem eine stoische Härte und Selbstbezwingung maskirt wird. Vornehm ist das Langsam-Gehen, in allen Stücken, auch das langsame Auge. Wir bewundern schwer. Es giebt nicht zu viel werthvolle Dinge; und diese kommen von selber und wollen zu uns. Vornehm ist das Ausweichen vor kleinen Ehren, und Mißtrauen gegen den, welcher leicht lobt. Vornehm ist der Zweifel an der Mittheilbarkeit des Herzens; die Einsamkeit, nicht als gewählt, sondern als gegeben; die Überzeugung, daß man nur gegen Seines-Gleichen Pflichten hat und gegen die Andern nach Gutdünken verfährt; daß man sich immer als Einen fühlt, der Ehren zu vergeben hat, und selten Jemandem zugesteht, daß er Ehren gerade für uns auszutheilen habe; daß man fast immer verkleidet lebt, gleichsam incognito reist, — um viel Scham zu ersparen; daß man zum otium fähig sei, und nicht nur fleißig wie Hühner: — gackern, eierlegen und wieder gackern und so fort. Und so fort! alter Freund, ich ermüde Ihre Geduld, aber Sie errathen gewiß, was mir an Ihrem Leben gefällt und Freude macht, und was ich immer fester unterstrichen wünschte.
Der Gedanke, welchen Sie in Betreff des Herrn Wiedemann äußern, ist mir sehr willkommen: übersenden Sie ein Exemplar so, daß daraus auch meine warme Theilnahme für ihn ersichtlich ist — als eine Art Glückwunsch zur Vollendung seines Werks. Ich kenne dasselbe nicht: was Sie mir andeuten, über „Gleichgewichtslagen“ und „Unzerstörbarkeit der Kraft“, gehört auch zu meinen Glaubens-Artikeln. Doch haben wir Dühring gegen uns: zufällig finde ich eben diesen schönen Satz „der Ursprungszustand des Universums oder, deutlicher bezeichnet, eines veränderungslosen, keine zeitliche Häufung von Verschiedenheiten einschließenden Seins der Materie, ist eine Frage, die nur derjenige Verstand abweisen kann, der in der Selbstverstümmelung seiner Zeugungskraft den Gipfel der Weisheit sieht“. Dieser Berliner „Maschinist“ hält uns also, mein werther Freund, für castrati: zum Mindesten hoffe ich, wir haben eine Art Schadenersatz für den angedeuteten Mangel darin, daß wir — „schöner singen“ als Herr Dühring. Ich kenne kaum eine widerlichere Tonmanier als die seine. — Daß ich den „endlichen“ d. h. bestimmt gestalteten Raum für unabweislich im Sinne einer mechanistischen Weltausdeutung halte und daß die Unmöglichkeit einer Gleichgewichtslage mir mit der Frage, wie gestaltet der Gesammt-Raum ist — gewiß nicht kugelförmig! zusammen zu hängen scheint — das habe ich Ihnen schon mündlich erzählt. —
Meine Gesundheit beunruhigend unsicher; irgend eine cardinale Gefahr. Frau Röder ist seit einem halben Monat fort, bene merita! Aber, unter uns, sie paßt mir nicht, ich wünsche keine Wiederholung. Alles, was ich ihr diktirt habe, ist ohne Werth; auch weinte sie öfter als mir lieb ist. Sie ist haltlos; die Frauen begreifen allesammt nicht, daß ein persönliches malheur kein Argument ist, am wenigsten aber die Grundlage zu einer philosophischen Gesammtbetrachtung aller Dinge abgeben kann. Das Schlimmste aber ist: sie hat keine Manieren, und schaukelt mit den Beinen. Trotzdem: sie hat mir über einen bösen Monat weggeholfen, mit der aller besten Gesinnung. — Heiß, unsinnig heiß auch hier. Ihr Freund
N.
Ich hatte geglaubt, mein vierter Z<arathustra> widerstände Ihnen? In der That, er ist schlecht zugänglich, mit seinen entlegenen Zuständen und „Weltgegenden“: welche aber doch existiren und nicht nur arbiträr sind. Für Sie gesagt, als meinen „Einzigen“.
613a. An Louise Röder-Wiederhold
<Sils-Maria, 27. Juli 1885>
Verehrte Frau
nein! ich wünsche durchaus nicht „Idyllen“ zu stören und schrieb ganz und gar nicht als Hiob, vielmehr guter Dinge und jenseits von Schneider- und Kleider-Noth, vielmehr weißgekleidet, wie es sich bei solchem herrlichen Nizzawürdigen Wetter empfiehlt (und gerade in dieser Farbe reichlich — dreifach! — ausgestattet: es ist eine meiner Arten von Luxus)
Wenn ich durch Chur komme, soll das bäurische Kleidungsstück, das mir so viel zu lachen gegeben hat, einer Revision unterworfen werden. Zuletzt ist das Schicksal des Winters noch nicht entschieden. Vielleicht habe ich dergleichen Stoffe noch nöthig; und Sie haben mir einen „Wink des Schicksals“ damit gegeben —)
Eine kleine Schuld giebt es auch noch auszugleichen. Sobald ich über die deutsche Grenze bin, sende ich Ihnen zu, was Sie gütiger Weise für mich auslegten.
Von Venedig eine muthige und frohsinnige Karte: obgleich in den Verhältnissen sich nichts verändert hat.
Herzlich dankbar Ihr
N.
614. An Bernhard und Elisabeth Förster in Naumburg
<Sils-Maria, 29. Juli 1885>
Meine Lieben,
was für eine Freude habt Ihr mir doch mit der kleinen Kiste gemacht! Die Wahrheit zu sagen: ich war eine Stunde hinterdrein krank, so daß ich den Vers machen mußte
„nichts ist mir schwerer zu ertragen,
„als etwas Gutes zwischen lauter schlechten Tagen.“
Ich bin so oft auf der Post gewesen, immer mit der stillen Hoffnung, daß dort Etwas für mich steht, mit Allerlei darin, und Einiges imprévu, wie ich’s liebe, sogar vielleicht etwas Leckermäuliges, das in die erschreckliche Monotonie von Reis, Rindfleisch, Thee und Milch hineinfällt, und namentlich ein artiges Ding für la petite Adrienne, die hübsch wird und nunmehr in die Schule geht (ich glaube, daß ich zum letzten Male im Hause dieser trefflichen Leute bin) Und siehe, Alles hat sich schönstens erfüllt! Habt tausend Dank! Was das Buch des Herrn W<idemann> betrifft, so weiß ich eigentlich nicht, ob es mir oder ob es dem Lama zugesandt ist; ich habe schon durch Herrn Köselitz meinen Glückwunsch zu seinem Fertig-werden ausdrücken lassen.
Widemann wendet sich fundamental wider Kant und Schopenhauer: ich sehe dem mit Erstaunen zu, wie schnell jetzt die philosophischen Systeme wechseln und wechseln. Es giebt, unter wirklichen Denkern, heute keine Anhänger Schopenhauers mehr, und nur ganz wenige Kantianer. Widemann’s Standpunkt, welcher im Grunde der Eugen Dühring’s ist (obwohl er seine Unabhängigkeit gelten macht), ist für mich bereits ad acta gelegt: und fünf andere hinzu, deren Heraufkommen ich in den nächsten 20 Jahren erwarte. Ich sehe mit Trauer, daß sich noch Nichts, noch Niemand für mich ankündigt, der mir einen Theil meiner Arbeit abnähme. Scheinbar steht es hier, bei W<idemann> gerade anders: denn sein Buch endet vollkommen mit Zarathustra-Gedanken, und auf der letzten Seite erscheinen Dühring und ich in ganz großer Gala und Gloria. Es ist Schade, daß Ihr nicht die Seiten aufgeschnitten habt, wo von meinem „tiefsinnigen Evangelium“ und „meiner klassischen Formulirung des höchsten Ideals menschlichen Strebens“ geredet wird. —
Hopsa! reden wir von etwas Vernünftigerem! Das Lama hat neulich einen so rührenden Brief an mich geschrieben: ich bitte Euch, sie dafür in meinem Namen schönstens zu streicheln. Zuletzt ist der Gedanke eines Zusammentreffens in Baden-Baden nicht übel, nur kommt dabei mein Wunsch, unsre liebe Mutter wieder zu sehn, ins Gedränge. —
Was macht die Schmeitznersche Zahlung? Daran hängt eigentlich meine Dispositions-Fähigkeit für Herbst und Winter.
Auch thäte ich gerne etwas für die Aufführung von K<öselitzen>s Oper, mündlich und persönlich: denn wenn ich nichts thue, thut Niemand was. Er schrieb verzweifelt, seit 3 Jahren hat er nichts als Zurückweisungen und Demüthigungen erfahren.
Ich bin seit 3 Wochen ungefähr wieder allein. Und bin froh darüber. Kein neuer Mensch schlägt bei mir mehr Wurzel, und die „alten Menschen“ sind alle für mich abgedorrt. Schlimm! Ich bin auch der Meinung, daß nichts über gute Familien-Verhältnisse geht.
Alle 3 Tage krank. Mit den Augen steht’s ganz böse. Aber was hält unser-Einer nicht aus?
Es grüßt Euch von Herzen
Euer Fr.
615. An Elisabeth Förster in Naumburg
<Sils-Maria, Ende Juli 1885>
Mein liebes Lama,
Dein guter herzlieber Brief kam einen Tag zu spät: so ist mein Dank für Deine Kiste einen Tag zu früh abgelaufen. Die Freude der kleinen Adrienne war unbeschreiblich. Für Cubaba allerschönsten Dank, es erinnerte mich an eine Art Kuchen aus Kastanien, welche man in Genua macht, ist aber feiner im Geschmack. Seit drei Tagen haben wir Luft, Himmel und Wind wie in Nizza des Winters, es ist frisch; alle Welt sagt mir, daß ich viel besser aussehe. Auch denke ich wieder muthiger über die Zukunft: und seltsam, in Betracht zu den ungeheuren Dingen, mit denen sich Dein dummer Bruder beschwert hat, heißt Muth bei mir auch immer soviel als: guter Wille zur Einsamkeit und Verborgenheit, und Ablehnung jedes Arrangements, wozu mein vieles Kranksein mich verführen könnte. Wenn ich in den letzten Jahren hier und da nach „Schülern“ geseufzt habe, so war es immer die Wirkung krankhafter Entmuthigung; an guten Tagen weiß ich ganz deutlich, daß es besser ist, meine Hauptsachen still für mich abzumachen — und daß ich meinen Verkehr mit Menschen rein als Kur und gelegentliche Medizin zu nehmen habe, vor Allem als Erholung. Aber sobald ich wieder zu Kräften komme, weiß ich, warum ich die größte Unabhängigkeit und Einsamkeit zuerst und zuzweit und zudritt nöthig habe. — Da kommt eben ein Brief von Lanzky: der sorgt ernstlich für mein Persönliches und Leibliches und ist andererseits nicht zum „Schüler“ geeignet, das weiß er selber — aber zu einer Art von Oekonom und Wirthschafter um mich herum. Lies genau, meine liebe Schwester, was er sagt. Ich glaubte es dieser Tage selber, daß ich um die riviera nicht herumkomme: die Beschleunigung des „Stoffwechsels“, wie die Physiologen sagen, bedingt durch trockne Luft (wie in Nordamerika und Nizza) ist für mich, da ich das langweiligste Gedärm von der Welt habe (verdorben überdies durch Jahrzehnde medizinischer Vergiftung) eine Sache ersten Rangs. St. Jean ist etwas für alle Jahreszeiten; ich möchte gern „der Einsiedler von St. Jean“ werden. Im Freien leben und arbeiten — das ist meine Aufgabe. Milch, Reis, Fleisch, keine Hôtels. Und Honig: — oh wie gut ist er wieder!
Bitte, laß diesen Brief auch Deinen Gatten lesen! und behaltet mich lieb!
F.
616. An Paul Heinrich Widemann in Dresden
Sils-Maria, Oberengadin, Schweiz. <31. Juli 1885>
Sie haben, mein werther Freund, mir durch Ihren Brief und die Übersendung Ihres Werks keine kleine Ehre erwiesen — gar nicht zu reden von dessen letzter Seite, wo Sie meinem Sohne Zarathustra die erste öffentliche Censur feierlich und festlich ausstellten: — Das soll Ihnen nie vergessen werden! Am Tage, an dessen Abende Ihr Buch in meine Hände gelangte, vorvorgestern nämlich — hatte ich morgens nach Venedig den Auftrag abgegeben, daß Ihnen der vierte Theil des Z<arathustra> (das nicht herausgegebene und geheim zu haltende verwegene „Finale“ meiner Symphonie) umgehend zugesandt werden möge. Sie sehen, daß mein Wunsch, Ihnen irgendwie die Freude über Ihr Werk, als vollbracht, auszudrücken, nicht einmal sich die Zeit nahm, dessen Ankunft abzuwarten. Heute kommt meine Freude über die That, — eine ganz außerordentliche That, wie mir scheint — zu einem ersten vorläufigen Worte. Der Eindruck stimmt sehr gut zu alle dem, was ich zuletzt über Sie erzählt bekam, durch Herrn Schmeitzner, bei seinem letzten Besuche in Naumburg: — er sprach von Ihrer Ruhe und Selbst-Beschränkung innerhalb einer großen Aufgabe, von Ihrer Selbst-Kritik, von Ihrer Energie und Willensstärke bei einer unsicheren Gesundheit. Solche Eigenschaften sind es, welche heute selten werden und die Jeden, der sie hat, zu etwas Seltenem, vielleicht Seltsamem machen, worauf hin Zuschauer und Freunde wünschen, hoffen, fürchten, sich sorgen dürfen. Aber zu dem Allen ist es, für mich wenigstens, heute noch nicht Zeit: da hat Ein Wort allein Recht — Dank, mein hochgeehrter Herr und Freund, großen Dank! —
Zuletzt bemerke ich noch, daß ich des verheißenen gebundenen Exemplars mich bereits unwürdig gemacht habe, indem die Ränder des ungebundenen schon mehrfach beschrieben und bekritzelt sind. Unterlassen Sie also diese Zusendung: während ich durchaus nicht Anlaß geben möchte, daß der scharfsinnige Dr. Paul Rée („Stibbe bei Tütz, Westpreußen“) um den Genuß und die Ehre Ihrer Bekanntschaft käme.
— Also, wie es nach den Worten Ihres Briefs zu sagen erlaubt ist,
auf Wiedersehn!
Ihr
ergebenster
Prof. Dr. Friedrich Nietzsche
617. An Unbekannt (Entwurf)
<Vermutlich: Sils-Maria, August 1885>
Ich selber bin 100 Mal radikaler als W<agner> oder Sch<openhauer>, deshalb bleiben es doch meine verehrtesten Lehrer: welchen — — —: ob ich schon jetzt zu meiner Erholung und Erquickung ganz andre Musik nöthig habe als die W<agner>’s, und, beim Lesen Sch(openhauer)’s, jetzt mich langweile, oder verdrießlich werde. Des Falschen und Oberflächlichen ist zu Viel darin.
