1888, Briefe 969–1231a
1054. An Carl Fuchs in Danzig
Sils-Maria, Oberengadin, Schweiz d. 30. Juni 1888
Lieber, verehrter Freund,
seltsam! seltsam! mein Wunsch war, Ihnen sofort nach meiner Zurückversetzung ins Kühle — denn wir hatten Tag für Tag 31 Grad in Turin — einen schönen Dankesbrief zu schreiben: ein frommer Wunsch, nicht wahr?? — Aber wer konnte ahnen, daß ich mich nicht bloß „in’s Kühle“ zurückversetzen würde, sondern ins Hundewetter, an dem meine Gesundheit Schiffbruch leiden würde! Winter, Sommer in unsinnigem Wechsel: sechs und zwanzig Lawinen im Schmelzen; jetzt noch dazu Regen, der Himmel fast immer verhängt — genug Gründe, um eine tiefe nervöse Erschöpfung, mit Recrudescenz meiner früheren Leiden, zu entschuldigen. — Ich erinnere mich nicht, schlechteres Wetter erlebt zu haben: und dies in meinem Sils-Maria, wohin ich flüchte, um schlechtem Wetter zu entgehn! Ist es ein Wunder, wenn selbst der Pfarrer hier sich das Fluchen angewöhnt? Er stockt jetzt mitunter in der Unterhaltung; dann würgt er immer einen Fluch hinunter. Neulich, beim Herauskommen aus der eingeschneiten Kirche, hat er seinen Hund durchgeprügelt, mit den Worten „der verfluchte Köter hat mir die ganze Predigt verteufelt!“ —
Sie errathen, wozu ich Lust hätte? Aber das schickt sich nicht, mit einem Musiker…
Ich hatte solches Vergnügen an Ihren Lehr- und Wehr-Meinungen, daß ich es nicht für mich allein behalten wollte: ich hoffe, nichts Unziemliches gethan zu haben, als ich sie an meinen maëstro nach Venedig schickte?.. Und von welcher Energie legte Ihr Brief Zeugniß ab! Wie macht man das, dort oben in Ihrem Norden, so jung zu bleiben? Ihr Brief war wirklich noch jünger als Ihr Bild —
Immer kommt mir dabei die Vorstellung wieder, daß Sie an eine viel freiere, größere Stelle hingehören, wo Ihrer Lehr-Begabung andere Kräfte untergeordnet sind und wo Sie nicht Alles allein machen müssen — Sie schlagen Funken noch aus Ihrem Danzig: das wird jeder Schmied zu bewundern haben!
Die andren Musiker werden nervös: wie es Ihnen zu Muthe ist, schließe ich aus Ihrem Stil, der biegsam und behend läuft. So schreibt man nicht, wenn man dyspeptisch ist.. Und so erlebt ist alle Ihre Kritik!
Wenn es, werther Freund, noch Etwas mitzutheilen giebt, gönnen Sie mir noch eine zweite Sendung Recensionen! Adresse: Sils, Oberengadin, Schweiz. Vielleicht kommt das Wetter inzwischen zur Vernunft! — und ich mit ihm! —
Ihnen
dankbar verpflichtet
Ihr
Nietzsche.
Dank für die allerschmeichelhafteste Etymologie! Die Polen sagen, es bedeute „Nihilist“…