1888, Briefe 969–1231a
1014. An Georg Brandes in Kopenhagen
Torino (Italia) ferma in posta den 10. April 1888.
Aber, verehrter Herr, was ist das für eine Überraschung! — Wo haben Sie den Muth hergenommen, von einem vir obscurissimus öffentlich reden zu wollen!.. Denken Sie vielleicht, daß ich im lieben Vaterlande bekannt bin? Man behandelt mich daselbst, als ob ich etwas Absonderliches und Absurdes wäre, etwas, das man einstweilen nicht nöthig hat, ernst zu nehmen… Offenbar wittern sie, daß auch ich sie nicht ernst nehme: und wie sollte ichs auch, heute, wo „deutscher Geist“ ein contradictio in adjecto geworden ist! —
Für die Photographie bedanke ich mich auf das Verbindlichste. Leider giebt es nichts dergleichen auf meiner Seite: die letzten Bilder, die ich besaß, hat meine Schwester, die in Südamerika verheirathet ist, mit davon genommen.
Anbei folgt eine kleine vita, die erste, die ich geschrieben habe. Was die Abfassungszeiten der einzelnen Bücher betrifft, so stehen sie auf dem Titel-Rückblatt von „Jenseits von Gut und Böse“. Vielleicht haben Sie das Blatt nicht mehr.
„Die Geburt der Tragödie“ wurde zwischen Sommer 1870 und Winter 1871 abgefaßt (beendet in Lugano, wo ich zusammen mit der Familie des Feldmarschall Moltke lebte)
Die „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ zwischen 1872 und Sommer 1875 (es sollten 13 werden: die Gesundheit sagte glücklicher Weise Nein!)
— Was Sie über „Schopenhauer als Erzieher“ sagen, macht mir große Freude. Diese kleine Schrift dient mir als Erkennungszeichen: wem sie nichts Persönliches erzählt, der hat wahrscheinlich auch sonst nichts mit mir zu thun. Im Grunde steht das Schema darin, nach dem ich bisher gelebt habe: sie ist ein strenges Versprechen.
„Menschliches, Allzumenschliches“ sammt seinen zwei Fortsetzungen Sommer 1876—1879. Die „Morgenröthe“ 1880. Die „fröhliche Wissenschaft“ Januar 1882. Zarathustra 1883 — 85 (jeder Theil in ungefähr zehn Tagen. Vollkommener Zustand eines „Inspirirten“, Alles unterwegs, auf starken Märschen concipirt: absolute Gewißheit, als ob jeder Satz Einem zugerufen wäre. Gleichzeitig mit dem Gefühl größter körperlicher Elasticität und Fülle —)
„Jenseits von Gut; und Böse“, Sommer 1885 im Oberengadin u. den folg. Winter in Nizza.
Die „Genealogie“, zwischen dem 10. und 30. Juli 1887 beschlossen, durchgeführt und druckfertig an die Leipziger Druckerei geschickt.
(Natürlich giebt es auch Philologica von mir. Das geht aber uns Beide nichts mehr an.)
Ich mache eben einen Versuch mit Turin, ich will hier bis zum 5ten Juni bleiben, um dann ins Engadin zu gehn. Winterlich, hart, böse bis jetzt. Aber die Stadt superb ruhig und meinen Instinkten schmeichelnd. Das schönste Pflaster der Welt.
Es grüßt Sie Ihr dankbar ergebener
Nietzsche
Ein Jammer, daß ich weder Dänisch noch Schwedisch verstehe! —
Vita. — Ich bin am 15. Okt. 1844 geboren, auf dem Schlachtfelde von Lützen. Der erste Name, den ich hörte, war der Gustav Adolfs. Meine Vorfahren waren polnische Edelleute (Niëzky); es scheint, daß der Typus gut erhalten ist, trotz dreier deutscher „Mütter“. Im Auslande gelte ich gewöhnlich als Pole; noch diesen Winter verzeichnete mich die Fremdenliste Nizza’s comme Polonais. Man sagt mir, daß mein Kopf auf Bildern Matej<k>o’s vorkomme. Meine Großmutter gehörte zu dem Schiller-Goethe’schen Kreise Weimars; ihr Bruder wurde der Nachfolger Herders in der Stellung des Generalsuperintendenten Weimars. Ich hatte das Glück, Schüler der ehrwürdigen Schulpforta zu sein, aus der so Viele (Klopstock, Fichte, Schlegel, Ranke usw usw), die in der deutschen Litteratur in Betracht kommen, hervorgegangen sind. Wir hatten Lehrer, die jeder Universität Ehre gemacht hätten (oder haben —) Ich studirte in Bonn, später in Leipzig; der alte Ritschl, damals der erste Philolog Deutschlands, zeichnete mich fast von Anfang an aus. Ich war mit 22 Jahren Mitarbeiter des „litterarischen