1888, Briefe 969–1231a
1102. An Meta von Salis auf Marschlins
Sils den 7. Sept. 1888
Verehrtes Fräulein,
Hiermit sende ich, zugleich mit meinem verbindlichsten Danke, das Buch wieder an Sie zurück. Ich habe es in einen festen Carton gesteckt: mein Wunsch ist, daß die Post keine Brutalitäten begeht.
Inzwischen war ich sehr fleißig, — bis zu dem Grade, daß ich Grund habe, den Seufzer meines letzten Briefs über den „ins Wasser gefallenen Sommer“ zu widerrufen. Es ist mir sogar etwas mehr gelungen, Etwas, das ich mir nicht zugetraut hatte… Die Folge war allerdings, daß mein Leben in den letzten Wochen in einige Unordnung gerieth. Ich stand mehrere Male nachts um 2 auf, „vom Geist getrieben“ und schrieb nieder, was mir vorher durch den Kopf gegangen war. Dann hörte ich wohl, wie mein Hauswirth, Herr Durisch, vorsichtig die Hausthür öffnete und zur Gemsen-Jagd davon schlich. Wer weiß! vielleicht war ich auch auf der Gemsenjagd…
Der dritte September war ein sehr merkwürdiger Tag. Früh schrieb ich die Vorrede zu meiner Umwerthung aller Werthe, die stolzeste Vorrede, die vielleicht bisher geschrieben worden ist. Nachher gieng ich hinaus — und siehe da! der schönste Tag, den ich im Engadin gesehn habe, — eine Leuchtkraft aller Farben, ein Blau auf See und Himmel, eine Klarheit der Luft, vollkommen unerhört… Es war nicht nur mein Urtheil… Die Berge, bis tief hinunter in Weiß — denn wir hatten ernsthafte Wintertage — erhöhten jedenfalls die Intensität des Lichtes. —
Dann gieng ich zu Tisch und fand, neben meinem Couvert, Briefe, darunter auch einen kurios dick gerathenen Brief von Ihnen…
Nachmittags lief ich um den ganzen See von Silvaplana herum: der Tag wird mir wahrscheinlich im Gedächtniß bleiben. —
Am 15. September gehe ich fort, nach Turin; was den Winter betrifft, so wäre doch, aus Gründen tiefer Sammlung, wie ich sie nöthig habe, der Versuch mit Corsica ein wenig risquirt… Doch wer weiß —
Im nächsten Jahre werde ich mich dazu entschließen, meine Umwerthung aller Werthe, das unabhängigste Buch, das es giebt, in Druck zu geben… Nicht ohne große Bedenken! Das erste Buch heißt zum Beispiel der Antichrist.
Mit dem herzlichsten Gruße und einer vollkommenen Zustimmung zu Ihrem Urtheile über Zürich, gar nicht zu reden von den Wasser-Strolchen,
bleibe ich dankbarst ergeben
Ihr
Friedrich Nietzsche