1888, Briefe 969–1231a
1018. An Carl Fuchs in Danzig
Turin, den 14. April 1888.
Lieber und werther Herr Doktor,
ich habe auch hier wie in Nizza Ihr Bild vor mir auf dem Tische: was Wunders, wenn mich gar nicht selten die Lust ankommt, mit Ihnen zu reden? Und daß ich’s thue? — Wozu, frage ich mich, diesen absurde Entfremdung durch den Raum (durch jenen Raum, von dem die Philosophen sagen, er sei von uns erfunden —), diese Lücke zwischen den wenigen Menschen, die sich etwas zu sagen hätten! — —
Kennen Sie Turin? Das ist eine Stadt nach meinem Herzen. Sogar die einzige. Ruhig, fast feierlich. Klassisches Land für Fuß und Auge (durch ein süperbes Pflaster und einen Farbenton von gelb und braunroth, in dem Alles eins wird). Ein Hauch gutes achtzehntes Jahrhundert. Paläste, wie sie uns zu Sinnen reden: nicht Renaissance-Burgen. Und daß man mitten in der Stadt die Schnee-Alpen sieht! Daß die Straßen schnurgerade in sie hineinzulaufen scheinen! Die Luft trocken, sublim-klar. Ich glaubte nie, daß eine Stadt durch Licht so schön werden könnte.
Fünfzig Schritt von mir der palazzo Carignano (1670): mein grandioses Vis-à-Vis. Noch einmal fünfzig Schritt das teatro Carignano, wo man gerade sehr achtungswürdig „Carmen“ präsentirt. Man kann halbe Stunden in Einem Athem durch hohe Bogengänge gehn. Hier ist Alles frei und weit gerathen, zumal die Plätze, so daß man mitten in der Stadt ein stolzes Gefühl von Freiheit hat.
Hierher habe ich mein Huckepack von Sorgen und Philosophie geschleppt. Bis zum Juni wird es gehn, ohne daß die Hitze mich quält. Die Nähe der Berge garantirt eine gewisse Energie, selbst Rauhigkeit. Dann kommt meine alte Sommer-Residenz Sils-Maria an die Reihe: das Oberengadin, meine Landschaft, so fern vom Leben, so metaphysisch.. Und dann ein Monat Venedig: ein geweihter Ort für mein Gefühl, als Sitz (Gefängniß, wenn man will) des einzigen Musikers, der mir Musik macht, wie sie heute unmöglich erscheint: tief, sonnig, liebevoll, in vollkommener Freiheit unter dem Gesetz —
Irgendwo und irgendwann las ich, daß man nur in wenig Städten Deutschlands Schopenhauer’s Gedächtniß gefeiert habe. Man hob Danzig hervor. Dabei gedachte ich Ihrer.
Wie Alles davon läuft! Wie Alles auseinander läuft! Wie still das Leben wird! Kein Mensch, der mich kennte, weit und breit. Meine Schwester in Südamerika. Briefe immer seltner. Und man ist noch nicht einmal alt!!!! Nur Philosoph! Nur abseits! Nur compromittirend abseits! —
Ein curiosum: eben trifft ein Zeitungsblatt aus Dänemark ein. Daraus lerne ich, daß an der Kopenhagener Universität ein Cyklus öffentlicher Vorlesungen „om den tüske filosof Friedrich Nietzsche“ gehalten wird. Der Vortragende ist der Privatdozent Dr. Georg Brandes. —
Erzählen Sie mir ein wenig von Ihrem Schicksale, werther Freund! Wohin treibt jetzt das Schiff? Und warum liest man nicht Ihre gesammelten Critica? Ich hörte von Niemanden lieber Werthurtheile de rebus musicis et musicantibus.
Treulich der Ihre
Nietzsche.
(Torino, ferma in posta