1888, Briefe 969–1231a
1056. An Franz Overbeck in Basel
Sils, Engadin, am 4. Juli 1888.
Lieber Freund,
inzwischen wirst Du, wie ich hoffe, zusammen mit Deiner vermuthlich arg übermüdeten armen Frau ein wenig zur Ruhe gekommen sein. Ich nehme an, daß das Gröbste im Probleme des déménagement überwunden ist. Mein Hauptwunsch dabei kann nur der sein, es möge der böse Gesundheitszustand, den Du zuletzt mir geschildert hast, nicht mit demenagirt sein. Gegen solche Gäste bleibt, hoffe ich, Deine neue Burg unerbittlich verriegelt. Sonst kann ich nicht umhin, auch in diesem Falle wieder die große Zähigkeit Deiner Natur zu bewundern. Darin bist Du mir weit über. —
Es fehlt mir nicht an Anlaß zu diesem Seufzer. Seit dem ich Turin verlassen habe, bin ich in einem miserablen Zustande. Ewiger Kopfschmerz, ewiges Erbrechen; eine Recrudescenz meiner alten Leiden; tiefe nervöse Erschöpfung verhüllend, bei der die ganze Maschine nichts taugt. Ich habe Mühe, mich gegen die traurigsten Gedanken zu vertheidigen. Oder vielmehr: ich denke sehr klar, aber nicht günstig über meine Gesammtlage. Es fehlt nicht nur an der Gesundheit, sondern an der Voraussetzung zum gesund-werden — Die Lebens-Kraft ist nicht mehr intakt. Die Einbuße von 10 Jahren zum Mindesten ist nicht mehr gut zu machen: während dem habe ich immer vom „Capital“ gelebt und nichts, gar nichts zuerworben. Aber das macht arm… Man holt nicht nach in physiologicis, jeder schlechte Tag zählt: das habe ich von dem Engländer Galton gelernt. Ich kann, unter begünstigenden Verhältnissen, mit äußerster Vorsicht und Klugheit ein labiles Gleichgewicht erreichen; fehlen diese begünstigenden Verhältnisse, so hilft mir alle Vorsicht und Klugheit nichts. Der erste Fall war Turin; der zweite ist, leider dies Mal, Sils. Ich bin in ein verdrießliches und unruhiges Winter-wetter hineingerathen, welches mir zusetzt, wie mir etwa ein Februar in Basel zusetzt. — Diese extreme Irritabilität unter meteorologischen Eindrücken ist kein gutes Zeichen: sie charakterisirt eine gewisse Gesammt-Erschöpfung, die in der That mein eigentliches Leiden ist. Alles, wie Kopfschmerz usw. ist nur Folgezustand und relativ symptomatisch. — Es stand in der schlimmsten Zeit in Basel und nach Basel genau nicht anders: nur daß ich damals im höchsten Grade unwissend war und den Ärzten ein Herumtasten nach lokalen Übeln gestattet habe, das ein Verhängniß mehr war. Ich bin durchaus nicht kopfleidend, nicht magenleidend: aber unter dem Druck einer nervösen Erschöpfung (die zum Theil hereditär, — von meinem Vater, der auch nur an Folgeerscheinungen des Gesammt-Mangels an Lebenskraft gestorben ist — zum Theil erworben ist) erscheinen die Consequenzen in allen Formen. Das einzige régime, welches damals am Platz gewesen wäre, wäre die amerikanische Weir-Mitchells Kur gewesen: eine extreme Zufuhr von dem werthvollsten Nahrungsmaterial (mit absoluter Veränderung von Ort, Gesellschaft, Interessen). Thatsächlich habe ich, aus Unwissenheit, das entgegengesetzte régime gewählt: und noch jetzt begreife ich nicht, daß ich nicht in Genua an totaler Schwäche gestorben bin. —
Ich bin über diesen Materie jetzt so gut unterrichtet, wie irgend ein Arzt: wäre ich’s 20 Jahre früher gewesen, so hätte ich den Zustand verhütet…
Verzeihung! lieber Freund, für diesen gar zu medizinisch gerathenen Brief. Herr Köselitz ist in München; die erste Aufführung von Wagners „Feen“ hat schon stattgefunden, einem Berichte nach, den er schickte. Für die Übersendung des Geldes sage ich Dir meinen ergebensten Dank.
Dein Freund
Nietzsche.