1888, Briefe 969–1231a
1223. An Meta von Salis auf Marschlins
Turin, den 29. Dez. 1888.
Verehrtes Fräulein,
es ist vielleicht nicht verboten, Ihnen um die Jahreswende einen Gruß zu senden — Hoffentlich giebt es ein gutes Jahr. Vom alten sage ich gar Nichts mehr — es war zu gut…
Inzwischen fange ich an, auf eine vollkommen unerhörte Weise berühmt zu werden. Ich glaube, daß noch nie ein Sterblicher solche Briefe bekommen hat, wie ich sie bekomme und nur von lauter ausgesuchten Intelligenzen, von Charakteren in hohen Pflichten und Stellungen bewährt. Überall her: nicht am wenigsten aus der ersten St. Petersburger Gesellschaft. Und die Franzosen! Sie sollten den Ton hören, mit dem Ms. Taine an mich schreibt! So eben traf ein bezaubernder, vielleicht auch bezauberter Brief eines der ersten und einflußreichsten Männer Frankreichs ein, der aus dem Bekanntwerden und Übersetzen meiner Schriften sich eine Aufgabe machen will: kein Geringerer als der Chef-Redakteur des Journal des Débats und der Revue des deux Mondes Ms. Bourdeau. Er sagt mir übrigens, daß eine Besprechung meines „Fall Wagner“ im Januar des J. d Déb. erscheinen werde — von wem? Von Monod. — Ich habe ein veritables Genie unter meinen Lesern, den Schweden August Strindberg, der mich als den tiefsten Geist aller Jahrtausende empfindet. Ich sende Ihnen einen Aufsatz im „Kunstwart“, mit der Bitte, ihn mir gelegentlich zurückzugeben, der in der That auf eine vollkommene Weise den „Fall Nietzsche“ präcisirt. — Das Merkwürdigste ist hier in Turin eine vollkommne Fascination, die ich ausübe — in allen Ständen. Ich werde mit jedem Blick wie ein Fürst behandelt, — es giebt eine extreme Distinktion in der Art, wie man mir die Thür aufmacht, eine Speise vorsetzt. Jedes Gesicht verwandelt sich, wenn ich in ein großes Geschäft trete. — Und da ich Nichts beanspruche und mit vollkommner Gelassenheit gegen Jedermann gleich bin, auch das Gegentheil eines düsteren Gesichts habe, so brauche ich weder Namen, noch Rang, noch Geld, um immer noch unbedingt der Erste zu sein. —
Damit es nicht am Contraste fehlt! meine Schwester hat mir zu meinem Geburtstage mit äußerstem Hohne erklärt, ich wolle wohl auch anfangen, „berühmt“ zu werden… Das werde ein schönes Gesindel sein, das an mich glaube… Dies dauert jetzt sieben Jahre… —
Noch ein andrer Fall. Ich halte ernsthaft die Deutschen für eine hundsgemeine Art Mensch und danke dem Himmel, daß ich in allen meinen Instinkten Pole und nichts Andres bin. Mein Verleger, Herr E. W. Fritzsch, hat bei Gelegenheit vom „Fall Wagner“ einen der schnödesten Artikel über mich in dem von ihm selbst redigirten Mus<ikalischen> Wochenblatt abdrucken lassen. Ich habe ihm darauf sofort geschrieben „Wieviel verlangen Sie für meine ganze Litteratur? In aufrichtiger Verachtung Nietzsche.“ — Antwort: 11 000 Mark. — Sehen Sie! Das ist deutsch… der Verleger des Zarathustra!
Georg Brandes geht diesen Winter wieder nach St. Petersburg, um über das Unthier Nietzsche Vorträge zu halten. Er ist wirklich ein ausgezeichnet intelligenter und guter Mensch, ich habe noch nie so delikate Briefe bekommen. — Es wird auf das Eifrigste gedruckt, feuereifrigst… Inzwischen ist Herr Köselitz ein großes Thier geworden: Joachim und de Ahna schwärmen für diesen neuen „Klassiker“, — ich füge hinzu, daß er in einem der glänzendsten Häuser Berlins mit nur allzuglücklichem Erfolg sich um ein merkwürdig schönes und interessantes Mädchen bewirbt, obwohl er einen Grafen Schlieben zum Rivalen hat. Er war schon den ganzen Sommer auf dem Waldschloß seiner Prinzessin in Hinterpommern unter lauter Junkern und Gardelieutnants. Wahrscheinlich wird ihn Graf Hochberg um die erste Aufführung des Löwen von Venedig für Berlin angehen. — Kurz: Umwerthung aller Werthe… Mit den besten Grüßen und Wünschen
Ihr N.
Haben Sie davon gehört, daß Mad. Kowalewski in Stockholm (— sie stammt vom alten Ungarnkönig Matthias Corvin) den allerersten mathematischen Preis von der Pariser Akademie erhalten hat, den sie vergeben kann? Sie gilt heute als das einzige Genie der Mathematik. —