1888, Briefe 969–1231a
1115. An Franz Overbeck in Basel
<Sils-Maria, 14. September 1888>
Lieber Freund,
mit einer wahren Erleichterung empfieng ich Deinen Brief; denn nach Allem, was ich aus Deinen letzten Berichten schließen durfte, stand es nicht zum Besten um Dich. Eine kleine Wendung zum Guten, mindestens zum Besseren, scheint doch festgestellt. Zuletzt glaube ich, daß die merkwürdige Ungunst der meteorologischen Zustände jede Art Erschöpfung in diesem Jahre bedenklich macht, — ich rede aus Erfahrung. Man ist durchaus nicht isolirt vom ganzen Naturleben: wenn der Wein nicht aus Mangel an Sonne geräth, werden wir auch sauer… Seltsam, daß hier oben uns die stärkste Geduldsprobe bis zuletzt aufgespart war: es gab gerade schauderhafte Zustände die ganze letzte Woche: — ich lag wieder Tage lang wie betäubt. Die Wasser-Masse, die allein in 4 Tagen gefallen ist, beträgt 220 millimeter: während das normale Quantum eines ganzen Monats in Sils 80 mill. ist. Trotzdem war Sils der einzige Ort im Engadin, der ohne Schaden durch diesen Katastrophe (— unerhört in der Geschichte des Engadin!) durchgekommen ist. — Mein Hôtel, die Alpenrose, in der ich immer verkehre, aber allein esse hatte diesen Sommer die Auszeichnung, Herrn Bädecker und Frau aus Leipzig ein paar Monate zu Gaste zu haben: eine wirkliche Censur, auch für Sils! — Ein sehr angenehmer, witziger und raffinirter Musiker, in übrigens glänzenden Verhältnissen, war hier ein Umgang für mich: Herr von Holten, aus Hamburg, vom Conservatorium. Er gab mir ein kleines Privatconcert, wo er lauter Köselitziana (die er sich für mich eingeübt hatte) auswendig spielte, — entzückt „über die feine und liebenswürdige Musik.“ — Bei der Berufung Harnack’s habe ich sehr Deiner gedacht: dieser junge Kaiser präsentirt sich allmählich vortheilhafter als man erwarten durfte, — er ist neuerdings scharf anti-antisemitisch aufgetreten und hat den Beiden, die ihn in der rechten Zeit von der compromittirenden Gesellschaft Stöcker und Co. taktvoll auslösten (Bennigsen und dem Baron v. Douglas) jetzt vor aller Welt seine große Erkenntlichkeit dafür ausgedrückt. — Man sagt mir selbst, daß sein Benehmen gegen seine Mutter hundert Mal rücksichtsvoller ist, als die Parteileidenschaft es in Deutschland und England wünschen möchte. — Darf ich von mir erzählen? In der Hauptsache fühle ich mehr als je die große Ruhe und Gewißheit, auf meinem Wege und sogar in der Nähe eines großen Ziels zu sein. Ich habe, zu meiner eignen Überraschung, bereits das erste Buch meiner Umwerthung aller Werthe bis zur Hälfte in seiner endgültigen Form fertig. Es hat eine Energie und Durchsichtigkeit, welche vielleicht von keinem Philosophen je erreicht worden ist. Es scheint mir, als ob ich mit Einem Male schreiben gelernt hätte. Was den Inhalt, die Leidenschaft des Problems betrifft, so schneidet dieses Werk durch Jahrtausende hindurch — das erste Buch, unter uns gesagt, heißt „der Antichrist“, und ich will schwören, daß Alles, was je zur Kritik des Christenthums gedacht und gesagt worden, eitel Kinderei dagegen ist. — Ein solches Unternehmen macht tiefe Pausen und Distraktionen selbst hygienisch nöthig. Eine solche wird in etwa 10 Tagen bei Dir aufwarten: sie heißt „der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem.“ Es ist eine Kriegserklärung ohne Pardon — mein Verleger meldet mir, daß schon seit ein paar Wochen (auf die erste Ankündigung im Buchhändler-Blatt) so viel Bestellungen darauf eingelaufen sind, daß die Auflage von 1000 Ex. als erschöpft gelten kann. — Auch ein zweites Manuscript, vollkommen druckbereit, ist bereits in den Händen des Herrn C. G. Naumann. Doch wollen wir es einige Zeit noch liegen lassen. Es heißt „Müssiggang eines Psychologen“ und ist mir sehr werth, weil es in der allerkürzesten (vielleicht auch geistreichsten) Form meine wesentliche philosophische Heterodoxie zum Ausdruck bringt. Im Übrigen ist es sehr „zeitgemäß“: ich sage über alle möglichen Denker und Künstler des heutigen Europa meine „Artigkeiten“ — eingerechnet, daß darin den Deutschen in puncto Geist, Geschmack und Tiefe* die unerbittlichsten Wahrheiten ins Gesicht gesagt werden. —
In wenig Tagen will ich nach Turin abreisen: der Versuch, den Herbst daselbst kennen zu lernen, nachdem mir der Frühling so ausnahmsweise gut gethan hat, ist nicht zu unterlassen. Es wäre mir eine große Wohlthat, mein Leben für eine Anzahl tief arbeitsamer und innerlich entscheidender Jahre in die regelmäßige Ordnung Sils, Turin, Nizza, Turin, Sils usw. gebracht zu haben. Für Nizza habe ich eine Neuerung nöthig: mich vollkommen so unabhängig in Diät und Gesellschaft zu machen, als ich es in Sils bin. Ich habe entdeckt, daß die unnöthige Verdüsterung und selbst ein gewisses Mißrathen fast aller meiner Nizzaer Winter an Concessionen liegt, die ich in diesen beiden Punkten gemacht. Genau so war’s in Sils: erst seit vorigem Sommer stehe ich auf meinen Füßen — und seitdem erst weiß ich, wie unschätzbar gerade mir dies Sils ist. — Ich habe für meine Lebensweise keine andere Kritik als das Maaß meiner Arbeits-Kraft. Im vorigen Sommer schrieb ich die drei Abhandlungen der „Genealogie“ in weniger als einem Monate druckfertig; in diesem habe ich jenen „psychologischen Müßiggang“ in 20 Tagen abgemacht. — Diese Leistungs-Fähigkeit drückt sich besonders auch in der Sehkraft aus: während jeder Diätfehler, jedes böse Wetter mich sofort darin depotenzirt. — Es bleibt Etwas zu erzählen, aber, alter Freund, privatissime unter uns. Man hat mir, von Berlin aus, seitens „unbekannt bleiben wollender“ Freunde und Verehrer (unter denen aber Prof. Deussen als Vermittler und wahrscheinlich Hauptbetheiligter sich zu erkennen gegeben hat) eine „Ehrengabe“ von 2000 Mark zugestellt. Ich habe dieselbe, mit ausdrücklicher Ablehnung des Gedankens, als ob ich in einer Nothlage wäre und mit einem Ausdruck der Dankbarkeit für die Basler Liberalität, nur in Hinsicht der Nöthigung, meine Schriften selbst drucken zu müssen, acceptirt. Thatsächlich kam das Geld sehr zur rechten Zeit, — ich athme in dieser absurden Druck-Necessität wieder freier. — Nach dieser Seite hin werde ich also die Basler Ersparnisse nicht in Anspruch nehmen. — Die 1000 frs., welche zunächst fällig werden, bitte ich mir erst für Nizza, das heißt ungefähr für den 16. November (ha! was für ein Tag!) aus. Du erräthst, daß ich eine kleine Ökonomie getrieben habe, sowohl in Turin, wie hier, so daß ich es ein paar Monate noch aushalte. —
Verzeihung, lieber Freund! Ich sehe eben, daß der Brief etwas zu lang für Deine Gesundheit gerathen sein möchte. Mit dem allerbesten Wunsche und der Bitte, Deiner lieben Frau angelegentlich empfohlen zu werden bin ich in alter Liebe und Anhänglichkeit
Dein Nietzsche.
Adresse, etwa vom 18. Sept. an bis 14. Nov. Torino (Italia) ferma in posta.
Die große Hochzeit daselbst, Savoyen-Bonaparte, soll erst vorüber sein. Jetzt sind alle Hôtels dort überfüllt.