M<eine> „Unzeitgemäßen“ bedeuten für mich Versprechungen: was sie für Andre sind, weiß ich nicht. Glauben Sie, daß ich längst nicht mehr leben würde, wenn ich diesen Versprechungen nur um Einen Schritt breit ausgewichen wäre! Vielleicht kommt noch ein Mensch, der entdeckt, daß von M<enschliches,> A<llzumenschliches> an ich nichts gethan habe als meine Versprechen erfüllen. Das, was ich freilich jetzt die Wahrheit nenne, ist etwas ganz Furchtbares und Abstoßendes: und ich habe viel Kunst nöthig, um schrittweise die M<enschen> zu einer völligen Umdrehung ihrer höchsten Werthschätzungen zu überreden.
618. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Sils-Maria, 1. August 1885>
Lieber Freund,
vergeben Sie eine nochmalige Bitte um Absendung eines Z<arathustra>-Exemplars: nämlich an Frl. Helene Druscowicz (die Adresse ist Unter-St. Veit bei Wien) Genanntes Mädchen schrieb dieser Tage sehr artig und unmotivirt an mich: und Sie wissen, daß man auf Erden für alles Unmotivirte dankbar zu sein hat — es ist selten! Das Buch W<idemann>s ist eingetroffen: persönlich betrachtet, ist es vielleicht ein kleines Malheur für mich (von wegen des Dühring und des gepredigten Mengel-Mansch von Physik und „Bewusstseins-Thatsachen“) aber es wird noch viele solche Quidproquo’s geben, und bösere! Ich habe mich bereits bedankt: persönlich betrachtet nach der Seite des Verfassers hin, ist es ein ganzes großes Stück Charakter und Zähigkeit des Willens; das Talent — ist wesentlich schematisch, „kategorientafelhaft“.
N.
Eben trifft Ihr Brief ein, schönsten Gruß und Dank! —
619. An Heinrich Köselitz in Venedig
Sils-Maria, gegen Anfang August — mehr weiß ich nicht. <7. August 1885>
Lieber Freund,
Hurrah, seit gestern bilde ich mir ein, daß mir etwas vom Himmel gefallen ist, ganz eigens für Sie und für Niemanden anders — nämlich ein prachtvolles Operntext-Sujet. Lesen Sie in beifolgendem Buche die Geschichte auf p. 196 und nehmen Sie die Correcturen vor, die sich von selber verstehn (z. B. daß Marianna nicht die Mutter, sondern die Schwester des Ermordeten sein muß, und daß, bei der Katastrophe, p. 198 unten, es die plötzliche Liebe ist, welche den Romanetti rettet, den Haß auslöscht und die vendetta der Familien beendet.) So hat dieses Thema Alles, was gerade Sie brauchen, weil gerade Sie es können. Erster Akt: festlich-südlich, Carneval, blutige Unterbrechung. Zweiter Akt: die große korsische Todtenklage, die Racheschwüre an der Bahre, Soli und Chöre. Dritter Akt: die gefährliche Einsamkeit eins auf den Tod Verfolgten zum Gefühl zu bringen. Gebirge, Wald, Höhlen, Verstecke, Verrath. Vierter Akt: Katastrophe mit schrecklicher Spannung, zum Schlüsse die Versöhnungs- und Verbrüderungsschwüre der zwei feindlichen Geschlechter. Alles ist männlich, das hysterische Element der Wagnerei ist hundert Meilen weit; es wird viel geschossen; die Liebe (welche im ersten Akte irgendwie keimartig angedeutet sein muß) ist dies Mal Liebe der That und nicht der lyrischen Expansion: wobei es doch, auf dem Höhepunkt des vierten Aktes, ein um so wirkungsvolleres Liebesduett abgeben könnte. Und vor Allem: alles ist wirklich theatralisch, und sogar opernhaft comme il faut! Die Rachefurien-Effekte des zweiten Aktes hat Ihnen kein Musiker schon vorweg genommen. Das Ganze hat Logik, extreme Leidenschafts-Logik — und hat überdies jene typische Art, wie sie ein Drama haben soll.
Marianna, das kriegerische Mädchen, welche im zweiten Akte wie eine Erinnys zu erscheinen hat, ist eine sehr gute Rolle: ebenso Romanetti, der, im Gegensatz zu ihr, verschlossen, vornehm-düster, alle die Züge eines tiefen Menschen zeigen muß, der seine Feinde und den Tod selber verhöhnt. Daß gerade Sie, lieber Freund, das machen können, als prädestinirt für diesen Text und diese Musik, dafür habe ich ein seltsames sigillum veritatis: nämlich Ihre sinfonia ungherese. Ja, wenn Sie mir vergönnen wollen, daß ich Ihnen einen Gedanken ins Ohr flüstern darf, der vielleicht in meinem Munde etwas Unbescheidenes hat: ich bilde mir ein, Sie haben die Ouvertüre zu dieser Oper bereits componirt, und sie sei nichts Anderes als die eben erwähnte sinfonia. Das Schwere, Harte, Gedrängte, Sehnsüchtige, gleichsam Tragödien-schwangere der korsischen Seele scheint mir unübertrefflich gut darin ausgedrückt. Zuletzt ist der „Corse in Musik“ zu erfinden: weshalb sollte nicht „der Ungar“ mit dabei helfen? Es ist sehr gut, daß ein so undeutscher und unitaliänischer Typus der Musik überhaupt schon eine Art Bürgerrecht erlangt hat.
Sie werden diesen Text viel unbedenklicher dichten können als einen griechischen (ich wenigstens habe eine schreckliche Angst vor griechischen Texten, jede antike Statue sieht mich an, als ob sie sagen wollte „ich und Eure Musik — wir vertragen uns nicht!“ Pardon, meine Scepsis braucht nicht die Ihrige zu sein, werther Freund! —
Lesen Sie, bitte, südliche Volkslieder zum Versuche und in summa — seien Sie nicht ungeduldig über einen Freund, der es beinahe nöthig hat, daß es Ihnen gelingt, im höchsten Sinne, weil es ihm selber, in Bezug auf das ganze Leben, nicht gelungen ist.
Von Herzen
Ihr N.
620. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Sils-Maria im Oberengadin (Schweiz) <etwa um den 10. August 1885>
Meine liebe Mutter
wie sehr wünschte ich, Dir auf Deinen rührenden Brief, für den ich meinen ergebensten Dank ausspreche, irgend Etwas melden zu können, das Dir Freude machte! Aber es bleibt bei Deinem wunderlichen Sohne in solchen Fällen immer „sehr viel zu wünschen übrig“ — die alte Geschichte, die Du kennst! Zum Beispiele: wie gerne schriebe ich, daß ich käme, um den Herbst bei Euch zu verbringen! Wie jetzt die Dinge stehn, glaube ich nicht mehr daran — und Schuld ist mein unehrenwerter Herr Verleger, der, wie es scheint, nun auch den Gerichten gegenüber sein Wort nicht hält. Ein Brief Widemann’s aus Dresden gab eine Andeutung, welche mir die eben geäußerte Besorgniß einflößt. Nun habe ich, im festen Vertrauen, für die zweite Hälfte dieses Jahres, auf dem bezeichneten Wege Geld zu bekommen, schon bei meinem Leipziger Drucker nicht unerhebliche Ausgaben gemacht (c. 100 Thaler); insgleichen habe ich noch in diesem Herbste eine Bücherrechnung zu bezahlen — und, was meine Baseler Geldquellen betrifft, so ist mit diesem Sommer, wie Du weißt, der Wendepunkt eingetreten (ich habe jetzt jedes Jahr 1000 frs. weniger als in den letzten 6 Jahren zu verbrauchen, denn der Staatsbeitrag der Pension ist nicht erneuert worden) Daß ich an den Süden klimatisch gebunden bin, steht leider außer Frage; daß ich mich von jetzt ab noch einfacher einrichten muß, ebenfalls, — vor Allem daß ich die großen Reisen mir versage, welche überdies auch meiner Gesundheit immer sehr nachtheilig gewesen sind. Diesen Sommer hat es sich wieder, auf unheimliche Weise, bestätigt, daß Dein Sohn an allen Tagen mit bewölktem Himmel krank ist. Es geht äußerst langsam mit meiner Besserung; doch glaube ich, mit der bisherigen Milch- Reis- und Fleisch-Diät das Rechte getroffen zu haben. Im Übrigen arbeite ich, so oft ich nur eine gute halbe Stunde Gesundheit erwische, und auch dieser Sommer hat sein Erträgniß. Seltsam! Es wimmelt im Engadin von Menschen, die mich kennen; und wenn ich Zeit hätte, „eitel“ zu sein, so könnte ich einen kleinen „Hof“ um mich haben. Es vergeht kaum ein Tag, wo mir nicht besondre Aufmerksamkeiten erwiesen werden, und was die Anerbietungen betrifft, mit Vorlesen, Musik-Vorspielen etc. so werde ich behandelt wie ein Prinz. Aber „der Einsiedler von Sils-Maria“ fängt an, auf seine „Würde“ zu halten und immer schwerer zugänglich zu sein. Auch esse ich nie mehr in Gesellschaft (außer in solcher, die „man mir giebt“) Zwei Engländerinnen, Mutter und Tochter, und eine alte russische Hofdame sorgen ganz eigentlich für mich, ungefähr wie gute Tanten. Ein ausgezeichneter Musiker und Componist, den die alte Russin sich zu Gaste geladen hat (es ist ihr Contrapunkt-Lehrer) begleitet mich auf meinen Spaziergängen; ist er beschäftigt, so thun’s zwei hübsche junge Gräfinnen, oder ein ehemaliger* Schulpförtner, der mit seiner Schwester hier ist, oder Professor Leskien und Dr. Brockhaus aus Leipzig, oder ein Holländer aus Java, der mit meinen Engländerinnen verwandt ist usw. So, meine liebe gute Mutter, jetzt kannst Du Dir wenigstens vorstellen, was Dein Sohn macht. Das Schlimmste ist: er hat kein Geld, ins Ohr gesagt!
Von Herzen Dein F.
621. An Elisabeth Förster in Naumburg
<Sils-Maria, kurz vor dem 15. August 1885>
Mein liebes Lama,
im Grunde wartete ich gerade auf diese Mittheilung über den Fall Schmeitzner, und um dieser von mir als wahrscheinlich angesetzten Möglichkeit willen habe ich zu der ganzen Sache Ja gesagt. Ich kann nämlich nur wiederholen, was ich schon Ein Mal Dir schrieb: woran mir absolut gelegen ist, das ist, meine Schriften aus Sch<meitzner>s Händen zu winden. Daß er mich bezahlt oder nicht bezahlt, ist, dagegen gerechnet, ein verschwindender Gesichtspunkt. Mein Wunsch ist groß, den ganzen Rest von Exemplaren meiner Schriften zu besitzen; oder vielmehr, ich sehe gar kein anderes Mittel als das angegebene, um dazu zu gelangen, was jetzt noth thut, meine frühern Schriften neu und wesentlich verändert herauszugeben. Es ist mir also äußerst angenehm zu hören, daß es vielleicht möglich ist, selber bei der Verauktionirung der Bietende zu sein (resp. vertreten durch Vetter Adalbert)
Zur Instruktion für das Bieten bei dieser Auktionirung bitte ich diese Gesichtspunkte zu betrachten.
1 ich möchte vor Allem
Menschliches, Allzumenschliches. 1878.
Nachtrag dazu: Vermischte Meinungen und Sprüche
1879.
Der Wanderer und sein Schatten 1880.
in Besitz bekommen; diese bedürfen nämlich absolut einer schleunigen neu redigirten Auflage (ich kann nicht darauf warten, bis die spärlichen letzten Exemplare von „Menschl<iches> Allzum<enschliches>“ sich verkauft haben; was bei dem augenblickl. Stande der Dinge sich auf Jahrzehnde hinausschieben könnte)
-
Sodann will ich die drei Theile Zarathustra wieder bekommen (und sie, nach sorgfältigstem Ermessen, persönlich an einen neuen Verleger verkaufen)
-
Nicht will ich in Besitz bekommen die Reste der Exemplare
Geburt der Tragödie 2. Aufl.
und der vier Unzeitgemässen Betrachtungen 1873 —1876.
- Was die „Morgenröthe“ und
„die fröhliche Wissenschaft“ anbetrifft: so bin ich bei
mir selber nicht entschlossen. Es würde mir zu viel Noth und Sucherei machen, gerade für solche Schriften (Elite-Schriften für Elite-Menschen, d. h. für ganz Wenige) neue Verleger zu finden. So mag es rathsam sein, auch diese, wie die unter 3) aufgezählten, laufen zu lassen.
Die Versicherung Sch<meitzner>s, am 1. Oktober zu zahlen, hat nicht den geringsten Werth, in Anbetracht dessen, was er alles schon versprochen hat. Sein Vater, der sich für ihn verbürgt hatte, hat nicht gezahlt: somit erscheint mir das energische Vorgehen des Onkels vollständig am Platz. Was eben seit Jahren versucht und versucht worden ist, das bezeichnete Haus zu verkaufen, ist also auch bis zum letzten Termine nicht gelungen: — es wird seine guten Gründe haben! Zu einem Subhastations-Verfahren, wie es wahrscheinlich nöthig würde, bin ich nicht reich genug; das ist langwierig und kostspielig. Die Aussicht auf die reiche Braut — ja, wenn nur Schm<eitzner> nicht im Frühjahr 1884 gegen mich dasselbe Kunststück ausgeführt hätte! Wer darf ihm zuletzt noch glauben? Und wenn er nur selber sich glauben dürfte! —
An mich geschrieben hat er bisher nicht. — „Eins ist nothwendiger als das Andre“, mein liebes Lama! Ich bin gegen Deine Theilnahme an Sch<meitzner> gar nicht unempfindlich, auch gegen ihn selber ohne Abneigung. Aber das Malheur, das dieser Verleger in Hinsicht auf die Wirkung Deines Bruders angerichtet hat, ist ungeheuer: daß ich jetzt, im 41ten Lebensjahre isolirt bin, keinen Schüler habe und es täglich empfinde, daß ich gerade in meiner besten Kraft stehe, um eine große Schul-Thätigkeit als Philosoph auszuüben, stelle Dir das auch vor die Seele! Die Bücher heraus aus diesem Winkel!!! Es sind meine Angelhaken; wenn sie mir keine Menschen fangen, so haben sie keinen Sinn! —
Ich gebe dem Rechtsanwalt sofort Auftrag zur schleunigen Zwangsversteigerung. Dir und meinem Herrn Schwager von Herzen dankbar
F.
622. An Paul Heinrich Widemann in Chemnitz
Sils-Maria den 19. Aug. 1885.
Werther Freund,
Soeben hat mein Chemnitzer Rechtsanwalt von mir einen Auftrag erhalten, der, wie ich hoffe, auch Ihren Wünschen genug thun soll.
Im Übrigen bitte ich zu entschuldigen, wenn Jemand nur schwer dazu zu bringen ist, in einem vierten Falle Vertrauen zu haben, nachdem ihm drei Mal hintereinander das gegebne Versprechen nicht gehalten wurde.
In Eile und bei sehr behinderter
Gesundheit
Ihr
N.
623. An Helene Druskowitz in Berlin (Entwürfe)
<Sils-Maria, etwa Mitte August 1885>
Mein verehrtes Frl.
Das Exemplar war Ihnen als Eigenthum zugedacht: aber freilich: ein andres ist, sich auch nur Ein Wort daraus zu eigen machen. Und nun wollen Sie gar schon über solche Dinge schreiben! in Bezug auf welche Sie noch nichts erlebt haben, geschweige denn eine heiligste und innerlichste Erschütterung, wie sie jedem Grade von Verständniß erst vorangegangen sein müßte!