Centralblattes“ (Zarncke) Die Gründung eines philologischen Vereins in Leipzig, der jetzt noch besteht, geht auf mich zurück. Im Winter 1868—69 trug mir die Universität Basel eine Professur an; ich war noch nicht einmal Doktor. Die Universität Leipzig hat mir die Doktorwürde hinterdrein gegeben, auf eine sehr ehrenvolle Weise, ohne jedwede Prüfung, selbst ohne eine Dissertation. Von Ostern 1869—1879 war ich in Basel; ich hatte nöthig, mein deutsches Heimatsrecht aufzugeben, da ich als Offizier („reitender Artillerist“) zu oft einberufen und in meinen akademischen Funktionen gestört worden wäre. Ich verstehe mich, nichtsdestoweniger, auf zwei Waffen: Säbel und Kanonen — und, vielleicht, noch auf eine dritte… Es gieng Alles sehr gut in Basel, trotz meiner Jugend; es kam vor, bei Doktorpromotionen namentlich, daß der Examinand älter war als der Examinator. Eine große Gunst wurde mir dadurch zu Theil, daß zwischen Jakob Burckhardt und mir eine herzliche Annäherung zu Stande kam: etwas Ungewöhnliches bei diesem sehr einsiedlerischen und abseits lebenden Denker. Eine noch größere Gunst, daß ich vom Anfang meiner Basler Existenz an in eine unbeschreiblich nahe Intimität mit Richard und Cosima Wagner gerieth, die damals auf ihrem Landgute Tribschen bei Luzern wie auf einer Insel und wie abgelöst von allen früheren Beziehungen lebten. Wir haben einige Jahre alles Große und Kleine gemeinsam gehabt: es gab ein Vertrauen ohne Grenzen. (Sie finden in den gesammelten Schriften Wagners (Band 7) ein „Sendschreiben“ desselben an mich abgedruckt, bei Gelegenheit der „Geburt der Tragoedie“) Von jenen Beziehungen aus habe ich einen großen Kreis interessanter Menschen (und „Menschinnen“) kennen gelernt, im Grunde fast Alles, was zwischen Paris und Petersburg wächst. Gegen 1876 verschlimmerte sich meine Gesundheit. Ich brachte damals einen Winter in Sorrent zu, mit meiner alten Freundin der Baronin Meysenbug („Memoiren einer Idealistin“) und dem sympathischen Dr. Rée. Es wurde nicht besser. Ein äußerst schmerzhaftes und zähes Kopfleiden stellte sich heraus, das alle meine Kräfte erschöpfte. Es steigerte sich in langen Jahren bis zu einem Höhepunkt habitueller Schmerzhaftigkeit, so daß das Jahr damals für mich 200 Schmerzenstage hatte. Das Übel muß ganz und gar lokale Ursachen gehabt haben: es fehlt jedwede neuropathologische Grundlage. Ich habe nie ein Symptom von geistiger Störung gehabt; selbst kein Fieber, keine Ohnmacht. Mein Puls war damals so langsam wie der des ersten Napoleons (= 60) Meine Spezialität war, den extremen Schmerz cru, vert mit vollkommener Klarheit zwei bis drei Tage hintereinander auszuhalten, unter fortdauerndem Schleim-Erbrechen. Man hat das Gerücht verbreitet, als ob ich im Irrenhause gewesen sei (oder gar darin gestorben sei) Nichts ist irrthümlicher. Mein Geist wurde sogar in dieser fürchterlichen Zeit erst reif: Zeugniß die „Morgenröthe“, die ich in einem Winter von unglaublichem Elend in Genua, abseits von Ärzten, Freunden und Verwandten, geschrieben habe. Dies Buch ist eine Art „Dynamometer“ für mich: ich habe es mit einem Minimum von Kraft und Gesundheit verfaßt. Von 1882 an ging es, sehr langsam freilich, wieder aufwärts: die Krisis schien überwunden (— mein Vater ist sehr jung gestorben, exakt in dem Lebensjahr, in dem ich selbst dem Tode am nächsten war) Ich habe auch heute noch eine extreme Vorsicht nöthig; ein paar Bedingungen klimatischer und meteorologischer Art sind unerläßlich. Es ist nicht Wahl, sondern Zwang, daß ich die Sommer im Oberengadin, die Winter an der riviera zubringe … Zuletzt hat mir die Krankheit den allergrößten Nutzen gebracht: sie hat mich heraus gelöst, sie hat mir den Muth zu mir selbst zurückgegeben… Auch bin ich, meinen Instinkten nach, ein tapferes Thier, selbst ein militärisches: der lange Widerstand hat meinen Stolz ein wenig exasperirt. — Ob ich ein Philosoph bin? — Aber was liegt daran!..