1888, Briefe 969–1231a
1063. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Sils, Oberengadin Dienstag 17. Juli <1888>
Meine liebe Mutter,
gestern Abend, als ich gerade das letzte Stück Schinken verzehrte, kam Deine schöne Sendung, recht gut erhalten, wie mir schien: nur daß von den Zwiebäcken Etwas abgebröckelt war und sich dem Paket mitgetheilt hatte. Der Zoll betrug 80 Pf. Machst Du eine genaue Aufzählung des Inhalts oder öffnet die Zollverwaltung das Paket? Ich bin darüber nicht im Klaren. Vielleicht Beides? Ich habe die Würste, die delikat sich anfühlen, aufhängen lassen, will aber den Anfang mit der dicksten machen. Ich bilde mir ein, daß die kleinen sich leichter conserviren als die dicken — was sagst Du dazu? — Den Zwieback kostete ich heute morgen zum Thee: er schmeckt vortrefflich und hat meinen ganzen Beifall. Für die Eröffnung der „Süßigkeit“ will ich einen recht guten Tag abwarten; das Portemonnaie entsprach wunderbar einem „tiefgefühlten Bedürfniß“. Und was für eine schöne, feine, starke Serviette! — Das erinnert mich an die vorzüglichen Nachthemden; ebenfalls an das Wunderthier von Cravatte, deren verborgene Reize ich in der That noch nicht entdeckt hatte (— ich nenne sie das Chamäleon) Was die Schinken betrifft, so fiel mir die Anzeige eines Züricher Geschäfts in die Hand, das als „Gothaische Wursthandlung“ sich bezeichnet. Es empfiehlt seine „Thüringer Milchschinkli“ (ohne Fett, Knochen und Schwarte): sollte das nicht eben unsere Art Schinken sein? — Seit zwei Tagen spüre ich etwas wie Verbesserung: allerdings war unmittelbar vorher der schlimmste Anfall der ganzen Zeit: so daß ich vielleicht nur den Gegensatz wohlthätiger spüre. Das Wetter bleibt winterlich, regnerisch, bedeckt; gestern furchtbarer Sturm. Aber es scheint überall schlimm zu stehn. Wie heiter und hübsch läuft doch Dein Leben in Naumburg! Wie viel passirt immer! und es scheint mir nach jedem Deiner Briefe, daß ihr miteinander sehr heiter gewesen seid und viel gelacht habt. (Nur war das Volckmannsche Kostgeld zu gering.) Der Brief des guten Lama liegt bei. Die Neuigkeit von dem Ankauf von 6000 Morgen verstehe ich absolut nicht: wie mir überhaupt die Finanzlage der Unternehmung ein Räthsel ist. Frl. von Salis ist nicht eingetroffen. Das Hôtel, in dem ich esse hat zwischen 40 und 50 Personen. Meine Lebensweise ist so. Um 5 Uhr nehme ich eine Tasse Cacao (im Bett); um 1/27 ungefähr trinke ich meinen Thee. Um 12 esse ich, allein, eine halbe Stunde vor dem dîner des Hôtels: regelmäßig ein Beefsteak und eine Omelette. Abends um 7 nehme ich nur auf meinem Zimmer ein Stückchen Schinken, 2 rohe Eidotter und 2 weiße Wecken. Für meine Mittagsmahlzeit zahle ich einen sehr ermäßigten Preis, nämlich im Verhältniß dazu, was sonst die Fremden hier oben zahlen: nämlich 2 frs. 25 ct. (= 18 groschen) Die Fremden würden 3—4 fr. zahlen müssen. Die Zubereitung ist gut; das Fleisch ausgezeichnet. — Für den Fall, daß es noch eine Zusendung geben sollte — der Sommer-Aufenthalt dauert für mich hier noch über 2 Monate — bitte ich Stahlfedern ins Auge zu fassen. Inzwischen habe ich eine so schlechte Schrift bekommen, daß eine besondere Art Stahlfedern versucht werden mußte, die von Sönnecken: dieser Brief ist damit geschrieben. Diese Art ist jetzt sehr verbreitet, sie findet sich sicherlich auch in Naumburg. Die genaue Bezeichnung ist:
Sönnecken’s Rundschriftfedern
Nr. 5
Bitte, hebe Dir diese Adresse auf. Das Hauptgeschäft ist in Leipzig.
Findest Du, daß ich wieder leserlich schreibe? Ich war auf dem Punkte, meine eignen Manuscripte nicht mehr entziffern zu können. —
Schreibe mir doch genau, unter welcher Adresse jetzt ein Brief an das Lama zu richten ist. Überhaupt, was Du auf jedem Brief schreibst.
Nochmals meinen herzlichsten Dank, meine alte gute Mutter, ich mache Dir diesen Sommer rechte Mühe!! —
Dein Fritz.