Zu meiner traurigen Verwunderung sehe ich aus Ihren — — —
so <viel ich> von diesen jetzigen M<enschen> weiß, ist meine Hoffnung gering.
Verzeihung, mein verehrtes Frl., aber ich gehöre nicht zu denen, welche „Litt<eratur> machen“, noch weniger zu denen, welche glauben, man könne von allen Dingen öffentlich reden. Wer nicht mir aus dem tiefsten Grunde seines Herzens Dank dafür weiß, daß so etwas wie mein Z<arathustra> überhaupt von mir mitgetheilt ist, wer nicht alles Dasein dafür segnet, daß so etwas in ihm, wie dieser Z<arathustra>, möglich ist, dem fehlt Alles, Ohr, Verstand, Tiefe, Bildung, Geschmack und überhaupt die Natur eines „auserlesenen Menschen“. Solche „Auserlesene“ will ich damit an mich heranziehn: — — —
Ps. Das übersandte Exemplar gehört wie billig Ihnen zu, mein liebes und verehrtes Frl., als Ihr Eigenthum
Was Ihren so aufrichtigen, wenngleich nicht gerade um- und einsichtigen, ja vielleicht auch nicht besonders „bescheidenen“ Brief betrifft: so sage ich, wie so oft: Wie schade daß man nicht eine halbe Stunde Gesprächs haben kann, wenn sie noth thut! Ich brachte noch diesen Winter einen gescheuten und sehr ergebenen Gefährten ms Alters dahin, daß er einen Aufsatz, den er über mich geschrieben hatte, vor Beschämung in Stücke riß.
624. An Heinrich Köselitz in Venedig
Sils-Maria 21 Aug. 1885.
Lieber Freund,
mit steifen Fingern — es ist januarlich-kalt seit zwei Tagen — einen herzlichen Gruß! Der Sommer hat bisher keinen üblen Verlauf gehabt, die Gesundheit ist zum Mindesten auf einige zerstreute Tage bei mir zu Gaste gewesen. — was ich sehr hoch anschätzen muß! und mein Muth ist heute größer als er es in Venedig bei unserem letzten Zusammensein war. Ich will doch schwören, daß vino Conegliano mir zum Unheil ausgeschlagen ist! Inzwischen habe ich Milch, Reis, etwas Beefsteak, rohe Eier — und gar nichts Anderes genossen (nicht risotto, sondern Reis in Milch gekocht!)
Die letzten Wochen gab es Blitz und Donner in der Angelegenheit Schmeitzner. Doch scheint jetzt Alles endlich auf der richtigen Bahn: so daß ich am 1. Oktober mein Geld (7000 frs. —) wirklich bekommen soll. Man hatte mich möglichst mit der Sache verschont: als aber die entscheidenden Maßregeln nöthig wurden, stürzte Alles auf mich los, die Rechtsanwälte, meine Angehörigen, Schmeitzner selber, sogar Herr Widemann, es hagelte Briefe und Telegramme, und — die Verantwortlichkeit saß auf mir! Wie billig! Dank einer sehr energischen und plötzlichen Maaßregel (Pfändung des ganzen Verlags in meinem Namen: so daß Schm<eitzner>, von einer Reise kommend, alles versiegelt fand und nicht hinein konnte) auf welche Niemand vorbereitet war, wurde ein Hochdruck geschaffen. Ich hatte, unter uns gesagt, meinen Rechtsanwälten den Auftrag zu einer schleunigen Zwangsversteigerung des ganzen Verlags gegeben (und schon Mittel gesucht, dadurch in den Besitz aller meiner Bücher selber zu kommen) Diese „Zwangsversteigerung“ hat Schm<eitzner> fürchterlich erschreckt: natürlich wäre Alles zu Löschpapier-Preisen weggegangen (ich hätte zwar mein Geld nicht auf diesem Wege bekommen, aber meine „Litteratur!“ Gleich nach der Auktion würde ich gegen Schmeitzner sen. geklagt haben, dessen Bürgschaft in den Händen meiner Rechtsanwälte ist — genug, ich war gut vorgesehn) Wie jetzt die Dinge stehen, ist es Schm<eitzner> nicht mehr möglich, zum vierten Male ein gegebenes Versprechen zu brechen — er muß zahlen! Die Mittel dazu giebt der Verkauf seines ganzen Verlags an Hr. Ernicke in Chemnitz (Firma in Leipzig) für 14,000 Mark; Zahlung 1. Oktober. Den Kauf-Contrakt habe ich in den Händen. Zahlung an mich gleich nach erfolgtem Geld-Eingange: dann Rückgabe der Pfänder. — — Lieber Freund, es hat mich stolz gemacht, Ihnen mit meiner Korsischen Idee nicht mißfallen zu haben. Ich selber möchte am liebsten nach Corsica: und zwar nach Corte, meiner Residenz, wie sie als solche schon seit 4 Jahren mir im Kopfe spukt. Dort ist Pasquale Paoli Herr der Insel gewesen, der wohlgerathenste Mensch des vorigen Jahrhunderts; dort ist die Stelle für ganz große Conceptionen (Napoleon wurde dort, 1768, concipirt — in Ajaccio ist er nur geboren!)
— Die Versendung des 4. Zarath<ustra> an Frl. Druscowicz war meinerseits eine Dummheit; glücklicher Weise hat sie es so aufgefaßt, als ob sie das Buch nur lesen dürfe: sie wird es also an sie zurückschicken, ich gab ihr die dazu nöthige Adresse.
Nun aber die Hauptfrage: geht es mit der Dresdener Angelegenheit vorwärts? Ihre letzten Meldungen beglückten mich. Ich hörte gern, womöglich umgehend, etwas Neues in dieser Sache. Ob ich nach Norden reise, ob ich vielleicht einmal den Winter in Dresden verbringe, — das hängt im Grunde jetzt an Ihren Briefen.
Herr Prof. Ruthardt aus Genf, ein tüchtiger Mensch, mir sehr zugethan, und ein Musiker, vor dem ich Hochachtung habe, war längere Zeit unser Gast, ich meine der Gast meiner alten Russin, deren Lehrer er ist. Er wünscht sehr, sie kennen zu lernen. Den Winter wird er in Leipzig sein; auf der Hinreise besucht er Mottl in Karlsruhe — er wird ihn unzweifelhaft auf Ihre Oper neugierig machen.
Mit den herzlichsten Grüßen
N.
Frau Röder mit ihrem Mangel an Takt, fährt fort, sich brieflich über mein Sils-Maria lustig zu machen: was mich beinahe beleidigt. Dieser Ort soll der Nachwelt ehrwürdig in die Ohren klingen — — aber diese Weiberchen!
Dühring, Cursus, der Philosophie p. 79 steht jener Satz. — Bitte, aus Bebel eine Stelle! er citirt eine Engländerin (Elisab…) über die Dringlichkeit der geschlechtlichen Bedürfnisse des Weibes. Bitte, schreiben Sie den Satz für mich ab! Er ist erbaulich, beim heiligen Aristophanes!
625. An Elisabeth Förster in Naumburg
Sils-Maria 21. August 1885.
Mein liebes Lama,
geschwind eine Auskunft in der Sache Schmeitzner, die, wie ich hoffe, nunmehr geordnet ist, Dank vielfältiger Briefschreiberei: — auch bin ich krank davon gewesen. Der angewendete „Hochdruck“, wie die Techniker sagen, hat seine Schuldigkeit gethan.
Am 1. Oktober wird Schm<eitzner> zahlen, in die Hände des Rechtsanwalt Kaufmann; dieser hat Auftrag, das Geld an Dich abzuliefern. Der Verlag ist an Herrn Erlicke in Chemnitz (Buchhändler-Firma in Leipzig) für 14,000 Mark verkauft; der Verkaufs-Contrakt liegt mir vor. (Daraus ist lehrreich, daß Sch<meitzner>s Jahres-Umsätze zwischen 8000 und 1500 Mark schwankten — nun, meine Bücher haben ihm nicht geschadet!) die Zwangsversteigerung wäre nicht leicht durchführbar gewesen. — Schm<eitzner> selber hätte seine Zustimmung, welche nöthig war, nicht gegeben; ja sogar Herr Widemann, der an mich schrieb, würde eher seinerseits die Gelder beschafft haben als jene Auction zugelassen haben. Also sind meine Bücher mir entwischt! — aber freilich, eine gute Portion Mühe und Sucherei bleibt mir nunmehr auch erspart.
An den Onkel Bernhard habe ich einen dankbaren Brief geschrieben.
Meine Diät ist noch die gleiche; der Erfolg beginnt sich zu zeigen, — scheint es mir. Der Meteorolog des Ortes (Sils ist eine schweizerische met. Station) sagt mir, die Lufttrockenheit der letzten Tage sei ganz erstaunlich. Es ist kein Zweifel, daß dieser Factor jetzt der wichtigste für mein Wohlbefinden ist. —
Ein vortrefflicher Musiker und Componist war hier bei uns zu Gaste, Prof. Ruthardt aus Genf, der Lehrer meiner alten Mansouroff. Er hat sich sehr an mich angeschlossen; ich werde gewiß ihm wieder begegnen. (Der Rückgang der Wagnerei, unter uns gesagt, ist eine Thatsache: das Gewissen aller strengeren Musiker ist aufgerüttelt.)
Sils-Maria gefällt mir wieder sehr gut, seitdem die Heuernte vorbei ist. Die grünen Wiesen sind mir fatal, geradezu anstößig — aber jetzt, gelb, bunt, braun, klingt Alles schön zusammen. Daraus ersiehst Du, wie sehr Dein Bruder innewendig ein Südländer geworden ist. — Das Clima ist rauh und härtet ab; auch halte ich strengstens noch an meiner Milch und Reis-Diät fest.
Was macht unsre liebe Mutter? Ich hörte lange nichts von ihr. Mein Brief an sie wird, wie ich hoffe, durch Deine freundliche Vermittelung in ihre Hände gekommen sein? — Und mein Herr Schwager? Arbeitet er an seinem Buche? Ich habe jetzt einen Holländer zum Umgang, der mir viel von China erzählt (er hat durch seinen eiskalten brüsken Stolz das ganze Hôtel empört — sobald er aber mich findet, giebt es die artigste und lehrreichste Unterhaltung) Meine Engländerinnen und ihre alte russische Freundin gehen Ende des Monats fort, nach Blankenberghe an’s Meer; sie haben sich auf das Gütigste meiner angenommen, und neulich zum Beispiel, als mir die Schm<eitzner>-Geschichte Kopfschmerz und Noth machte, mich einen ganzen Tag herumkutschirt, um mich zu zerstreuen.
Prof. Curtius in Leipzig ist gestorben — ein Ereigniß, das hier vielleicht die stärkste Resonanz fand. Denn Dr. Fritsch ist seinem Lehrer auf das Leidenschaftlichste zugethan, und stand zu dem Hause Curtius persönlicher als alle Verwandten des alten Professors; anderseits ist Prof. Leskien der Führer der Anti-Curtianer, und, als Urheber eines tiefgehenden Conflicts, vielleicht am frühzeitigen Tode C<urtiu>s betheiligt.
Neue gute Nachrichten mir ausbittend und herzlich grüßend
Dein F.
626. An Heinrich von Stein in Halle
Sils-Maria, 30. August 1885.
Werther Herr und Freund,
gar zu gern käme ich Ihrem Wunsche — der mich eben so sehr erfreut als ehrt — auch räumlich entgegen, und nicht nur mit dem Herzen und „dem guten Willen“. Aber — ich habe noch kein Recht, „Ferien mir zu machen“, das heißt in diesem Falle: mein Engadin zu verlassen. Die üble Beschaffenheit meiner Gesundheit hat mich um die ersten Sommer-Monate gebracht: jetzt, bei etwas besserer Laune und Verfassung, muß ich noch drei, vier Wochen bei der Arbeit bleiben.
Damit ist die Aussicht, Sie wieder zu sehn, keineswegs für dieses Jahr „über alle Berge“. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß ich im Herbste nach Naumburg komme: obwohl ich nichts versprechen kann. Es hängt Alles davon ab, wie weit ich Dies und Jenes, das mich beschäftigt, vorwärts bringe: — und ob ich Deutschland (deutsches „Clima“ in jedem Sinne, leiblich und seelisch —) mir zumuthen darf.
Von Herzen Ihnen zugethan
Ihr Freund Nietzsche.
627. An Emily Fynn in Blankenberghe
Sils-Maria, 6 Sept. 1885.
Hochverehrte Frau,
es hätte Gründe gegeben, Ihnen sogleich zu schreiben, aber es gab bessere Gründe, etwas zu warten. Man weiß es zehn Tage hinterdrein besser, von wem man Abschied genommen hat als am Tage darauf.
Was das schöne Räthsel betrifft: so zweifle ich nicht, daß „böse Geister“ auch sehr böse, sehr ironische Lösungen dieses Räthsels bereit halten würden, — ohne sie natürlich auszusprechen: es liegt ja in ihrem Plane, daß das Leben seinen räthselhaften Charakter nicht verliere — Verzeihung!
— Was aber „die Blumen“ betrifft, so kann ich nicht verhehlen, daß ich einstweilen vor den gemalten Blumen, wie ich sie diesen Sommer gesehn habe eine größere Hochachtung besitze als vor den natürlichen: — Sie sehen, wie weit ein Philosoph Artist sein kann! Bisher glaubte ich, die Blumen zeigten das Streben der Natur in’s Kleine und Hübsche: jetzt beginne ich zu ahnen, daß es auch ein Streben ins Große und Vornehme sein könne.
Es ist wahrscheinlich, daß ich in einigen Tagen Portofino wiedersehn werde (ich reise nicht nach dem Norden —) Darf ich die Kühnheit haben zu hoffen, daß ich es auch wieder hören werde?
— Ihnen Allen, meine hochverehrten Damen, von Herzen und mit vieler Dankbarkeit zugethan
Friedrich Nietzsche
628. An Franziska Nietzsche und Elisabeth Förster in Naumburg (Entwurf)
<Sils-Maria, vermutlich Anfang September 1885>
Meine Lieben, ich kann nicht Alles sagen, noch weniger schreiben: und ich denke, Ihr wißt, daß ich mich ungefähr in die bescheidene Attitüde eines „leidenden Gelehrten“ „der um seiner Gesundheit willen im Süden oder im Engadin lebt“, zu schicken weiß. Es hat seine guten Gründe, weshalb mir Menschen fehlen, die zu mir gehören; und es wäre für einen Philosophen lächerlich, wenn er es anders verlangen wollte. Trotzdem es stirbt die Sehnsucht nicht in mir aus, daß der außerordentliche Glücksfall sich doch noch einmal ereignet; es ist höchst schauerlich, solchermaaßen allein zu sein. Mißversteht mich nicht: Das Letzte, was ich wünschte, ist „Ruhm“ und „Zeitungslärm“ und „Schüler-Veneration“; ich habe es zu sehr aus der Nähe gesehn, was dergleichen heute zu bedeuten hat. Ich würde mich mitten darin noch einsamer fühlen als schon jetzt und vielleicht in der Menschenverachtung noch erschrecklich zunehmen.
— — — aber es geht nicht, — und es ist für uns Alle besser so. Ich kann jetzt keinen solchen Abschied nehmen. Da mir das Lama [—] davon will, so ist es besser — — —
629. An Franziska Nietzsche und Elisabeth Förster in Naumburg
Sils-Maria 6. Sept. 1885.
