1888, Briefe 969–1231a
1184. An Ferdinand Avenarius in Dresden
<Turin, 10. Dezember 1888>
… Vergeben Sie mir, in aller Heiterkeit, eine Nachschrift: es scheint, es geht beim Fall Wagner nicht ohne Nachschrift ab. — Warum haben Sie eigentlich Ihren Lesern die Hauptsache vorenthalten? Daß meine „Sinnesänderung“, wie Sie es nennen, nicht von gestern ist? Ich führe nunmehr seit 10 Jahren Krieg gegen die Verderbnis von Bayreuth, — Wagner hielt mich seit 1876 für seinen eigentlichen und einzigen Gegner, die Spuren davon sind überreich in seinen späteren Schriften. Der Gegensatz eines décadent und einer aus der Überfülle der Kraft herausschaffenden, das heißt dionysischen Natur, der das Schwerste Spiel ist, ist ja zwischen uns handgreiflich (ein Gegensatz, der vielleicht in fünfzig Stellen meiner Bücher ausgedrückt ist, z. B. in der „fröhl. Wissenschaft“ S. 312 ff). Wir sind verschieden wie arm und reich. Unter Musikern ist ja über die Armut Wagners gar kein Zweifel; vor mir, vor dem auch die Verstocktesten ehrlich werden, sind auch die extremen Parteigänger seiner Sache über diesen Punkt ehrlich geworden. Wagner war mir als Typus unschätzbar; ich habe an unzähligen Stellen den biologischen Gegensatz des verarmten und, folglich, raffinirten und brutalen Kunstinstinkts zum reichen, leichten, im Spiele sich echt bejahenden dargestellt — vergeben Sie mir! sogar mit der von Ihnen gewünschten „ruhig sachlichen Entwickelung der Gründe“. Eine kleine Hand voll Stellen: Menschl. Allzumenschl. (— vor mehr als 10 Jahren geschrieben)
2,62 ff. décadence und Berninismus im Stil W.’s.
2,51 seine nervöse Sinnlichkeit,
2,60 Verwilderung im Rhythmischen,
2,76 Katholizismus des Gefühls, seine „Helden“ physiologisch unmöglich.
Wanderer u. Schatten 95 gegen das espressivo um jeden Preis.
Morgenröte 225 die Kunst W.s, den Laien in der Musik zu täuschen.
Fröhl. Wissenschaft W. Schauspieler durch und durch,
auch als Musiker. 110 Bewunderungswürdig im Raffinement des sinnlichen Schmerzes.
Jenseits von Gut und Böse 221 Wagner zum kranken Paris gehörig, eigentlich ein französischer Spät-Romantiker, wie Delacroix, wie Berlioz, alle mit einem fond von Unheilbarkeit auf dem Grunde und, folglich, Fanatiker des Ausdrucks.
— Warum ich das Alles Ihnen schreibe? Weil man in St. Petersburg und in Paris mich ebenso ernst nimmt und liest, wie nachlässig im „Vaterlande“… Nachlässig — was für ein Euphemismus…