1888, Briefe 969–1231a
1157. An Heinrich Köselitz in Berlin
Torino, via Carlo Alberto 6, III Montag <25. November 1888>
Lieber Freund,
vielleicht, daß auch bei Ihnen schon die Götzen-Dämmerung eingetroffen ist? Bei mir langten gestern die ersten Exemplare an. Zwei dumme Fehler: „Symptomologie“ statt „Symptomatologie“ und „Agleophamus“ statt „Aglaophamus“: dergleichen macht einen Philologen wüthend. — Ich habe als Preis für dies Buch 1 1/2 Mark festgesetzt: Sie verstehen? — Dieselbe Ausstattung, derselbe Preis auch „Ecce homo“, das jetzt in Arbeit kommt. — Erlösen Sie mich von einer Schwierigkeit und geben Sie Naumann Etwas über die Götzen-Dämmerung für das Buchhändler-Börsenblatt. Sie dürfen die Ausdrücke so stark als möglich nehmen. — Fritzsch will circa 10 000 Thaler von mir. — Die Frage der „Preßfreiheit“ ist, wie ich jetzt mit aller Schärfe empfinde, eine bei meinem „Ecce homo“ gar nicht aufzuwerfende Frage. Ich habe mich dergestalt jenseits gestellt, nicht über das, was heute gilt und obenauf ist, sondern über die Menschheit, daß die Anwendung eines codex eine Komödie sein würde. Übrigens ist das Buch reich an Scherzen und Bosheiten, weil ich mit aller Gewalt mich als Gegentypus zu der Art Mensch, die bisher verehrt worden ist, präsentire: — das Buch ist so „unheilig“ wie möglich…
Ich bekenne, daß mir die Götzen-Dämmerung als vollkommen erscheint; es ist nicht möglich, entscheidendere Dinge deutlicher und delikater zu sagen… Man kann 10 Tage nicht nützlicher verwenden, denn mehr Zeit hat mich das Buch nicht gekostet. —
Jakob Burckhardt hat von mir das erste Exemplar bekommen.
Wir haben nach wie vor ein bezauberndes Frühjahr-Wetter; ich sitze eben mit aller Heiterkeit und leicht bekleidet, vor offnem Fenster.
Eine letzte Erwägung. Sehen Sie, lieber Freund, „Kreise stören“ — das ist wirklich in meiner jetzigen Existenz unmöglich. Es hat etwas auf sich mit dem „Kreise“… Aber etwas Anderes: ich bin mitunter vollkommen außer mir, kein aufrichtiges und unbedingtes Wort zu irgend Jemand sagen zu können — ich habe gar Niemanden dazu außer Herrn Peter Gast… Auch finden Sie in meiner im Grunde heiteren und boshaften „Aktualität“ vielleicht mehr Inspiration zur „Operette“ als sonstwo: ich mache so viele dumme Possen mit mir selber und habe solche Privat-Hanswurst-Einfälle, daß ich mitunter eine halbe Stunde auf offner Straße grinse, ich weiß kein andres Wort.… Neulich fiel mir ein, Malvida an einer entscheidenden Stelle von „Ecce homo“ als Kundry vorzuführen, welche lacht… Ich habe 4 Tage lang die Möglichkeit verloren, einen gesetzten Ernst in mein Gesicht zu bringen —
Ich denke, mit einem solchen Zustand ist man reif zum „Welt-Erlöser“?…
Kommen Sie…
Ihr Freund N.
— Die Art Öfen, die ich mir für schweres Geld aus Deutschland bestellt habe (68 Mark) sind jetzt hochobrigkeitlich verboten, als lebensgefährlich. — Ein artiger Ofen mit Gas-Heizung tritt an seine Stelle. Preis 65 frs. — man steckt das Streichholz hinein, da gehts los; hat man genug Wärme im Zimmer, löscht man es —
Eben ist eine Wagnerisirende Oper, Nerone, furchtbar hier durchgefallen. Der Hauptsänger hat die Flucht ergriffen.
Das Neueste ist der Beschluß Turins, ein Opernhaus allerersten Ranges zu baun. —