Meine Lieben,
Eure schönen Gaben und Lockspeisen sind eingetroffen — ach, es bedurfte der Lockmittel nicht, Ihr könnt es gar nicht ausdenken, wie sehr und wie lange schon eine Art von grimmigem Heimweh mich quält und mich zu der nordischen Reise zu überreden sucht. Ja, es ziehen auch noch andre Zauber mich nach Eurer Richtung: z. B. daß mit großer Wahrscheinlichkeit diesen Winter in Dresden meine himmlische Leib- und Trostmusik-Oper „der Löwe von Venedig“ zu hören ist. Und trotzdem: es geht nicht! Es geht nicht! Ich bin ein armes Thier mit meiner Gesundheit, das wißt Ihr — und es ist schlecht in diesem Jahre gegangen, bei aller Vorsicht. Das liegt daran, daß ich mich von übermäßig schweren Pflichten und Skrupeln bedrängt weiß, denen eigentlich nur eine Löwen- und Bären-Gesundheit Stand hielte. Vielleicht kann ich dies nicht deutlich machen, aber glaubt es mir: ich leide Tag und Nacht daran. Daß ich „gute Miene“ zu machen weiß und von Zeit zu Zeit sogar einen Anfall von Glück und von ausgelassener Munterkeit habe, das wißt Ihr auch: sonst lebte ich lange nicht mehr. Es wird mir schrecklich schwer, das Lama vor ihrer Abreise nicht zu sehen, es geht mir durch und durch. Trotzdem ist es, glaube ich, besser so — und nicht nur meinetwegen. Vielleicht könnte es bei einem nochmaligen Wiedersehn herauskommen, zu sehr herauskommen, wie vereinsamt sich Euer Fritz jetzt fühlt — denn ich bin ohne Ausnahme alle meine Freunde in den letzten Jahren losgeworden — und wie er thatsächlich schon in einem fernen, fremderen, auch unzugänglicheren Lande lebt als alle Paraguays sein könnten. Aber wir sollten uns Alle einander hübsch Muth machen, da wir allesammt nichts Kleines vorhaben. Ich habe diesen Sommer hier in Sils oft mit großer Neigung über das Projekt meines Herrn Schwagers geredet, vor Deutschen und Ausländern; und seit er von jener Agitation zurückgetreten ist, die gleich jeder negativen Bestrebung die Gefahr in sich birgt, einen edelgearteten Charakter am leichtesten zu verderben, bin ich voller Theilnahme und herzlicher Wünsche für seine Unternehmungen. Das Lama wird ihre Sache gut machen, daran ist kein Zweifel (nur bin ich besorgt, daß sie aus Liebe zu ihrem Gatten zu wenig Fleisch ißt — „Eines schickt sich nicht für Alle“, Verzeihung, meine Lieben!) Mit meiner lieben Mutter will ich, wenn sie erst allein ist, dies und jenes Zusammentreffen und Zusammenleben verabreden: inzwischen müssen wir uns Alle tapfer zusammennehmen. Sils bleibt mein Sommer-Aufenthalt: das hat sich entschieden, Dank einigen Veränderungen, die meinen Augen angemessen waren. Jetzt muß ich noch den Winterort feststellen: ein Versuch mit Florenz soll zunächst gemacht werden. Adresse also: Firenze (Italia) poste restante.
In Liebe und mit Thränen
Euer Fritz.
An Stein habe ich geschrieben: damals glaubte ich noch an die Reise nach Naumburg. Inzwischen war ich krank.
630. An Heinrich Köselitz in Venedig
Naumburg a. d. Saale, Dienstag. <22. September 1885>
Lieber Freund,
inzwischen gab es und giebt es Mancherlei abzuwickeln, und eine Reise nach dem Norden war nicht gut zu vermeiden. Es wird für lange die letzte Reise in dieser falschen Richtung sein: und Alles, was ich insbesondre gegen die klimatische Beschaffenheit Naumburgs einzuwenden habe, bestätigt sich so präcis und unzweideutig, daß ich bereits mit einiger Angst an die Abreise und an die schädliche schwächende Nachwirkung dieses Aufenthalts denke. Im Übrigen thut es mir wohl, noch einmal mit meinen Angehörigen zusammen zu sein: der „Sprengstoff“, in Gestalt des Dr. Förster, wird uns ja in Kurzem recht hübsch über die ganze Erde hin auseinander treiben!
— Heute frage ich bei Ihnen an, ob es bei Ihrem Plane, im Oktober nach Dresden zu kommen, geblieben ist? und ob es schon bestimmtere Entschlüsse giebt? Auch was Schuch inzwischen gethan oder gelassen hat? — Daß ich selber nach Dresden komme, möchte ich gerne versprechen, kann es aber nicht, aus Gründen der Gesundheit. Das Wahrscheinlichere ist vielmehr, daß ich mich im Oktober wieder südwärts auf den Weg mache, vielleicht über Venedig nach Florenz: vielleicht sogar mit ein Paar Wochen Aufenthalt in Venedig, nach dem ich Sehnsucht habe — —
Ist denn das Parterre-Zimmer am Canale grande, gegenüber der Mosaik-Fabrik, noch frei? Seien Sie so freundlich, einmal Ihren Spaziergang dort vorbei zu machen!
Und das Quintett! Was ich Ihnen dazu Glück wünsche, ein größeres Werk diesem heißen Sommer abgewonnen zu haben!
Schönsten Dank für die Citate aus Bebel: obwohl mein Gedächtniß eine Confusion gemacht zu haben scheint, — ich meinte eine andere Seite des Buchs und ein andres „weibliches“ Citat. Zuletzt liegt wenig daran.
Kennen Sie casa Kirsch, ponte di Dio — ein Haus, welches mir Frau Röder-Wiederhold empfohlen hat? Und zuletzt: wissen Sie die jetzige Adresse dieser trefflichen Frau, der nothwendig in kurzer Zeit von mir ein paar freundliche Zeilen zugesandt werden müssen?
Der Sommer in Sils-Maria nahm einen nicht ungünstigen Verlauf; und, dank einigen Veränderungen, die meinen Augen zu Hülfe kamen (z. B. neuen Wegen, welche dem Verschönerungsvereine von Sils alle Ehre machen) ist es sicherer als je, daß dieses Dorf auch fürderhin mich zu Gaste haben wird.
Dieses Jahr nöthigt mich zu lauter abschließenden, wenigstens für eine längere Zeit „endgültigen“ Maaßregeln. — Nächsten Sonnabend eine Zusammenkunft mit dem neuen Buchhändler und Erben Schmeitzner’s, Herrn Erlecke: ich bin für eine neue Auflage von Menschl<iches>, Allzumenschl<iches> vorbereitet. Im Übrigen wird nichts mehr „publicirt“: es geht nunmehr bei mir „wider den Anstand“. — Lange Stille; auch keine neuen Menschen mehr. Die alten Sachen, wenn es noth thut, besser, feiner, voller machen. Sie verstehen diese ganze „Moral“ —
Von Herzen Ihr getreuer
Nietzsche.
631. An Ernst Schuch in Dresden (Entwurf)
<Vermutlich: Leipzig, Anfang Oktober 1885>
Hoffentlich ist Ihnen mein Name nicht unbekannt, und ich darf, ohne mich erst entschuldigen zu müssen, Ihre Gewogenheit in einer Sache in Anspruch nehmen, die mir sehr am Herzen liegt: ich hörte nämlich gern aus Ihrem Munde — oder durch eine Zeile Ihrer Feder — ob die Aufführung der Oper „Der Löwe von Venedig“ für diesen Winter in Aussicht genommen ist. Der Componist, Herr Heinrich Köselitz, welcher früher mein Schüler war und zwei Jahre bei mir Collegien gehört hat, ist inzwischen mir als Musiker u. Freund immer näher und näher getreten; heute gehört er zu den größten Hoffnungen, die ich für die deutsche Kunst habe, und ich zähle seine Musik, insonderheit die genannte Oper zu den besten Dingen, mit denen mich bisher das Leben beschenkt hat. Hier ist jene goldne Brücke der Versöhnung geschlagen, welche über Mozart, Rossini und Wagner hinweg führt — hier ist die südliche Schönheit, die Grazie des Herzens, der helle Himmel, einer ausgelassenen Heiterkeit wieder mit der nordischen Tiefe, der deutschen gelehrten Gründlichkeit und Innigkeit vermählt: und alle die so lange vermißten Zauber der ächten Melodie wirken wieder von Neuem. Ich nenne endlich das Wort, welches die Musik des genannten maëstro am stärksten abhebt und auszeichnet: es ist ganz und gar naive Musik — und man kann von dem Naiven in der Kunst gar nicht hoch genug denken. Als ich Herrn Peter Gast das letzte Mal sah, entwickelte er mir seine sehr guten Gründe, warum er für die Vorführung seines Werkes eigentlich nur zu Ihrer Hand zu Ihrem Feuer zu Ihrer delicatezza in der Interpretation vollkommenes Vertrauen habe — und warum er sich fürchte seine Musik anderswohin zu senden, er traut durchschnittlich den deutschen Kapellmeistern das südländische Temperament und jene instinktive Grazie nicht zu, mit denen sein Löwe von Venedig auf Ihrer Bühne „brüllen“ muß. — Es geschieht so selten, daß ich einmal nach Deutschland komme, wie glücklich wäre ich, in Dresden der ersten Aufführung meiner Leib- und Lieblingsoper beiwohnen zu können (einer Oper, der ich den die europ. Erfolge von Carmen weissage) (im Grunde habe ich in Dresden bisher den stärksten Eindruck einer Oper erlebt: die allererste Aufführung der Meistersinger daselbst, 1866, im Januar, wenn ich mich recht erinnere?)
Hochachtungsvollst und ergebenst
631a. An Franz Overbeck in Basel (Entwurf)
<Leipzig, vermutlich 6. Oktober 1885>
Ein Gruß aus Leipzig, das wird Dir unerwartet kommen! Aber es zog mich diesen Herbst unwiderstehlich noch einmal nach Deutschland, so sehr auch meine Gesundheit protestirte, weil es vielleicht die letzte Möglichkeit war, um M<utter> und Schw<ester> noch einmal zusammen zu treffen<.> Dies ist denn geschehen, und es that mir, bei der Spärlichkeit von menschl<ichen> Beziehungen, die ich jetzt noch aufrecht erhalten will, unbeschreiblich wohl — und wehe. Meinen Schwager H<er>rn Dr F<örster> habe ich noch nicht zu sehen bekommen, — in einem gewissen Sinne paßte es mir trefflich gerade s o. Er ist in Westphahlen, redet und reitet abwechselnd auf seinen zwei Pferden, Antisemitismus und Paraguay und wird dasselbe noch einmal im November für Sachsen thun. Ein Buch der Resultate seines 2 1/2jährigen Aufenthalts in P<araguay> erscheint in Kürze.
632. An Franz Overbeck in Basel
Leipzig <6. Oktober 1885> Auenstraße 48 II rechts.
Lieber Freund
ein Gruß aus Leipzig! das wird Dir unvermuthet kommen. Aber es zog mich diesen Herbst unwiderstehlich noch einmal nach Deutschland (wo ich weder für Leib noch für die liebe „Seele“ fürderhin etwas zu suchen habe) um meine Mutter und Schwester noch einmal beisammen zu finden — wer weiß, ob nicht zum allerletzten Male! Denn im Januar oder Februar reisen die neuen „Colonisten“ ab, glücklicherweise nicht allein, sondern mit lauter achtbaren und wohlansehnlichen Personen. Dr. Förster habe ich noch nicht zu sehn bekommen, denn er weilt in Westphalen, redet und reitet abwechselnd auf seinen zwei Pferden (Paraguay und Antisemitismus) und wird im Monat November dasselbe noch für Sachsen thun. Unsereins hat gar keine Vorstellung von der Masse Arbeit und Aufregung, welche mit solchen Aufgaben verknüpft ist. Was mir wohlthut, ist die Einmüthigkeit im Lobe seines Charakters (denn es lag mir daran, unter der Hand, aus dem Mund von Freund und Feind mir den ungefähren Ruf meines so unerwarteten „Verwandten“ festzustellen) Es giebt ja Gründe genug, im Allgemeinen den Herren Antisemiten nicht über den Weg zu trauen. Übrigens ist ihre Sache viel populärer als man in der Ferne ahnt, namentlich scheint mir der ganze preußische Adel für dieselbe zu schwärmen. — Der Gedanke einer Colonisation in Paraguay ist von mir sehr geprüft worden, nicht ohne den Hintergedanken, ob nicht daselbst auch für mich sich einmal ein Asylon fände. In Bezug auf diese Aussicht bin ich zu einem unbedingten „Nein“ gekommen; meine klimatischen Bedürfnisse widersprechen. Sonst aber ist an der ganzen Sache viel Vernunft, P<araguay> ist ein prachtvolles Stück Erde für deutsche Landbebauer — und unter nicht gerade phantastischen Erwartungen darf ein Westphale oder Pommer wohl gemuth dahin absegeln. Ob gerade meine Schwester und mein Herr Schwager dort am Platze sind, ist eine andre Frage; und ich gestehe mit meiner Mutter zusammen oft sogar schrecklich besorgt zu sein. — Die nunmehrige Einsamkeit meiner Mutter ist eine andre Sorge für mich. Vielleicht kommt es dazu, daß sie wenigstens einen Theil des Jahres mit mir zusammen lebt, etwa in Venedig. Mir selber geschieht damit eine große Wohlthat, denn für meine leibliche Verfassung und halbe Blindheit ist eine fürsorgliche Pflegerin (Du kannst Dir denken, daß meine Mutter mich zu verheirathen wünscht (mit der Tochter meines ehemaligen militärischen Chefs, des Generals von Jagemann.) Aber sie wünscht es umsonst) immer nothwendiger geworden, von meiner seelischen Vereinsamung zu schweigen, aus welcher auch der beste Wille mich jetzt nicht herauszuziehn vermöchte. Ich nehme sie als Loos und will es schon noch lernen, dies Loos nicht als Unglück zu tragen. Eigentlich fehlt mir jetzt ein Mensch, der die schickliche Distanz um mich zieht, eine Art Ceremonienmeister, der mir die überflüssigen Malheurs erspart, welchen ich die letzten Jahre und auch jetzt wieder ausgesetzt war. Es scheint, daß jeden Monat wenigstens eine große bêtise gegen mich begangen werden muß, besonders von den Herrn Weibern, die in unsrer Zeit erschrecklich an Grazie des Herzens und an Bescheidenheit abnehmen. Nun, der Himmel gebe, daß allmählich ich den Menschen aus dem Gedächtniß verschwinde, und meine Einsamkeit zu keinem unverschämten Geschwätze mehr Anlaß giebt. Bei Sils-Maria wird es wohl bleiben: man ist mit der Anlage schattiger Wege und einer Ummöblirung meines Zimmers den Forderungen meiner Augen schönstens entgegengekommen. Für den Winter steht noch nichts fest. Vielleicht einmal Venedig, welches nach der Abreise Köselitzens (nach Wien —) für mich Einsiedler möglich wird. Schmeitzner’s Sache steht im Vordergrund: er hat in 2 Jahren 4 Mal sein Wort nicht gehalten — richtiger, ich Narr habe vier Mal ihm volles Vertrauen geschenkt, und dies nach so vielen schlechten Erfahrungen!! — Wie geht es Dir, lieber alter Freund?
