1888, Briefe 969–1231a
1045. An Heinrich Köselitz in Venedig
Donnerstag Sils, d. 14. Juni 1888.
Lieber Freund,
Ihr Brief langte zu gleicher Zeit mit der Rückkehr meiner Gesundheit (— und meines Barbiers) bei mir an: Sie können denken, wie festlich er begrüßt wurde. Ihre Mittheilung, daß das provençalische Quartett einmal mir zugehören soll, schmeichelt mir im höchsten Grade. Ich habe darauf hin ungefähr schon meine Lebenspläne verändert. Doch darüber später einmal: heute nur den ersten und vorläufigsten Ausdruck tiefer Erkenntlichkeit. Daß man die guten Dinge mit einander gemein hat, das verbindet am innerlichsten: und ich weiß noch sehr gut, welche kleinen Schauer von Vollkommenheit mir über die Seele liefen, als ich, in Venedig, die Ehre hatte, das damals werdende Quartett zu hören. —
Die cartolina ist nicht eingetroffen; falls das herrliche Duett ankommt, werde ich es an „geneigter Belustigung“ nicht fehlen lassen. — Ein sehr liebenswürdiger Gedanke ist es von Ihnen, dem Dr. Fuchs ein Paar Worte zukommen zu lassen: ich bitte Sie darum, ich weiß gut genug, wie dies auf den sehr vereinsiedelten und viel zu wenig geschätzten Danziger wirken wird. Zuletzt habe ich in meinem letzten Brief von Ihnen erzählt. Es ist übrigens erstaunlich, was er alles durchsetzt und unternimmt: seine letzten Brief-Berichte gaben mir von der feurigen Energie seiner Natur wieder den allerhöchsten Begriff. (Die Recensionen wünscht er wieder zurück: er hat noch viel mehr und will sie, auf Wunsch, herausrücken…)
Es gieng schlecht bis jetzt, lieber Freund. Die Reise mißrieth wieder, wie gewöhnlich: ich hatte sechs Tage nöthig, um ungefähr wieder von den schlechten Nachwirkungen loszukommen. Nichts ist so labil im Gleichgewicht als meine Gesundheit… Das Wetter, das ich hier oben fand, war nicht das, welches ich suchte. Feucht, schwül, Thauluft, — 23 Grad C. Denken Sie sich: ich dachte mit Reue an das verlassene Turin, ob ich schon dasselbe in der allergrößten Hitze kennen gelernt hatte. Die letzte Zeit stieg der Thermometer Tag für Tag auf 31 C., das Minimum war 22 C. Und seltsam! ich, der empfindlichste Mensch für Hitze, litt ganz und gar nicht dabei — schlief gut, aß gut, hatte Einfälle und arbeitete… Die subtile trockne Luft, der Zephyr auf den Gassen — im Grunde war es eine Art mir unbekannten Epikureismus’. Welche Höhe die Café-haus-cultur erklommen, davon wage ich nicht zu schreiben. —
Seit gestern ist es auch hier wieder gute Luft und gesund. Sils ist wirklich wunderschön; in gewagter Latinität das, was ich Perla Perlissima nenne. Ein Reichthum an Farben, hundert Mal südlicher darin als Turin. Ringsherum liegen noch die Reste von 26, zum Theil ungeheuren Lawinen. Ganze Wälder sind von ihnen heruntergebrochen. Es giebt hier ein interessantes Lawinen-Recht: das Holz gehört dem, auf dessen Grundstück die Lawine es wirft. Ein Bewohner von Bevers hat auf diesen Weise ca. 5000 frs. Holz zum Geschenk bekommen. Der Schnee lag hier noch bis in den Mai hinein 6 Fuß hoch: dann schmolz er mit einer kaum begreiflichen Schnelle weg.
In Turin hörte ich zuletzt noch ein Musikfest: 34 Stadtorchester concurrirten. Ich wohnte der Concurrenz der fünf besten Capellen bei, im teatro Vitt<orio> Em<anuele>, das c. 5000 Personen faßt. Der Klang war bezaubernd schön: was ich nie geglaubt hätte. Diese fortissimi! Ich zeichnete bei mir als die bei weitem erste Leistung die der Capelle von Asti aus, mit ihrem maestro Foschini; der den Muth hatte, eine eigne Sinfonia drammatica als Concurrenzstück aufzuführen. Nach meiner Abreise von Turin erfuhr ich mit Vergnügen, daß Asti die große goldne Medaille bekommen hat, mit allen möglichen Ehren seitens 2 Ministerien auch für den maestro. —
Overbeck bezieht ein eignes Haus in Basel. Von meiner Schwester ist ein geradezu bezaubernder langer Bericht über die Ankunft und feierliche Einholung in Nueva Germania da. Die Sache gewinnt wirklich einen großartigen Aspekt.
In München sehn Sie, wenn es möglich, Seydlitzens. Die sind so gut gegen mich. — Von Levi höre ich, daß er krank ist und diesen Sommer nicht in Bayreuth dirigirt.
Ich hatte Fritzsch freigestellt, von meinem Kopenhagener Erfolg etwas in der Presse verlauten zu lassen. Er schrieb mir kürzlich, im Drang der Geschäfte habe er’s vergessen, und nun sei es wohl zu spät. — Unverbesserlich!
Mit herzlichem Glückwunsch für die Reise
Ihr N.