1888, Briefe 969–1231a
1114. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Sils-Maria, an einem der letzten Tage. <14. September 1888>
Meine alte Mutter hat mir aber einen ganz traurigen Brief geschrieben und jedenfalls die Gedanken die ganze Zeit über wo anders gehabt: sonst würde ihr eingefallen sein, daß der Sohn in jedem Briefe seine Abreise von Sils auf den 15. Sept. festgesetzt hat. Nun haben wir heute den 14. Sept., es ist Nachmittag und nichts außer Deinem lieben Briefe eingetroffen. Um mir einen kleinen Scherz zu machen, schrieb ich ein Paar Worte an Herrn Kürbitz: derselbe wird der guten Mutter ein ganz kleines Geldchen überreichen, von dem als von einer „Ehrengabe“ kleinsten Stils gar nicht geredet werden soll. Vielleicht stopft es etwas für den Monat September noch die Kasse der guten Mutter aus, die mich, in aller Noth des Augenblicks, durchaus noch beschenken will. (Herrn Kürbitz habe ich genau denselben Auftrag gegeben, wie das letzte Mal; er wird denken, daß Du wieder etwas für mich besorgen sollst) — Ich habe diesen Sommer recht ökonomisch gelebt: wozu mir Deine schönen Naumburger Sendungen wesentlich geholfen haben.
Ein Brief meines Freundes Overbeck, der seit Monaten geschwiegen hatte, gab Nachricht von einem langen und schweren Erschöpfungs-Zustand, aus dem er nur sehr langsam auftaucht. Er hat jetzt ein eignes Haus in Basel, aber er hat vergessen, auch nur ein Wort davon zu schreiben. Frau Rothpletz soll 3 Tage gar nicht weit von hier gewesen sein, aber im Schrecken über unsren vollkommenen Winter schnell die Flucht ergriffen haben. Das Letzte war eine höchst bedenkliche Überschwemmung, bei der aller Ort schwer zu Schaden gekommen, mit Ausnahme von Sils, das bei Zeiten (vor 20 Jahren) große Dämme aufgeworfen hatte. Trotzdem war auch hier Alles ein See; und man konnte längere Zeit nicht spazieren gehn. Der Regen, mit Schnee untermischt, floß Tag und Nacht; es ist in 4 Tagen 3 Mal so viel gefallen als sonst in einem Monat. —
Heute morgen habe ich noch einen wohlgemuthen Brief an’s Lama abgeschickt. Es nützt gar nichts, sich über Dinge, in die wir nicht klar sehn, Sorgen zu machen. Nach dem, was Du von Claire Heinze erzählst, nehme ich an, daß man in Leipzig viel Bestimmteres weiß als in Naumburg. Die Leipziger Colonial-Gesellschaft muß ja vollkommen über die Vertrags-Bedingungen unterrichtet sein, unter denen die dortige Regierung sich mit Förster eingelassen. Sie selbst hat offenbar nicht das Gleiche versprechen können. Wir sind in der That über die Hauptsachen nicht unterrichtet: ich merke das jedes Mal, wenn meine guten Köchlin’s in Nizza darüber Auskunft haben wollen. Dann fragen sie wohl der Reihe nach „ist Dr. Förster reich, um ein so ungeheures Besitzthum an sich zu bringen?“
Dann „steht wohl eine Colonial-Gesellschaft hinter ihm?“ — „Oder ein großes deutsches Bankhaus?“ — „Aber er wird sich das Geld doch nicht geborgt haben?“ — Colonien gründen ohne Einiges sogar zu viel zu haben, soll kaum möglich sein. Es steht da wie mit den großen Hôtels. Die erste Gesellschaft risquirt sich dabei; die zweite, die es billig übernimmt, gedeiht.
Wie viele große Schweizer Vermögen sind mit Colonie-Gründung in Südamerika drauf gegangen! — Das Ermuthigende liegt hier genau in dem Vertrauen der Paraguayer: man darf durchaus nicht annehmen, daß sie bloß auf persönliche Sympathie hin Förster eine so große Sache in die Hände gegeben haben, sondern auf wirkliche Garantien hin. Zuletzt sind es Südamerikaner — sehr kluge Leute. Offen gesagt, wenn die vertrauen, dürfen wir es hundert Mal. —
2ter Bogen
— In diesem Augenblick trifft Deine Sendung ein — großes Vergnügen! Ich habe sofort den Kamm probirt und ihn bereits achten gelernt. Diese kleine Arbeit der Reinigung jeden Abend vor Schlafengehn wird mit diesem gründlichen Instrument mir noch mehr zu Nutzen kommen. Insgleichen kam die sehr vermißte Brille an, an der ein Arm zerbrochen war. Die Theemaschine mag hier bleiben; für unterwegs habe ich nicht den geringsten Platz mehr. — Sehr erbaut bin ich nun doch noch die Federn bekommen zu haben: denn es ist in meinem Leben, einem rechten Schreibthier-leben, eine Sache ersten Ranges, für sich selber lesbar zu schreiben. Dies hatte im Frühling vollkommen aufgehört. Es thut mir nur leid, daß die Besorgung Dir so viel Noth gemacht hat. Eine Postkarte nach Leipzig mit der Adresse „Sönnecke Stahlfederfabrik“ hätte Dir alles erspart. —
Zuletzt: meine gute Mutter, wir wollen nicht den Muth verlieren. Eigentlich glaube ich, daß wir Beide jetzt etwas krank sind und deshalb Alles zu schwer nehmen. Ich bin wirklich krank und denke nicht daran, morgen abzureisen: ich werde einen verdorbenen Magen seit 8 Tagen nicht mehr los. Sobald ich den Brief an Dich expedirt habe, will ich mich zu Bett legen, — der Kopf taugt nichts, Appetit fehlt auch. Meine Hauptsache ist die militärische Genauigkeit im Kleinsten der Lebensweise: ich muß die Versuche und Abweichungen außer allem Verhältnisse büßen. —
Die Reise, meine Mutter, ist nichts Langes. Turin ist Mitte Wegs nach Nizza: so daß ich eigentlich keinen Umweg mache. Vormittags setze ich mich hier in die Post; Mittags bin ich in Chiavenna; Abends in Mailand. Dort bleibe ich die Nacht. Am andren Tage komme ich in 3 Stunden Schnellzug nach Turin. — Eine Reise, wie sonst, nach Venedig und von dort nach Nizza ist doppelt und dreifach so weit. — Es umarmt Dich das alte Geschöpf.
(Vom Schinken lebe ich die nächsten Tage und auf der Reise.)
Adresse: Torino (Italia)
poste restante.