N.
Mitte Monats werde ich wieder in Naumburg sein. Meine Geldwünsche kann ich heute noch nicht präcisiren.
633. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Leipzig, 7. Oktober 1885>
Lieber Freund, eben eintreffende Nachrichten über den Fall Schmeitzner (schlimme Nachrichten, bei denen es mir schwer wird, mich nicht erbittern zu lassen) geben so viel Klarheit, daß ich jetzt hier kein Geld mehr zu erwarten habe: so bestimmt ich darauf rechnen durfte und gerechnet habe (die Bezahlung für den Druck des Z<arathustra> 4 (c. 100 Thaler), eine Buchhändler-Abrechnung mit Lorentz und endlich diese ganze nordische Reise!) Für diesen 1. Oktober als Schmeitznerschen Zahlungstermin war auch der Verkauf des ganzen Sch<meitzner> Verlags an einen Redakteur und Verleger Erlecke in Chemnitz und Leipzig anberaumt; die Copie des Contracts ist in meinen Händen. Nun aber höre ich, daß auch daraus nichts wird! — Widemann’s Vater ist Sch<meitzner>s Advokat. — Sende mir, bitte, nach Leipzig, was von Geld jetzt für mich flüssig wird.
Treulich Dein N.
Ich vergaß gestern mich Deiner verehrten Frau zu empfehlen.
634. An Heinrich von Stein in Berlin
Leipzig den 15 Oktober 1885.
Werther und sehr lieber Herr,
Ihr Brief, den ich gestern auf der Post entdeckte, hat mich gerührt: Sie haben Recht — und was hülfe es zu beweisen, daß wenigstens meinerseits kein Unrecht gegen Sie begangen ist? Ich mache es, wie kranke Thiere der Wildniß und verstecke mich in meine „Höhle“ — Leipzig ist noch mehr Höhle in diesem Sinne als es Naumburg sein konnte. Die Reise nach dem Norden ist mir nicht zum Besten gerathen; die Gesundheit immer trübe und bewölkt, einige Geschäfte, welche Eile zu haben schienen, wollen sich durchaus nicht zu Ende wickeln lassen. Und so weiter.
Gestern sah ich Rée’s Buch über das Gewissen: — wie leer, wie langweilig, wie falsch! Man sollte doch nur von Dingen reden, worin man seine Erlebnisse hat.
Ganz anders empfand ich bei dem Halb-Roman seiner inséparable soéur Salomé, der mir scherzhafter Weise zugleich vor die Augen kam. Alles Formale daran ist mädchenhaft, weichlich, und in Hinsicht auf die Prätension, daß ein alter Mann hier als erzählend gedacht werden soll, geradezu komisch. Aber die Sache selber hat ihren Ernst, auch ihre Höhe; und wenn es gewiß nicht das Ewig-Weibliche ist, was dieses Mädchen hinanzieht, so vielleicht das Ewig-Männliche.
Ich vergaß zu sagen, wie hoch ich die schlichte, klare und beinahe antike Form des Réeischen Buches zu schmecken weiß. Dies ist der „philosophische habitus“. — Schade, daß nicht mehr „Inhalt“ in einem solchen Habit steckt! Unter Deutschen aber ist es nicht genug zu ehren, wenn Jemand in der Art, wie es R<ée> immer gethan hat, dem eigentlich deutschen Teufel, dem Genius oder Dämon der Unklarheit, abschwört. — Die Deutschen halten sich für tief.
Aber was thue ich! Der Höhlenbär fängt an zu brummen — — Bleiben wir allesammt hübsch tapfer auf unserm Posten, auch mit einiger Nachsicht gegen einander: denn Eines schickt sich durchaus nicht für Zweie. Und vor allem: so wenig als möglich brummen!
Treulich
Ihr N.
(In einer Stunde geht’s nach Naumburg: ich will da endlich den Dr. Förster einmal sehen.)
635. An Franziska Nietzsche und an Elisabeth Förster in Naumburg (Postkarte).
<Leipzig, 17. Oktober 1885>
Oh meine Lieben, wie schlecht thut mir dies Naumburg! Leipzig ist auch heute dick umwölkt, und doch ist es zehnmal heller und freier in meinem Kopfe.
Altum silentium. Briefe fehlen.
Mit dem herzlichsten Danke für alle Eure Güte und Liebe
Euer Fr.
Sende, mein liebes Lama, was alles noch rückständig ist, z. B. das andre Hemd (wie sanft und zart ist solch ein Wollenhemd, beinahe wie Lama).
636. An Franz Overbeck in Basel
Leipzig den 17. Oktober 1885. Auenstraße 48II rechts.
Lieber Freund,
Alles ist glücklich in meinen Händen — und Dein eben gekommener Glückwunsch auch in meinem Herzen! Es war der einzige dem Papiere anvertraute Glückwunsch, den ich dies Mal erhielt: — ich dachte länger über dieses Factum eines ein und vierzigjährigen Lebens nach. Es ist auch eine Art von Resultat, und vielleicht nicht in jedem Betracht ein trauriges, zum Mindesten, wenn man ein Recht sich zugestehn darf, den Sinn seines Lebens in die Erkenntniß zu setzen. Zu ihr gehört Entfremdung, Entfernung, vielleicht auch Erkältung. Du wirst reichlich gemerkt haben, wie die Scala der „Frostgefühle“ jetzt beinahe meine Specialität ist: das kommt davon, wenn man so lange „in der Höhe“ lebt, „auf dem Berge“ oder auch, wie der Vogelfreie, „in der Luft“: man wird für den feinsten Reiz der Wärme empfindlich, und immer empfindlicher — oh man wird so dankbar für Freundschaft, mein lieber alter Freund!
Zwei Tage in Naumburg, zur „Feier“ meines Geburtstages. Immer krank, es ist gar nicht auszumachen, ob von außen nach innen oder von innen her. Dicker dunstiger Himmel und, vielleicht, Naumburg zum letzten Male.
Dr. Förster war mir nicht unsympathisch, er hat etwas Herzliches und Edles in seinem Wesen und scheint recht zum Handeln gemacht. Es überraschte mich, wie viel Dinge er fortwährend erledigte und wie leicht ihm das wurde; darin bin ich anders. Seine Wertschätzungen sind, wie billig, nicht gerade sehr nach meinem Geschmacke, Alles ist zu geschwinde fertig, — ich meine, wir (Du und ich) empfinden diese Art von Geistern als voreilig. — Eine früher einmal von mir gelesene Schilderung Försters, welche die Times machten, muß ich als zutreffend anerkennen.
Inzwischen ging die Geschichte mit Schmeitzner wieder weiter und weiter — ich kann durchaus nicht sagen „vorwärts“. Seit vorigem Montage, wo Nachmittags um 5 Uhr eine feierlich versprochne Entscheidung stattfinden sollte, tiefstes silentium. Zwangsversteigerung in Aussicht, sein ganzer Verlag seit Juni als Pfandobjekt von mir gerichtlich mit Beschlag belegt. Vorausgesetzt, daß die Auction stattfindet, so soll der Versuch gemacht werden, meine ganze Litteratur in meine Hände zu bringen: um sie nachher einem neuen würdigeren Verleger (wahrscheinlich Veit und Comp. d. h. Herrn Credner in Leipzig) zu übertragen. Dies ist das Programm. Ich kann von hier nicht von der Stelle, bevor nicht diese Sache im Reinen ist. —
Gestern fand ich, vom Buchhändler geschickt, Rée’s „Entstehung des Gewissens“ vor und dankte nach raschem Überblicke meinem Schicksale, welches es mit sich brachte, daß ich mir vor zwei oder drei Jahren die Widmung dieses mir zugedachten Werkes verbitten mußte. Armselig, unbegreiflich „altersschwach“ —. Zugleich, durch eine artige Ironie des Zufalls, traf auch das Buch des Frl. Salomé ein, das mich ganz umgekehrt berührt hat. Welcher Contrast zwischen der mädchenhaften und sentimentalen Form und dem willens- und wissenskräftigen Inhalte! Es ist Höhe darin; und wenn es wohl nicht das Ewig-Weibliche ist, was dieses Pseudo-Mädchen hinanzieht, so vielleicht — das Ewig-Männliche. — Übrigens hundert Anklänge an unsre Tautenburger Gespräche. —
Grüße Deine liebe Frau bestens von mir (beiläufig, Förster erzählte von einem sehr hübschen Zusammensein mit Euch —) ich hatte gemeint, daß er Euch ganz unbekannt sei? Treulich Dein
N.
637. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz
Leipzig, 20. Okt. 1885.
Werthester Herr Verleger,
das ist freilich eine Enttäuschung — denn man hatte mir gesagt, die Auflage sei vergriffen oder fast vergriffen. So wie die Dinge nach Ihrer freundlichen Mittheilung stehn, wird es aus meinem Projekte nichts werden, und ich muß vorziehen, das, was ich zu Gunsten der neuen Auflage gethan und geschrieben habe, für einen andern Zweck zu verwenden. Wollen Sie mir nicht wenigstens die Ziffer der noch in Betracht kommenden unverkauften Exemplare mittheilen, insgleichen irgend einen Preis-Vorschlag für dieselben, der nicht außer Verhältniß zu mir und meinen Mitteln steht? — Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, daß von nun an meine Baseler Pension jährlich mir 1000 frs. weniger einträgt als bisher, und daß ich überhaupt nur noch mit Sicherheit auf 3 Jahre diese Pension zu erwarten habe? Dies als Commentar zu dem Worte „Mittel“.
Der 4. Theil Zarathustra, resp. die sämmtlichen gedruckten Exemplare (mit Ausnahme von 6 verschenkten) ist mir einstweilen unzugänglich, nämlich vergraben und versteckt unter dem Hab und Gut des Herrn Köselitz in Venedig: welcher genannte ausgezeichnete maëstro sich jetzt, nach seinem letzten Brief zu schließen, in Wien befinden wird, ohne daß ich näher sagen könnte, wo daselbst und auch wie lange. —
Ihnen und Ihrem ausgezeichneten Freunde Herrn Widemann mich angelegentlich empfehlend
Ihr ergebener
Dr. Nietzsche
638. An Franziska Nietzsche in Schkortleben bei Weissenfels (Postkarte)
<Leipzig, 23. Oktober 1885>
Meine liebe gute Mutter,
leider ist jetzt, bei meinem äußerst wechselnden Befinden, gar nichts zu verabreden. Vielleicht reise ich noch auf einen Tag nach Naumburg: es wäre schön, wenn ich, auf dem Rückwege, in Corbetha meine verehrten Anverwandten und Dich selber begrüßen könnte. Vielleicht aber muß ich erst nach Dresden. Ich stecke in vielfacher Abwicklung von Geschäften. Das Geld Sch<meitzner>s habe ich glücklich in Händen, andre Projekte sind weniger glücklich bisher verlaufen. Sobald ich ein Ende absehe, schreibe ich Dir.
In herzlicher Liebe Dein F.
639. An Bernhard und Elisabeth Förster in Naumburg
<Leipzig, 29. Oktober 1885> Donnerstag früh.
Meine lieben Lieben,
es hat mir gut gethan, bei Euch zu sein. Den Abend speiste ich noch zu Eurem Andenken die mitgebrachten „Opfergaben“ auf, das Kalb und das Schöps (i. e. Edmund von Hagen) und war trotz eiskalter Stube guter Dinge und dankbar.
Schuch hat nicht gemuckst: womit diese Sache als erledigt zu betrachten ist. — Eben habe ich, weniger erheitert als verwundert, das „non remittendum“, die „Urtheile der Presse“ über E<dmund> v<on> H<agen> durchgemustert. Unter uns, in dieser Geschmacks-Sache sind die Wagnerianer (z. B. die Bayreuther Blätter) schlimm compromittirt. —
Der gute Heinze ist vorgestern bei dickem Regenwetter, bei mir, ich will sagen, in meiner Wohnung gewesen, um sich nach mir zu erkundigen. Heute soll ihm, zum Danke dafür, die „Intellektual-Krone“ aufgesetzt werden. —
Unterwegs fuhr ich mit einem Herrn und seiner Gattin zusammen, welche aus Graz kamen und mit Dr. v. Hausegger befreundet waren: sie erzählten von dessen Vegetarianisme.
Mein liebes Lama, sende dem Onkel Bernhard das türkische Kaffeegeschirr — der Gedanke scheint mir sehr gut; und in Anbetracht, daß es etwas Ächtes und eine Curiosität ist, macht dergleichen vielleicht mehr Freude und ist besser in diesem Falle am Platze als wenn es in verhüllter Form einen „Lohn und Geldwerth“, eine Art Bezahlung darstellte.
Undeutlich ausgedrückt! —
Melde mir, bitte, das Resultat der Unterredung mit Kürbitz (gieb mir auch seine genaue Adresse) und verhandle mit ihm über den festen Termin, an welchem jedes Jahr die Zinsen übersandt werden können. Und rechnet zusammen möglichst exakt aus, wie viel die Zinsen nunmehr in einem solchen Falle jährlich betragen werden.
Heute wird Lorentz abgezahlt. —
Behaltet mich lieb!
Euer Fr. das einsamste aller Thiere.
(Ich denke Sonntag zu reisen.)
— Soeben stelle ich aus dem „Tageblatt“ fest, woher mein
verhältnißmäßiges Wohlbefinden von gestern kommt. Die Luftfeuchtigkeit war von 99 plötzlich auf 62 heruntergegangen (61 ist die Durchschnittsziffer für Nizza im ganzen Jahre). —
Eben las ich „gebrannter Java-Kaffee, großartig im Geschmack“!
NB. Wer einen großen Sprung will thun, der geht zurück. —
639a. An Unbekannt (vermutlich Reinhart von Seydlitz in München)
<Nizza, vermutlich zweite Hälfte März 1885>
Werther Freund
ganz krank, unerträglich: also — ich muß mein Telegramm widerrufen und weiß in der That nicht, wann und ob ich kommen kann.
Caccianiga, il dolce far niente
2 ed. Milano Treves
640. An Franziska Nietzsche in Schkortleben bei Weissenfeis (Postkarte)
<Leipzig, 30. Oktober 1885>
Meine liebe Mutter, bitte komm Sonntag den ersten November zu mir; Nachmittags gegen 6 Uhr ist meine Abreise von hier, da haben wir schöne Zeit mit einander, vorausgesetzt, daß Du die Güte hast, 10 Uhr 56 Vormittags hier einzutreffen. Natürlich werde ich am Bahnhofe sein. — Stelle Dir vor, daß ich vorigen Dienstag, gerade während Förster’s bei Dir waren, in Naumburg vorsprach. Doch habe ich die Zeit bis Abends 8, wo sie kamen, gut benutzt und Besuche gemacht (bei Försters Alwinchen, bei dem Referendar Schenk, bei dem Banquier Kürbitz und bei der alten Räthin Pinder) Das Wetter wurde so abscheulich, daß ich es nicht wagte, Dich und meine lieben Anverwandten für den nächsten Tag zum Rendezvous in Corbetha einzuladen: was anfänglich meine Absicht war. Hier bin ich jetzt mit dem Geschäftlichen ziemlich zu Ende — und mit dieser ganzen nordischen Reise nachgerade nicht unzufrieden.
Von Herzen Dein
F.
