1888, Briefe 969–1231a
1011. An Elisabeth Förster in Nueva Germania
Nizza, Sonnabend vor Ostern <31. März> 1888
Dies Mal, mein liebes Lama, bekommst Du auch den letzten Brief, den ich in Nizza schreibe, wie Du den ersten von diesem Winter bekommen hast. Es macht mir großes Vergnügen zu denken, daß er Dich in Deiner neuen und selbstgeschaffenen Heimat begrüßen wird — und er soll Dir und Deinem Bernhard meine allerherzlichsten Glückwünsche an der Schwelle dieses neuen Daseins zu Füßen legen. Nach Allem, was Du schreibst, zieht die Hoffnung zugleich mit Euch dort ein: und wenn wahrscheinlich das Leben etwas streng und arbeitsam sein wird, so dürft Ihr Euch mit dem Dichter trösten, der ungefähr gesagt hat: „nur der verdient die Freiheit und das Leben in Nueva Germania, der täglich sie erobern muß“ …
Was Du vom „Lebensloose“ sagst und „daß es eine schöne Sache sei, dazu zu passen“, scheint mir wirklich in Deinem Falle keine Selbsttäuschung. Es ist alles überraschend gut vorwärts gegangen: so daß es mir mitunter beikommt, Deine Attitüde nachzuahmen, von der Du schreibst und „mich auf den Rücken zu legen“. Auch dürft Ihr in jedem Sinn damit zufrieden sein, im lieben Europa zu fehlen: dieses starrt heute mit dem Heroismus eines Igels in Waffen und hat alle Sorten von Damokles-Schwertern über sich aufgehängt. Ich rede noch nicht einmal vom Winter, vom härtesten Winter, von dem die berühmten „ältesten Leute“ wissen: der gebildete Europäer ist im Kampfe mit allen Elementen — und, wie bekannt „die Elemente hassen den gebildeten Europäer“. Zum Mindesten glaubte Schiller so etwas Ähnliches. —
Wir hier in Nizza sind nicht schlecht dabei weggekommen: Gott läßt, wie es scheint, mit einem an ihm nicht ungewöhnlichen Cynismus, die Sonne über Deinen philosophisch-nihilistischen Nichtsnutz von Bruder schöner leuchten als über Herrn von Bismarck und die deutsche reichsfromme Tugend. Ich wollte, ich hätte selber diesen Winter etwas mehr „geleuchtet“: aber es gab düstere Wochen, wo ich wie ein verdrossener Bär in der Höhle saß. Trotzdem glaube ich, daß es in der Hauptsache vorwärts gegangen ist und daß ich einen Schritt mehr aus der vieljährigen Misère und Décadence herausgetreten bin. Auch erleichtert es mich, meine „Litteratur“ abgethan zu haben: ich bin sogar gebildet genug, sie nicht mehr zu mögen. Man schreibt keine Meisterwerke im Zustande der décadence: das gienge gegen die Naturgeschichte! —
Wie sehr ich eigentlich krank gewesen bin, das weiß im Grunde Niemand. Und es ist gut so. —
Übermorgen früh geht es nach Torino: das ist ein neuer Versuch, die Zwischenzeit bis zum Engadin (c. 10. Juni) auszuhalten, nachdem mir alle bisherigen Versuche schmählich und schmerzlich mißrathen sind. Der Frühling ist meine schwache Zeit. Turin hat eine energische Luft, sagt man mir, die trocken ist: es ist reinlich, großstädtisch, ruhig, sehr ausgedehnt, so daß es mir erlaubt, lange Wege im Schatten zu machen: während die Reizbarkeit meiner Augen gerade in den Frühlingsmonaten besonders groß ist. Auch bin ich der Schweizer etwas satt: zu viereckig und unbeholfen, wie auch der Schweizer Städte. — Nach dem Engadin ein Monat (c. 20. Sept. — 20. Okt.) Venedig: um den ersten Musiker, der jetzt lebt, zu erheitern und mich durch ihn. Dann, wahrscheinlich, wieder Nizza. — Es fehlen mir alle Wünsche. Wozu sollte Irgend-Etwas anders werden?… Nur brauche ich eine Art von Besinnung und Concentration, die nicht ihres Gleichen hat — von wegen der berühmten „Lebensaufgabe“, zu der ich bisher, wie ich fürchte, gar nicht gepaßt habe.
Mein liebes Lama, es umarmt Dich und Deinen „conquistadore da Nueva Germania“ viele Male
Dein Fritz