1888, Briefe 969–1231a
1000. An Heinrich Köselitz in Venedig
Nice, pension de Genève 26. Febr. 1888.
Lieber Freund,
trübes Wetter, Sonntag Nachmittag, große Einsamkeit: ich weiß nichts Angenehmeres mir zu erfinden als etwas zu und mit Ihnen reden. Eben merke ich, daß die Finger blau sind: meine Schrift wird nur dem erräthlich sein, der die Gedanken erräth…
Was Sie über den Stil Wagner in Ihrem Briefe sagen, erinnert mich an eine eigne irgendwo geschriebene Auslassung darüber: wie sein „dramatischer Stil“ nichts weiter ist als eine Species des schlechten Stils, ja sogar des Nicht-Stils in der Musik. Aber unsre Musiker sehn darin einen Fortschritt…
Eigentlich ist Alles ungesagt, ja wie ich argwöhne, fast ungedacht auf diesem Bereiche von Wahrheiten: Wagner selber, als Mensch, als Thier, als Gott und Künstler geht tausendfach über den Verstand und Unverstand unsrer Deutschen hinaus. Ob auch über den der Franzosen? — Ich hatte heute das Vergnügen, mit einer Antwort Recht zu bekommen, wo schon die Frage außerordentlich hazardirt scheinen konnte: nämlich — „wer war bisher am besten vorbereitet für Wagner? wer war am Naturgemäßesten und Innerlichsten Wagnerisch, trotz und ohne Wagner?“ — Darauf hatte ich mir seit lange gesagt: das war jener bizarre Dreiviertels-Narr Baudelaire, der Dichter der Fleurs du Mal. Ich hatte es bedauert, daß dieser grundverwandte Geist W<agner>n nicht bei Lebzeiten entdeckt habe; ich habe mir die Stellen seiner Gedichte angestrichen, in denen eine Art Wagnerscher Sensibilität ist, welche sonst in der Poesie keine Form gefunden hat (— Baudelaire ist libertin, mystisch, „satanisch“, aber vor allem Wagnerisch) Und was muß ich heute erleben! Ich blättere in einer jüngst erschienenen Sammlung von Œuvres posthumes dieses in Frankreich auf’s Tiefste geschätzten und selbst geliebten Genies: und da, mitten unter unschätzbaren Psychologicis der décadence („mon cœur mis à nu“ von der Art, wie man sie im Falle Schopenhauers und Byrons verbrannt hat) springt mir ein unedirter Brief Wagners in die Augen, bezüglich auf eine Abhandlung Baudelaire’s in der Revue européenne, avril 1861. Ich schreibe ihn ab: Mon cher Monsieur Baudelaire, j’étais plusieurs fois chez vous sans vous trouver. Vous croyez bien, combien je suis désireux de vous dire quelle immense satisfaction vous m’avez préparée par votre article qui m’honore et qui m’encourage plus que tout ce qu’on a jamais dit sur mon pauvre talent. Ne serait-il pas possible de vous dire bientôt, à haute voix, comment je m’ai senti enivré en lisant ces belles pages qui me racontaient — comme le fait le meilleur poème — les impressions que je me dois vanter d’avoir produites sur une organisation si supérieure que la vôtre? Soyez mille fois remercié de ce bienfait que vous m’avez procuré, et croyez-moi bien fier de vous pouvoir nommer ami. — A bientôt, n’est-ce pas? Tout à vous
Richard Wagner
(Wagner war damals 48 Jahre alt, Baudelaire 40: der Brief ist rührend, obschon in miserablem Französisch.)
Im selben Buche finden sich Skizzen Baudelaires, in denen er auf eine leidenschaftliche Weise Heinrich Heine gegen französische Kritik (Jules Janin) in Schutz nimmt. — Man hat, in der letzten Zeit seines Lebens noch, wo er halb irre war und langsam zu Grunde gieng, Wagnersche Musik wie Medizin an ihm angewandt; und selbst wenn man nur Wagner’s Namen nannte, „il a souri d’allégresse“. (— Einen Brief dieser Art Dankbarkeit und selbst Enthusiasmus hat, wenn mich nicht Alles trügt, Wagner nur noch einmal geschrieben: nach dem Empfang der Geburt der Tragödie.)
— Wie geht es jetzt, lieber Freund? Ich habe mir geschworen, eine Zeit lang nichts mehr ernst zu nehmen. Auch dürfen Sie ja nicht glauben, daß ich wieder „Litteratur“ gemacht hätte: diesen Niederschrift war für mich; ich will alle Winter von jetzt ab hintereinander eine solche Niederschrift für mich machen — der Gedanke an „Publicität“ ist eigentlich ausgeschlossen. — Der Fall Fritzsch ist telegraphisch in Ordnung gebracht. — Herr Spitteler hat geschrieben, nicht übel, sich für seine „Unverschämtheit“ (— so sagt er selbst) entschuldigend. — Der Winter ist hart; es fehlt mir aber augenblicklich Nichts, es wäre denn eine göttliche und stille Musik, Ihre Musik, lieber Freund!
Ihr N.
Die Zeitungen und Zeitschriften, welchen Fritzsch durch ein artiges Circular letzten Herbst ein Gesammt-Exemplar meiner Schriften angeboten hatte, zum Zweck einer Besprechung, haben ihm sammt und sonders nicht geantwortet —
Overbecks Vater ist gestorben, 84 Jahr alt. Overbeck selbst ist dazu nach Dresden gereist: wie ich fürchte, zum Nachtheil seiner eigenen Gesundheit, die diesen Winter wieder Schwierigkeiten macht. — Schneestürme überall, Eisbär-Humanität.
Aus einem Briefe B<audelaire>s: „ich wage nicht mehr von W<agner> zu reden: man hat sich zu sehr über mich lustig gemacht. Diese Musik ist eine der ganz großen Freuden meines Daseins gewesen: ich habe gut fünfzehn Jahre keine solche Erhebung (vielmehr enlèvement) gefühlt.“.