641. An Elisabeth Förster in Naumburg (Postkarte)
<Florenz, 7. November 1885>
Meine Lieben, ich bin noch nicht „an der Stelle“, Florenz paßt nicht, es ist laut, ungleich gepflastert und voller Wagen-Gefahr für mich. Von Montag an ist meine Adresse: Vallombrosa per Pontassieve (Italia). Lanzky läßt mir dort das beste Zimmer zurichten. In München, wo es 7 Tage keine Sonne gegeben hatte, verbrachte ich einen Vormittag bei Rothpletzens und den Abend bei Seydlitzens; mit letzteren namentlich war es erquickend. Ich reiste, ausgezeichnet von Frau v. S<eydlitz> mit Beefsteaks à la Wiel und einer Flasche Thee ausgerüstet, ab, trug Sorge für eine ganz naive alte Pfarrerin, welche ohne jegliche Kenntniß von Geld, Land und Leuten sich „nach dem Süden“ mit ihrer Tochter aufgemacht hatte. — Ich bin in Flo<renz> einen halben Tag nicht dazu gekommen, an mein Unterkommen zu denken (Lanzky war nicht da, mein Telegramm hatte ihn nicht erreicht, weil er verreist war). In herzlicher Liebe
F.
642. An Franziska Nietzsche in Schkortleben bei Weissenfels (Postkarte)
<Florenz, 7. November 1885>
Meine liebe gute Mutter, einen Gruß aus Florenz, wo es trübe und regnerisch und ganz und gar nicht in der Art der riviera ist. Übermorgen ziehn wir (d. h. Hr. Lanzky und ich) uns in die Wald- und Berg- und Klostereinsamkeit von Vallombrosa zurück, es ist gar nicht weit. Man macht mir dort das beste Zimmer zurecht; Stille werden wir haben, der Ort ist berühmt, Dante und Milton haben ihn verherrlicht, letzterer in der Schilderung des Paradieses. Jetzt ist darin eine große Forstlehranstalt; abgesehn und abseits von dem Hôtel, wo wir Zwei wohnen werden. Höhe circa 3000 Fuß, also frische Luft, gelegentlich Schnee. — Die Reise war eine schreckliche Strapatze; ich mußte zualledem noch die Sorge für eine alte Pfarrers-Wittwe und Tochter übernehmen, welche mit großem Muthe und völliger Unwissenheit sich „nach dem Süden“ aufgemacht hatten. Jetzt habe ich sie glücklich untergebracht, sie waren ganz hülflos. — Wie schön war es, daß Du bei meiner Abreise bei mir warst! Allerschönsten Dank!
F.
643. An Paul Lanzky in Florenz (Fragment)
<Vermutlich: Genua, 9./10. November 1885>
Mein lieber Herr Lanzky, ein Bedenken, welches man mir auf der Post machte (ob es überhaupt ein „valli di Siena“ gäbe, oder ob hier nicht vielleicht durch einen Schreibfehler villa di Siena — — —
644. An Elisabeth Förster in Naumburg (Postkarte)
<Nizza, 11. November 1885>
Wundert Euch nicht zu sehr, meine Lieben, wenn sich heute der Hamletische Maulwurf aus Nizza und nicht aus Vallombrosa („Schattenthal“ —) verlautbart. Es war mir sehr werthvoll, fast gleichzeitig die Luft von Leipzig München Florenz Genua und Nizza zu experimentiren. Ihr könnt gar nicht glauben, wie sehr bei diesem Wettkampfe Nizza triumphirt hat. Meine Wohnung ist nach wie vor Pension de Genève, petite rue St. Etienne; sie ist inzwischen durch Umbau und gänzliche Erneuerung von Stoffen und Farben sehr appetitlich geworden. Mein Tischnachbar ist ein Bischof, ein Monsignore, der Deutsch redet. Euer viel viel gedenkend
Prinz Eichhorn.
645. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Nizza, 12. November 1885>
Lieber Freund, nur ein Gruß und Glückwunsch von einem, der unterwegs und „unausgepackt“ ist, der aber nicht unter den Gratulanten Deines Geburtstags fehlen möchte. Möchte das neue Jahr uns endlich auch einmal wieder zusammenführen! Es giebt so Vieles zu sagen, es wird immer schwerer und unthunlicher zu schreiben. In den letzten 2 Monaten habe ich eine respektable voyage en zigzag gemacht, und meine stille Hoffnung, es fände sich dabei etwas Neues für mich, sei es Ort oder Mensch, blieb unerfüllt. Um so strenger machten Kopf und Gesundheit ihre Ansprüche geltend: es scheint, daß Nizza und Sils-Maria nicht zu überbieten und auch nicht zu ersetzen sind. In München fand ich in der Theresienstr. das freundlichste Willkommen, München selbst blieb winterlich und sonnenlos. — Schmeitzner hat gezahlt. Meine Adresse Nizza poste restante. In Liebe und Dankbarkeit.
N.
Deine zwei Teichmüller liegen vor mir und folgen demnächst.
646. An Elisabeth Förster in Naumburg
<Nizza, 23. November 1885.> Montag.
Inzwischen ist der dicke Brief, mein liebes Lama, von Vallomarosa nach Nizza gewandelt; insgleichen der Brief unsrer guten Mutter. Habt den allerschönsten Dank! Heute ein paar geschäftliche Notizen (ich bin immer noch von einer gründlichen Erkältung her indisposé und embêté)
Die zwei gewünschten Scheine für Herrn Kürbitz folgen anbei. Erstaunlich, daß sie aus all dem Krimskrams von Papieren zu Tage kamen!
Die Löschungsurkunde, welche, wie es scheint, Herr Kaufmann mitgeschickt hatte, (auf seinem Briefe steht unten „anbei Löschungsurkunde“) habt Ihr wohl zurückbehalten? Meine genaue Adresse hierselbst ist: rue St. François de Paule 26, 2 étage, á gauche
Doch werde ich’s schwerlich bis weiter als zur Mitte Dezember darin aushalten, es fehlt der Ofen, und Vieles ist da, was fehlen dürfte. Ich muß ernstlich darauf bedacht sein, meinem Leben hier eine festere Form zu geben; so lange diese nicht hergestellt ist, bleibt mir als Zuflucht immer nur die schweizerische Pension de Genéve, welche in 2 Hinsichten sehr lobenswerth ist: es ist still daselbst, ebenfalls reinlich — und dies Mal fehlen die degoutanten Menschen. Die Küche ist, in Hinsicht auf Simplizität der Bereitung und Qualität des Fleisches, vielleicht das mir Angemessenste: nur muß ich mit etwas Grahambrod nachhelfen. —
Ich gestehe, daß ich eine überraschend wohlthätige Wirkung gespürt habe, seit ich jeden Abend mit einem Glase Bier beschließe. Gerade in solchen stimulanten Klimaten scheint das Bier wie ein Medikament zu dienen. —
Die zwei letzten Monate waren ein tolles Wagniß für mich, ich kann es gar nicht ausdrücken, was es heißt endlich den Kopf wieder frei haben! Zu alledem haben wir hier ein für Nizza abscheuliches und unziemliches Wetter; und trotzdem empfinde ich den Unterschied, wie als ob ich aus einem Gefängnisse entschlüpft wäre. —
Es war sehr nützlich, obschon äußerst kostspielig, ein Paar Möglichkeiten, die mich hier und da noch verlockten, nämlich München, andrerseits Florenz, endlich Genua, kurz hintereinander erprobt zu haben: alles nichts für mich! Nichts ersetzt mir die Luft von Nizza und die großartige Freiheit dieser cosmopolis, Freiheit in landschaftlicher und menschlicher Beziehung. Außerdem ist es eine Stadt, wo Einer billig leben kann, sogar lächerlich billig; und wenn ich’s noch nicht dazu gebracht habe, so liegt es an meinen Augen und andern Unvollkommenheiten. Das Volk lebt vegetarisch, abgesehn von Fischen.
Mein liebes Lama, hilf mir und schlage bei Wiel nach: der erwähnt ein kleines „genial construirtes“ Maschinchen, womit man Eier zu Schaum schlägt (unter dem Capitel „Eierspeisen“ oder sonstwo) Für den Fall, daß Ciaire Heinze im Frühjahr hierher kommt, hat sie vielleicht die freundschaftliche Gefälligkeit, mir dies Maschinchen mitzubringen. Nota bene! Herr Köchlin hat mir Viel von einer schweizerischen Colonisation, mit Baseler Geld und Frömmigkeit unternommen, auch in den Laplatastaaten (von Rosario aus) erzählt, welche nicht geglückt ist. Er wundert sich, wie man sich nicht mit den jetzigen deutschen Verhältnissen vertragen könne, welche so sehr viel günstiger und solider seien als die in Frankreich oder Italien oder Schweiz oder überall. Du siehst, man beneidet unsre Zustände im Auslande.
Ich lese in Försters Buche und meine, daß einem braven Ackerbauer und Viehzüchter dabei das Herz wackeln muß. Für eine andre Art Menschen wird es weniger verführerisch sein. Die Abwesenheit großer Bibliotheken ist vielleicht nicht genügend ins Licht gestellt. Verzeihung, mein altes Lama, wenn das kränkliche Culturthier, Dein Bruder, sich gar noch Scherze erlaubt.
Lebt wohl, meine Lieben, und muthig und vergnügt, auch mit guten Erinnerungen an
Euren Fritz.
647. An Reinhart und Irene von Seydlitz in München
<Nizza, 24. November 1885>
Meine lieben Freunde,
nach einem kleinen Umweg über Florenz — es geht in meinem Leben nichts ohne Seitensprünge ab — bin ich endlich wieder in meiner Residenz Nizza angelangt und ungefähr, sehr ungefähr „ausgepackt“: — zwischen Nizza und meiner Engadiner Einsiedelei von Sils-Maria wird sich nunmehr der Rest meines Lebens abspielen, die allerliebsten Intermezzi von Venediger Aufenthalten und Gondelfahrten zu Dreien hübsch eingerechnet! Wie schön verpflegt, anglo-amerikanisch, wie man’s hier heißen würde, bin ich von Eurem München abgereist! und wirklich habe ich mit dem herzlichsten Angedenken jeden Schluck getrunken und jeden Bissen gekaut (— man kaut, um gut zu kauen, an einem Bissen 30 bis 70 Mal: das habe ich vom Philister Gladstone gelernt, der seine Kinder bei Tische zählen heißt —).
Hier wohne ich „Square des Phocéens“, am Meere: die ungeheuerliche Art Kosmopolitismus, welche in dieser Wortverbindung steckt, macht mir Vergnügen. In der That haben einst Griechen hier gewohnt.
In Florenz überraschte ich den dortigen Astronomen auf seiner Sternwarte, welche den schönsten Gesammt-Überblick über Ort, Thal und Fluß giebt. Sollte man’s glauben, daß er neben seinem Arbeitstische die sehr zerlesenen Schriften Eures Freundes hatte und daß er, ein schneeweißer alter Mann, mit Begeisterung Stellen aus „Menschliches, Allzumenschliches“ recitirte? — Das Bild dieses vollkommen und hochgearteten Eremitenthums war das kostbarste Geschenk, das ich von Florenz mitnahm: — zugleich freilich auch der schmerzhafteste Biß, nämlich ein Gewissensbiß. Denn ersichtlich hatte dieser einsame Forscher es in der Weisheit des Lebens (und nicht nur in der Entdeckung von Kometen und Orion-Nebeln) weiter gebracht, als Euer Freund.
Auch war er gesund: und wenn ein Philosoph krank ist, so ist er beinahe schon ein argumentum gegen seine Philosophie. Inzwischen dürfte ich geltend machen, daß ich „reißend schnell“ gesund und immer gesunder werde, seit ich meine Philosophie habe und nicht mehr „falschen Götzen“ diene.
Es giebt ein artiges provençalisches Wort, welches ich immer besser verstehn lerne (— und das ist viel bei einem Deutschen) gai saber.
Behaltet lieb
Euren Freund
Nietzsche.
Adresse: Nice (France) poste restante.
Le japonisme meines Freundes Seydlitz und Gedanken über die ästhetische Tartüfferie des jetzigen Europa’s haben mich die ganze Reise über beschäftigt.
648. An Heinrich Köselitz in Wien
Nizza, 24. Nov. 85.
Lieber Freund,
endlich, nach langen Umschweifen, zur Vernunft zurückgekehrt (welche in diesem Falle Nizza heißt), bekomme ich auch schon eine Belohnung dafür, nämlich sehr ersehnte Nachrichten über Sie, einmal durch Sie selber, sodann durch Frau Röder. Es sind schlechte Nachrichten im Grunde; aber so, wie Sie sind, muß Ihnen das Schlechteste zum Vortheile gereichen — verzeihen Sie diesen Optimismus, der zum Mindesten aus der bona fides eines Freundes stammt. Sie haben „den Wind gegen sich“: gesetzt daß Sie schwindsüchtig und übermäßig zärtlich angelegt wären, so müßte man für Sie die größte Angst haben (zum Beispiel ich selber hätte für mich selber in Ihrem Falle wenig Zutrauen). Aber mit Ihren „starken Lungen“, Ihrer lebenslangen Übung im Alleinsein, Ihrer schweigsamen Tapferkeit werden Sie Herr über alle schlechten Winde werden, — und vielleicht sogar noch etwas „herrischer“ und „selbstherrlicher“ als bisher. Ein ganz alter Römer sagt von einem gleich Ihnen Kämpfenden:
„increscunt animi, virescit volnere virtus“
(es schwillt der Muth, durch die Wunde erst tritt die Tapferkeit in Saft und Kraft). Man soll es Ihrer Musik schon einmal anhören, was Krieg und Sieg sind.
Dieser Tage erquickte es mich zu erfahren, daß diese Stadt, welche ich nicht mehr wechseln und eintauschen darf, in ihrem Namen etwas vom Siege hat. Und wenn Sie hören, wie der Platz heißt, wohinaus mein Fenster schaut (herrliche Bäume, in der Ferne röthliche große Gebäude, das Meer und die schön gewundene baie des anges), nämlich „square des Phocéens“, so werden Sie vielleicht gleich mir über den ungeheuren Cosmopolitismus dieser Wort-Verbindung lachen — wirklich haben Phoceer einstmals hier sich angesiedelt — aber etwas Siegreiches und Über-Europäisches klingt heraus, etwas sehr Tröstliches, das mir sagt „hier bist du an deinem Platze“.
