1888, Briefe 969–1231a
1036. An Georg Brandes in Kopenhagen
Turin, den 23. Mai 1888.
Verehrter Herr,
ich möchte Turin nicht verlassen, ohne Ihnen nochmals auszudrücken, wie vielen Antheil Sie an meinem ersten wohlgerathenen Frühling haben. Die Geschichte meiner Frühlinge, seit 15 Jahren zum Mindesten, war nämlich eine Schauergeschichte, eine Fatalität von décadence und Schwäche. Die Orte machten darin keinen Unterschied; es war als ob kein Recept, keine Diät, kein Clima den wesentlich depressiven Charakter dieser Zeit verändern könnten. Aber siehe da! Turin! Und die ersten guten Nachrichten, Ihre Nachrichten, verehrter Herr, aus denen mir bewiesen ward, daß ich lebe… Ich pflege nämlich mitunter zu vergessen, daß ich lebe. Ein Zufall, eine Frage erinnerte mich dieser Tage daran, daß in mir ein Hauptbegriff des Lebens geradezu ausgelöscht ist, der Begriff „Zukunft“. Kein Wunsch, kein Wölkchen Wunsch vor mir! Eine glatte Fläche! Warum sollte ein Tag aus meinem siebzigsten Lebensjahr nicht genau meinem Tage von heute gleichen? — Ist es, daß ich zu lange in der Nähe des Todes gelebt habe, um die Augen nicht mehr für die schönen Möglichkeiten aufzumachen? — Aber gewiß ist, daß ich jetzt mich darauf beschränke, von heute bis morgen zu denken, — daß ich heute festsetze, was morgen geschehn soll — und für keinen Tag weiter! Das mag unrationell, unpraktisch, auch vielleicht unchristlich sein — jener Bergprediger verbot gerade diese Sorge „um den andern Tag“ — aber es scheint mir im höchsten Grade philosophisch. Ich bekam vor mir etwas Respekt mehr, als ich ihn sonst schon habe: ich begriff, daß ich verlernt hatte, zu wünschen, ohne es auch nur gewollt zu haben. —
Diese Wochen habe ich dazu benutzt, „Werthe umzuwerthen“. — Sie verstehen diesen Tropus? — Im Grunde ist der Goldmacher die verdienstlichste Art Mensch, die es giebt: ich meine der, welcher aus Geringem, Verachtetem etwas Werthvolles und sogar Gold macht. Dieser allein bereichert; die andern wechseln nur um. Meine Aufgabe ist ganz kurios dies Mal: ich habe mich gefragt, was bisher von der Menschheit am besten gehaßt, gefürchtet, verachtet worden ist: — und daraus gerade habe ich mein „Gold“ gemacht…
Daß man mir nur nicht Falschmünzerei vorwirft! Oder vielmehr; man wird es thun. —
— Ist meine Photographie in Ihre Hände gelangt? meine Mutter hat mir den großen Dienst erwiesen, in einem so außerordentlichen Falle nicht undankbar erscheinen zu müssen. Hoffentlich hat auch der Leipziger Verleger E. W. Fritzsch seine Schuldigkeit gethan und den Hymnus expediert.
Ich bekenne zuletzt eine Neugierde. Da es mir versagt war, an der Thürspalte zu horchen, um etwas über mich zu erfahren, würde ich gern auf eine andere Weise etwas horchen mögen. Drei Worte zur Charakteristik der Themata Ihrer einzelnen Vorlesungen — wie viel wollte ich aus drei Worten lernen!
Es grüßt Sie, verehrter Herr, herzlich und ergeben
Ihr
Nietzsche