1888, Briefe 969–1231a
1168. An Heinrich Köselitz in Berlin
<Turin> 2. Dez. 88.
Sonntag Nachmittag, nach 4 Uhr, unbändig schöner Herbsttag. Eben zurückgekommen von einem großen Concert, das im Grunde der stärkste Concert-Eindruck meines Lebens ist — mein Gesicht machte fortwährende Grimassen, um über sein extremes Vergnügen hinwegzukommen, eingerechnet, für 10 Minuten, die Grimasse der Thränen. Ach, daß Sie nicht dabei waren! Im Grunde war’s die Lektion von der Operette auf die Musik übertragen. Unsre 90 ersten Musiker der Stadt; ein ausgezeichneter Dirigent; das größte Theater von hier mit herrlicher Akustik; 2500 Zuhörer, Alles, ohne Ausnahme, was hier in Musik mitlebt und mitredet. Pubblico sceltissimo, aufrichtig: ich hatte nirgendswo noch das Gefühl, daß dermaaßen nuances verstanden wurden. Es waren lauter extrem raffinirte Sachen, und ich suche vergebens nach einem intelligenteren Enthusiasmus. Nicht Eine Zuthat an einen Durchschnitts-Geschmack. — Anfang Egmont-Ouvertüre — sehen Sie, dabei dachte ich nur an Herrn Peter Gast… Darauf Schubert’s Ungarischer Marsch (aus dem Moment musical), prachtvoll von Liszt auseinandergelegt und instrumentirt. Ungeheurer Erfolg, da capo. — Darauf Etwas für das ganze Streichorchester allein: nach dem 4ten Takte war ich in Thränen. Eine vollkommen himmlische und tiefe Inspiration, von wem? von einem Musiker, der 1870 in Turin starb, Rossaro — ich schwöre Ihnen zu, Musik allerersten Ranges, von einer Güte der Form und des Herzens, die meinen ganzen Begriff vom Italiäner verändert. Kein sentimentaler Augenblick — ich weiß nicht mehr, was „große“ Namen sind… Vielleicht bleibt das Beste unbekannt. — Folgte: Sakuntala-Ouvertüre, achtmaliger Beifallssturm. Alle Teufel, dieser Goldmark! Das hatte ich ihm nicht zugetraut. Diese Ouvertüre ist hundert Mal besser gebaut als irgend etwas von Wagner und psychologisch so verfänglich, so raffinirt, daß ich wieder die Luft von Paris zu athmen begann. Curios: es fehlt die musikalische „Gemeinheit“ so sehr, daß mir die Tannhäuser-Ouvertüre wie eine Zote vorkam. Instrumental durchdacht und ausgerechnet, lauter Filigran. — Jetzt wieder Etwas für Streichorchester allein „cyprisches Lied“ von Vilbac, wieder das Äußerste von delicatesse der Erfindung und der Klangwirkung, wieder ungeheurer Erfolg und da capo, obschon ein langer Satz. — Endlich: Patrie! Ouvertüre von Bizet. Was wir gebildet sind! Er war 35 Jahre, als er dies Werk, ein langes sehr dramatisches Werk, schrieb, Sie sollten hören, wie der kleine Mann heroisch wird…
Ecco! Kann man sich besser ernähren lassen? Und ich habe 1 fr. Eintritt gezahlt…
Heute Abend Francesca da Rimini im Carignano: ich legte dem letzten Brief einen Bericht darüber bei. Der Componist Cagnoni wird zugegen sein. —
Es scheint mir nachgerade, daß Turin auch im Musik-Urtheil, wie sonst, die solideste Stadt ist, die ich kenne.
Ihr Freund N.
Druckbogen werden jetzt wohl noch ausbleiben: ich habe gestern das ganze Manuscript noch einmal zurückverlangt. — Fritzsch will 10 000 Mark, nicht Thaler. — Die Auflagen sind sehr complet.