Inzwischen nämlich prüfte ich München, Florenz, Genua, — aber es schickt sich für meinen alten Kopf nichts Anderes als dies Nizza, abgerechnet ein paar Monate Sils-Maria: obgleich der Sommer sogar hier erquicklicher sein soll als an irgend einem Binnen-Orte Deutschlands (die Abende frische Meerbrisen, die Nächte kühl). Die Luft ist unvergleichbar, die anregende Kraft (ebenso die Lichtfülle des Himmels) in Europa nicht zum zweiten Male vorhanden. Ich erwähne endlich, daß man hier billig, sehr billig leben kann, und daß der Ort umfänglich genug ist, um jeden Grad einsiedlerischer Verborgenheit zu gestatten. Die ganz ausgesuchten Dinge der Natur, wie die Waldwege am nächsten Berge, wie die Halbinsel St. Jean, hat unsereins für sich; ebenso ist die ganze herrlich-freie Promenade am stark brandenden Meere (c. dreiviertel Stunde lang —) nur für ein paar Stunden des Tags besucht. Vergeben Sie mir, daß ich mich öfter im Geiste mit Ihrem Loose beschäftige und dabei nicht selten zu dem Schlusse komme: Sie sollten es einmal mit diesem Nizza versuchen und Deutschland Deutschland sein lassen. Wir selber, als arbeitsame und solitäre Thiere, werden uns hübsch aus dem Wege gehn, aber hier und da ein kleines Fest des Zusammenseins veranstalten. Zuletzt bin ich einer der besten Liebhaber Ihrer Musik — es würde mir im letzten Theile meines Lebens etwas Nicht-zu-Ersetzendes fehlen, wenn Sie und Ihre Kunst mir gänzlich abhanden kämen. (Gefällt es Ihnen hier nicht, so ist jeden Sonnabend Abend ein Schiff bereit, Sie nach Ajaccio zu führen. Sie schlafen die Nacht durch und finden sich früh morgens im Hafen von A<jaccio)>.) Von Genua bis Nizza fährt man präcise 5 Stunden (7 Uhr morgens ab, Ankunft um 12). Es ist nicht nur Neugierde, welche mich fragen macht, wie auf Sie gerade dies Clima wirken möchte; es ist ebenfalls nicht nur das Verlangen eines Freundes. Man ist hier so „außerdeutsch“ — ich kann es nicht stark genug ausdrücken.
Behalten Sie lieb Ihren Freund N.
Adresse: Nice (France), poste restante.
649. An Franz Overbeck in Basel
<Anfang Dezember 1885.> Nice, nie St. François de Paule 26 (2me étage à gauche)
Lieber Freund,
Dein Brief macht mir eine herzliche Freude: Du siehst, ich „antworte“ sofort darauf, obwohl im Grunde nach gar nichts „gefragt“ ist. Es ist ein Glück, daß es nicht viel Neues zu melden giebt, das Neue hat gewöhnlich seinen Haken. Die Gesundheit ist besser als unter deutschem Himmel, der Kopf freier, die beständige Verstimmung, an der ich in Naumburg und Leipzig litt (— ich gab mir die beste Mühe, sie zu verbergen —) hier wenigstens nicht mehr „beständig“. Ein Zeichen davon ist es, daß ich wieder im Experimentiren mit Wohnungen usw. bin; in der braven Schweizer Pension hielt ich mich nur 3 Tage auf, doch komme ich oft genug auf sie zurück, — vielleicht nachdem ich, wie nun schon 2 Winter, durch die erwähnten Experimente mich zur Verzweiflung gebracht habe. Es muß sich etwas Unabhängiges und mir Angemessenes schließlich finden lassen: aber ich zweifle immer mehr, daß ich’s finde. Weshalb ich Menschen brauche, die für mich sorgen. Das Unpraktische meiner Natur, die halbe Blindheit, andrerseits das Ängstliche, Hülflose, Entmuthigte, was in der Consequenz meiner Gesundheit liegt, schraubt mich oft in Lagen fest, die mich fast umbringen. —
Fast sieben Jahre Einsamkeit und, zum allergrößten Theil, ein wahres Hundeleben, weil es an allem mir Notwendigen fehlte! Ich danke dem Himmel, daß es Niemand so recht aus der Nähe mit angesehn hat (Lanzky abgerechnet, der immer noch ganz außer sich darüber ist.) Und zu dem Allen diese Überzahl von schmerzhaften, mindestens verhängten Tagen, gar nicht von der verzweifelten Langeweile zu reden, in die Jeder geräth, welcher der „Distraction der Augen“ enträth! Ich meine, man hätte mir einen ziemlichen Grad von Pessimismus und Resignationismus nachsehn müssen; aber ich selber habe mir ihn nicht „nachgesehn,“ vielmehr mich aus Leibeskräften dagegen gewehrt. (Das stärkste Stück darin, das ich geleistet habe, war, unter was für Verhältnissen ich meinen Zarathustra begann und durchsetzte: — ich will keinen Tag von den 3 letzten Jahren zum zweiten Male durchleben, Spannung und Gegensätze waren zu groß!)
Dies unter uns, mein lieber alter Freund! Es gäbe so Vieles „unter uns“ zu sagen! Brieflich, ich weiß nicht, wie groß mein Mißtrauen gegen Briefe geworden ist. — Es fällt mir ein, daß ich über Deine bei Schm<eitzner> erschienenen Schriften meine Ansicht gegen Credner gründlich ausgelassen habe; es lag mir daran, für den Fall, daß der Schmeitzner’sche Verlag versteigert wurde, daß der sehr achtbare Credner sich dabei auch Deiner Schriften bemächtigte. Leider, so muß ich sagen, war diese Versteigerung nicht durchzusetzen; und Deine wie meine Schriften liegen vollständig vergraben und unausgrabbar in diesem Antisemiten-Loch. (Das ist meine Einsicht in die Sache: Schmeitzner selber denkt nicht anders darüber.) Meine „Litteratur“ existirt nicht mehr —, mit diesem Urtheile habe ich Abschied von Deutschland genommen, gar nicht desperat etwa! — vielmehr empfand ich, wie viel Mohn in dieser oblivio liegt und welchen Werth es hat, daß ich meinen sehr umfänglichen und nicht ungefährlichen Gedanken ohne die Neugierde eines „Publikums“ nachlaufen kann. Niemand in Deutschland weiß (auch wo man mich gut zu kennen glaubt) was ich von mir will, oder daß ich etwas will; und daß ich davon, unter den schwierigsten Umständen, sogar ein gut Stück schon erreicht habe. — Mit Credner war ich über eine zweite Auflage von Menschl., Allzumenschliches einig geworden, für welche ich Alles (bis auf die Abschrift) bereit gemacht hatte — ein ganzer Sommer Arbeit steckt darin! Schmeitzner schob einen Riegel vor, indem er für die Vernichtung der noch übrigen Exemplare der ersten Auflage die Summe von 2500 Mark verlangte. Damit, wie ich begriffen habe, ist für immer die Möglichkeit zweiter Auflagen ad acta gelegt. Schm<eitzner> selbst hält meine Bücher jetzt für Blei (sie werden überall unter die „antisemitische Litteratur“ gerechnet, wie mir von den Leipziger Buchhändlern bestätigt wird —, und nun macht mir gar der gute Widemann den Streich, mich in Einem Athem mit dem greulichen Anarchisten und Giftmaule Eugen Dühring zusammen zu loben!) Vom Zarathustra sind nicht hundert Exemplare verkauft (und diese fast nur an Wagnerianern und Antisemiten!!) Kurz, es giebt Gründe zu lachen und den Rücken zu kehren. Das Beste ist, daß sonst alles hübsch wieder in Ordnung ist, daß Schm<eitzner> gezahlt hat (nicht ganz so viel als ich Dir schrieb, aber doch mehr als 5000 Mark), daß meine Angehörigen mich mehr lieben als je, daß man mit meinem Aussehn zufrieden ist, daß meine Schwester nunmehr alle Hände voll zu thun hat, in einer Richtung, wo für mich keine malheurs herauskommen, daß Nizza und Sils-Maria entdeckt sind, und daß augenblicklich eine Art halkyonischer Zustand erreicht ist, der dem Zustandekommen einer Philosophie nicht ungünstig sein soll. Und Du, mein lieber Freund, behältst lieb Deinen
N.
Bitte, wenn das Geld flügge wird, sende es, wie sonst (womöglich französisches Papier) einfach récommandé! Ich bin neugierig, wie es mit der Baseler Pension sich gestaltet. — Rée’s Buch, prachtvoll klar und durchsichtig, giebt mir nichts Neues, wo ich es erwartete; — und für eine historische Beweisführung des Alten fehlt ihm gerade Talent und Umfang des Wissens. Vom „Kampf um Gott“ hattest Du noch nicht geschrieben — abgesehn ein Wort von dem Eindrucke, den Deine liebe Frau habe („sie habe Respekt“). Ich bin sehr gut über Eure Universitäts-Festlichkeiten unterrichtet, man versorgt mich mit Basler Nachrichten.
650. An Heinrich Köselitz in Wien
Adresse: Nice, rue St. François de Paule 26, II <6. Dezember 1885>
Lieber Freund,
eben kommt Ihr guter Brief mir zu Händen: ich weiß nichts Besseres zu thun, als sofort darauf zu „antworten“ — so groß ist meine Freude über Ihre Geduld und Ihr Ausharren in Wien. Gesetzt, daß Alles zuletzt umsonst war, und der Norden vorläufig noch nichts von Ihrem „Süden“ wissen und hören will: so haben Sie nicht nur eine Schuldigkeit abgethan — es scheint mir, Sie haben selbst dann mehr erreicht. Sie dürfen sich für eine gute Zeit wieder die ganze Frage von „Angebot und Nachfrage“ aus dem Kopfe schlagen, und, mit gutem Gewissen, wieder in jenen himmlischen Abgrund der Einsamkeit des Schaffenden stürzen, in dem Sie gelebt haben, — in dem wir leben müssen, in dem, zuletzt, wir allein leben können! Ich habe es, mit meinen zwei Monaten in Deutschland, gerade so weit gebracht als ich es Ihnen hiermit wünschen möchte: es kam mir zur vollen Klarheit, daß ich dort gegenwärtig noch nichts zu suchen habe, und daß andre Aufgaben und „Aufgeber“ dort am Platze sind. Diese Klarheit hat mich nicht getrübt — Sie dürfen mir’s glauben —, umgekehrt, noch niemals bin ich in einer solchen halkyonischen Meeresstille und Unbekümmertheit in meinem Süden angelangt, so daß selbst die Leibes-Gesundheit sich verbessert zu haben scheint, trotz der greulichen Strapatzen, welche ich mir seit Sils-Maria zugemuthet habe.
Schmeitzner hat gezahlt; für eine zweite Auflage von Menschl<iches>, Allzum<enschliches>, welche ich mit viel Fleiß in diesem Sommer vorbereitet hatte, war ein ausgezeichneter Verleger gefunden: — schließlich bekam ich einen Brief Sch<meitzner>s, der mir ein für alle Mal den Glauben an die „zweiten Auflagen“ genommen hat (er verlangte, seinerseits, als Entschädigung für den Rest der ersten Auflage 2500 Mark), zugleich mit so unschicklichen Vorschlägen über die Mittel, meine Litteratur verkäuflich und um mich herum Lärm zu machen, daß ich seitdem verstummt bin und stumm bleiben will. Leider verwies er mich, hinsichtlich der angedeuteten Lärmtrommel-Mittel, auf Hrn. Widemann, der mir noch Näheres mittheilen werde: Grund genug für mich um Hrn. W<idemann> nicht zu sehn und als nicht vorhanden zu betrachten. Es ist ein Malheur, daß er diesem Schm<eitzner> so nahe steht: er ist mehreremal vermittelnd in der Prozeßsache Sch<meitzner>’s aufgetreten (sein Vater war Sch<meitzner>’s Advokat) Zuletzt ist mir noch niemals eine solche Verunglimpfung zu Theil geworden als durch seine Zusammenstellung der Namen „Dühring“ und „Zarathustra“: — an diesem Zeichen habe ich genug. Die Antisemiterei vernichtet allen feineren Geschmack, auch bei Zungen, die von Anfang an nicht belegt sind. — Daß jene zweite Auflage nicht möglich ist, thut mir wohl; ich habe bereits herausgerechnet, daß sie nicht nöthig ist, — daß vielmehr eine tiefe Stille über mich, eine Art Begrabensein (meine Schriften sind buchstäblich bei Schm<eitzner> begraben und unausgrabbar) zu den Bedingungen gehört, unter denen allein noch Etwas in mir wachsen kann. — Ich guckte eben links: blaues Meer, eine Bergkette darüber und, in der Nähe, mächtige Eucalyptus-Bäume. Der Himmel leuchtet.
Erwägen Sie recht den schönen Begriff Nizza (der Name ist griechisch und spielt auf einen Sieg an) — es ist „Cosmopolis“, wenn es eins in Europa giebt! Man ist dem feinen französischen Geiste näher (ein neuer Band psychologie contemporaine von Paul Bourget liegt neben mir) und doch wieder nicht zu nahe: meine Straße, mit dem großen italiänischen Theater, ist eine Musterstraße nach italiänischem Schema, — und die Menschen darin ächte rechte Rivieresen. Bei hellstem Himmel sieht man Corsica, sogar von meinem Fenster aus. Die Capelle in Monte Carlo wird jetzt von einem Deutschen dirigirt. Den 23. Januar singt die Lucca hier Carmen. — Trattorien, wo Sie so gut wie in der Panada, (oder vielmehr besser und billiger) essen (vortrefflicher Landwein!) giebt es gleichfalls. Wollen Sie ein Paar Stunden geben, so fehlt es nicht an Auswahl unter vornehmen Russinnen und Polinnen (diese Art herrscht hier).
Ihnen herzlich zugethan und voller Wünsche und Hoffnungen
F. N.
— Was ich darum gäbe, Ihr Septett zu hören! Was ich neidisch auf die Wiener bin! — Läßt es sich mit Carlsruhe machen, so komme ich hin. Frau Röder schrieb sehr artig von dort. (Soll ich an Mottl schreiben? —)
651. An Heinrich Köselitz in Annaberg
Nice (France) rue St. François de Paule 26, II <10. Dezember 1885>
Lieber Freund,
vielleicht kommt ein an Sie nach Wien abgesandter Brief doch noch in Ihre Hände (vorausgesetzt, daß Sie daselbst, Hauptpost poste restante, Ihre Annaberger Adresse aufgegeben haben oder aufgeben wollten). Zuletzt wundere ich mich über einen geheimen „Parallelismus“ unsrer diesjährigen Erlebnisse und voyages en zigzag, bis zu dem Grade, daß ich mich fast darüber freue: — am Ende nämlich ist ein großes Gefühl von Ruhe und sanfter Gleichgültigkeit über mich gekommen, von dem ich wünsche, daß es auch Ihre Belohnung sein möchte. Es ist jetzt Niemand in Deutschland, der weiß, was ich will oder daß ich etwas will oder gar daß ich davon schon ein genügendes Theil erreicht habe, — Niemand, dem meine „Sachen“ recht von Herzen Vergnügen oder Besorgniß und Noth oder irgend Etwas machten —. Nun, vielleicht ist dies zu wissen eine unschätzbare Einsicht, mit ihr ist man den Gärten Epikurs ganz nahe gekommen, vor Allem aber sich selber, — man springt nach dieser Einsicht mit einem muthwilligen Sprunge zu sich selber zurück. Fahren wir fort, Das zu machen, was uns wohlthut, wobei wir es bei uns selber zu einem guten Gewissen bringen: der Rest ist Schweigen oder gloria, „wie es Gott will“ —.
Für eine Reihe Jahre Sicherheit zu haben und nicht gefährlichen Zufällen ausgesetzt zu sein: dazu muß Einiges erfunden und ausgedacht werden. Ich rede jetzt von Ihnen, lieber Freund. Es ist ganz in der Ordnung, daß Sie erst noch den Versuch mit Carlsruhe machen. Ob er nun gelingt oder nicht gelingt, gleich darauf haben Sie sich wieder nach einer Einsiedelei umzusehn. Der Unmuth über einen nochmaligen Mißerfolg dürfte Sie, wie ich es billig, aber schmerzlich empfinde, nach Venedig zurück treiben, als nach dem einzigen Orte, der für Sie bewiesen ist. Wenn ich mir erlaubte, Ihnen in meinen letzten Briefen Nizza anzuempfehlen, so weiß ich freilich, worin das Haupt-Hinderniß für Sie liegen dürfte, und warum Sie fürchten werden, hier nicht Eremit genug zu sein. Indeß: erwägen Sie, daß die 4 Monate, welche ich mich wahrscheinlich jedes Jahr hierselbst aufhalte, nur den dritten Theil des Jahres ausmachen, zweitens, daß es gerade die 4 Arbeits-Monate für mich sind, in denen ich „den Menschen“ aus dem Wege gehe, vielleicht sogar den Freunden; erwägen Sie vor Allem, daß es ein Freund ist, mit dem man eine strenge Verabredung machen kann, und der an allen Ihren Arbeits- und Lebens-bedingungen beinahe ein persönliches Interesse hat. Andererseits nämlich räth Vieles zu Nizza: es ist ein Ort, um das ganze Jahr daselbst zu leben —, Sie werden den Sommer viel erquicklicher finden als Venedig ihn geben konnte, Dank den nächtlichen Seewinden und Abkühlungen. Sodann ist Nizza, ästhetisch genommen, die entgegengesetzte Art Süden als Venedig es war; es schiene mir eines Versuches würdig, zu sehen, was Ihnen die Musen oder der Mistral oder der leuchtende Himmel hier zu erzählen hätten. Drittens leben Sie hier billiger als an jedem andren Orte der riviera: N<izza> ist ein großer freimüthiger Ort, der es ungefähr Jedermann recht zu machen versteht. Die Preise sind billigerweise während der Winter-Saison höher, man sagt mir, daß sie im Sommer um die Hälfte fallen. Trotzdem hätte ich auch für den Winter Ihnen respektable Trattorien zu empfehlen, wo Sie essen werden, wie Sie es in Venedig gewohnt sind, eher billiger, eher besser. Es ist ein himmlischer Umstand, daß Sie nicht die Üppigkeits-Gelüste der meisten Künstler haben, und daß Ihr so würdiges Leben auch die Tugenden der Einfachheit und Sparsamkeit in sich schließt. — Später werden Sie natürlich einmal ein reicher Mann: aber es liegt heute Alles daran, daß es Ihnen erspart bleiben muß, sich um dies „Später“ zu sorgen. Ihre Kunst will es, daß Sie sorglos leben, nicht wahr, mein lieber Freund?
Ihr N.
652. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Adresse von nun an Nice (France), rue St. François de Paule 26 II <10. Dezember 1885>
Meine liebe Mutter
heute möchte ich, außer meinem Danke für Deinen herzlichen Brief, bei Dir von wegen Weihnachtens anfragen: ob Du etwas weißt, womit unsre Lisbeth und ihr Gatte bei diesem letzten deutschen Weihnachten erfreut werden könnten? Bitte, beschaffe es in meinem Namen und Auftrage: und was Geld betrifft, so gehe zu Herrn Kürbitz, der giebt es Dir (ich will ihm einen kleinen Brief schreiben, namentlich auch in Hinsicht auf die Grabplatte, deren Kosten ich ganz auf mich zu nehmen gedenke, in Anbetracht erstens, daß ich als Sohn meines Vaters und meiner Mutter darauf das Vorrecht habe, und zweitens, daß es gerade für Dich keine Zeit ist, Geld zu außerordentlichen Dingen aufzubringen. Wenn es Dir so gefällig ist, kannst Du ja meine Intention zu Gunsten des bevorstehenden Festes auslegen und darin ein wohlgemeintes kleines Geschenk meinerseits erblicken)
Bitte, sage auch unsrer Lisbeth, daß ihr Gedanke betreffs Onkel Bernhard und die kleinen Löffelchen mir sehr gefiele, und daß sie ja dazu thun möge, was noth thut, mir zu Gefallen.
Das grüne Buch wird jetzt von Frau Pfarrer Hamann gelesen; sie ist voller Auszeichnung für die große Wahrhaftigkeit der Darstellung und versteht die Lage und Aufgabe aus einer Menge ähnlicher Erfahrungen heraus, welche sie innerhalb 50 Jahren in Amerika gemacht hat. Ich gestehe, daß sie mir große Scrupel in den Kopf gesetzt hat (sie meint, die Schwierigkeiten würden für eine Frau kaum überwindlich sein, selbst bei der stärksten Energie und der ausdauerndsten Gesundheit: — Männer könnten sich die Entbehrung, welche ein Weib in solchen Fällen durchzumachen habe, nicht deutlich vorstellen. Auch hält sie, so lange es nicht bessere kaufmännische Zustände, bessere Wege und bessere Regierungsbeamte giebt, alle Arbeit für aussichtslos, mindestens müsse die erste Generation sich als geopfert betrachten. Genug, sie nimmt einen Antheil an der Sache, bei dem nichts Erbauliches herauskommt: weshalb ich Dich bitten möchte, ihre Ansichten strengstens verschwiegen zu halten. Es ist dies selber der Wunsch der alten Frau, sie sieht, daß es zu spät ist, und daß zu späte Warnungen immer nur Malheur anrichten.)
Ich selber habe mich für 4 Monate hier festgesetzt und contraktlich verpflichtet. Das Zimmer, welches ich jetzt bewohne, ist, so lange ich lebe, das erste Zimmer, in dem ich ohne Überwindung und Widerwillen lebe — es entspricht den Haupterfordernissen meiner Gesundheit und meines Geschmacks. Es ist 20 Fuß lang, 14 Fuß breit und 14 Fuß hoch; das Fenster 8 Fuß hoch und 3 Fuß breit; dunkelgelb tapezirt, dunkler Fußteppich, das Bett drei Mal so groß als meins in Naumburg. Nichts darin erinnert an Eleganz, Luxus bric-à-brac und sonstigen weiblichen Zubehör; lauter nothwendige Dinge stehen darin, darunter auch ein ganz großer Arbeitstisch und ein „Voltaire“ (ein bequemer Gelehrten-Lehnstuhl, wie er mir in Deutschland noch nicht vorgekommen ist) Die Aussicht geht auf herrliche Bäume (Eucalyptus der größten Art) das blaue Meer und das Gebirge, vor Allem aber auf den leuchtenden Himmel. Die Sonne kommt Nachmittags, wie sie allein in Hinsicht auf meine Augen kommen darf. —
Ich bin betrübt über meinen vortrefflichen maëstro Köselitz. Es ist ihm auch in Wien schlecht gegangen; nun will er über Dresden Annaberg nach Carlsruhe und dort einen Versuch machen, seine Oper anzubringen. Es wäre mir sehr lieb, wenn Du ihn einlüdest, auf seiner Reise durch Naumburg zu kommen, und wenn es möglich wäre, ihm eine Ehre zu erweisen. Es ist der erste lebende Musiker, — aber die Welt braucht Zeit, sich für etwas Neues zu begeistern, wenn es zugleich etwas Gutes und Feines ist. Adressiere einfach: Herrn Heinrich Köselitz, Annaberg (Sachsen) Ich will, daß er nach Nizza kommt. —
Herzlich grüßend
Dein Sohn.
Sprich dem Lama meinen besten Dank für ihren Brief aus.
653. An Elisabeth Förster in Naumburg
Nice (France), rue St. François de Paule 26 II 20. Dez. 1885.
Mein liebes Lama,
hoffentlich ist kein Brief verloren gegangen; controliren kann ich es nicht mehr. Zuletzt bin ich vielleicht im Rückstande geblieben, weil es mit der Gesundheit nicht gut gieng: ich mag nicht viel davon reden, — da läßt man das Briefschreiben lieber ganz. Sieben Jahre Einsamkeit sind nunmehr vorbei, im Grunde bin ich ganz und gar nicht für Einsamkeit gemacht, und es begegnet mir jetzt, wo ich nicht mehr absehe, wie ich sie loswerde, beinahe alle Wochen ein so plötzlicher Lebensüberdruß, daß es mich krank macht. Meine Diät kommt mir recht vernünftig vor, Mittags trinke ich Milch zu etwas Grahambrod, Abends um 6 bin ich in der Pension de Genève zu Gaste, wo so gekocht wird, daß mein Magen dabei seine Rechnung findet. Schlafmittel brauche ich nicht mehr; wenigstens kommt mir das Seidel Münchener Kindl-Bräu, das ich öfter einmal zu mir nehme, mehr wie ein Verdauungsmittel vor, es ermüdet mich nicht. Gegen Grog habe ich jetzt einen Widerwillen. In meinem Zimmer friere ich leider zu stark, jetzt wo auch wir bis zu 4 Grad unter Null (gelegentlich —) hinab sinken; auch giebt es miserable Störung durch Musik, rechts durch ein Kind, das Tonleitern stümpert, hinter mir durch eine Violine und durch einen Trompeten-Virtuosen. So sehne ich mich auch hierin nach einer Verbesserung, doch nicht mehr für diesen Winter, wo ich aushalten will. Das Schlimmste ist, daß mir die menschlichen Ressourcen jeder besseren Art fehlen, ja daß ich kaum noch Menschen weiß, von denen ich wünschte, daß sie hier leben möchten. Ich hätte Köselitzen gerne hier, weil es jetzt der einzige Musiker ist, dessen Geschmack mir „schmeckt“ — und weil er einsiedlerisch und anspruchslos für sich zu leben versteht. Aber es ist mir mehr nöthig als nur gelegentlich einmal Musik. —
Inzwischen ist auch das allerliebste Maschinchen angelangt; gebraucht habe ich es noch nicht, was meinst Du, welche Art Topf dazu gehört? Es soll mir viel Vergnügen machen und mich immer schön an Dich erinnern. Wie dumm, daß ich Niemanden mehr zum Lachen habe! Wäre ich bei besserer Gesundheit und reich genug, so würde ich, nur um noch Heiterkeit zu haben, nach Japan übersiedeln (zu meinem größten Erstaunen fand ich, daß auch Seydlitz inwendig diese Umwandlung durchgemacht hat, er ist artistisch jetzt der erste deutsche Japanese — lies beifolgende Zeitungsberichte über ihn!) Ich bin gern in Venedig, weil es dort leicht japanesisch zugehn könnte —, ein paar Bedingungen dazu sind da. Das übrige Europa ist pessimistisch-triste, die gräßliche Verderbniß der Musik durch Wagner ist nur ein Einzelfall der allgemeinen Verderbniß und Trübsal. —
Da fällt mir ein, daß ich noch nichts von Krugs erzählt habe. Es mißrieth: ihre Karte welche an die pension de Genève addressirt war, wurde mir überbracht, als sie eben abreisten. Ich lief spornstreichs zur Eisenbahn, um sie noch zu erwischen. Umsonst! Der Zug war fort. —
Danke unsrer Mutter schönstens für das Brillenfutteral! Es ist wirklich mir sehr nöthig gewesen — ich schleppte mich schon zu lange mit den alten Ruinen. — Nun ist es wieder Weihnachten, und es ist ein Jammer, zu denken, daß ich immerfort (wie nun schon sieben Jahre) verurtheilt bin, wie ein Ausgestoßner oder wie ein cynischer Verächter der Menschen zu leben. Es sorgt sich jetzt Niemand mehr um eine Verbesserung meiner Existenz, das Lama hat „Besseres zu thun“ und jedenfalls genug zu thun! Alle die alten Bekanntschaften sind altbacken und steinhart geworden, — wenn ich dran denke, wie ich immer fürlieb genommen habe, so erschrecke ich vor der Zukunft, ich meine vor der Wahrscheinlichkeit, mit was für Menschen ich noch fürlieb nehmen werde, aus jener Noth, welche macht, daß der Teufel Fliegen frißt. — Das ist einmal ein schöner lustiger Weihnachts-Brief! Es lebe das Lama!
F.
Warum geht Ihr nicht nach Japan? Es ist das billigste Leben und so lustig! —
Besten Dank unsrer lieben Mutter für ihren Brief, auch den Gruß der alten Pfarrerin Hamann.
654. An Bernhard und Elisabeth Förster in Naumburg
<Nizza, gegen Ende Dezember 1885>
Meine Lieben,
es ist herrliches Wetter, da muß auch Euer Thier wieder ein fröhliches Gesicht machen, ob es schon recht melancholische Tage und Nächte gehabt hat. Weihnachten gerieth aber zu einem Festtage. Mittags bekam ich Eure liebe Sendung zu Hände<n>, und geschwind hing die Kette um den Hals, und das artige Kalenderchen kroch in die Westen-Tasche. Darüber ist nun freilich das „Geld“ entschlüpft, wenn nämlich Geld in dem Briefe war (unsre Mutter schreibt davon) Verzeiht es Eurem blinden Thiere, das seinen Kram auf der Straße auspackte: da mag wohl etwas daneben gerutscht sein, denn ich suchte sehr eifrig nach dem Briefe. Hoffentlich ist ein armes altes Weibchen in der Nähe gewesen und hat auf diese Weise ihr „Christkindchen“ auf der Straße gefunden. Dann fuhr ich nach meiner Halbinsel St. Jean, lief einen großen Weg um die ganze Küste ab und setzte mich endlich unter junge Soldaten, die Kegel schoben. Frische Rosen und Geranien in den Hecken, und alles grün und warm: gar nicht nordisch! Da trank denn Euer Thier drei ganz große Gläser eines süßen Landweins und war beinahe a bitzeli betrunken; wenigstens sagte ich nachher zu den Wellen, wenn sie gar zu heftig heran schnoben, wie man zu den Hühnern sagt „Butsch! Butsch! Butsch!“ Dann fuhr ich wieder nach Nizza und aß in meiner Pension zu Abend, fürstlich; auch brannte ein großer Weihnachtsbaum. Denkt euch, ich habe einen boulanger de luxe gefunden, welcher weiß, was „Quarkkuchen“ ist: er erzählte, daß der König von Würtemberg sich einen solchen zu seinem Geburtstage bestellt hat. Das fällt mir bei dem Worte „fürstlich“ ein. —
Ein Paar Tage krank. So blieb der Brief unbeendigt. Inzwischen schrieb Overbeck, daß Rohde einen Ruf nach Leipzig habe. Ob er ihn annimmt? Seltsam, es bewegt mich zu denken, daß jetzt in Leipzig oder seiner Nachbarschaft alles zusammenkommt, was mir das Gefühl giebt, nicht ganz heimatlos zu sein. Im Grunde war es auch diesen Herbst wieder hübsch in Leipzig; ein wenig melancholisch, aber gerade so, wie unsereiner alle Genüsse des Lebens gewürzt findet, mit einem alten kleinen Rosengeruch des Unwiederbringlichen.
Meine Augen werden über kurz oder lang es nur noch in Wäldern aushalten; aber alte Freunde müssen diesen „Wäldern“ nahewohnen. Heißt das nicht — alles gerechnet — „Rosenthal“? — Und zuletzt hat man, durch Leipziger Rathsbeschluß, dem Knoblauch den Krieg erklärt: (die einzige Form des Antisemitismus, welche Eurem kosmopolitischen Nashorn gut riecht) — Verzeihung!
In alter Liebe Euer F.
Himmel! Ich vergaß zum neuen Jahre Euch unbändig viel Glück und Gesundheit und Tapferkeit und gute Gedanken und treue Menschen zu wünschen! — —
NB Ich habe wieder schlafen gelernt (ohne Schlafmittel)