1888, Briefe 969–1231a
1107. An Georg Brandes in Kopenhagen
Sils-Maria d. 13. Sept. 1888.
Verehrter Herr,
Hiermit mache ich mir ein wahres Vergnügen — nämlich mich Ihnen wieder in’s Gedächtniß zurück zu rufen: und zwar durch Übersendung einer kleinen boshaften, aber trotzdem sehr ernst gemeinten Schrift, die noch in den guten Tagen von Turin entstanden ist. Inzwischen nämlich gab es böse Tage in Überfluß: und einen solchen Niedergang von Gesundheit, Muth und „Willen zum Leben“, Schopenhauerisch geredet, daß mir jene kleine Frühlings-Idylle kaum mehr glaublich erschien. Zum Glück besaß ich noch ein Dokument daraus den „Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem.“ Böse Zungen wollen lesen „der Fall Wagner’s“…
So sehr und mit so guten Gründen Sie sich auch gegen Musik vertheidigen mögen (— die zudringlichste aller Musen), so sehen Sie sich doch einmal dies Stück Musiker-Psychologie an. Sie sind, verehrter Herr Cosmopoliticus, viel zu europäisch gesinnt, um nicht dabei hundert Mal mehr zu hören, als meine sogenannten Landsleute, die „musikalischen“ Deutschen…
Zuletzt bin ich, in diesem Falle, Kenner in rebus et personis — und, glücklicher Weise, bis zu dem Grade Musiker von Instinkt, daß mir über die hier vorliegende letzte Werthfrage von der Musik aus das Problem zugänglich, löslich erscheint.
Im Grunde ist diesen Schrift beinahe französisch geschrieben, — es möchte leichter sein, sie ins Französische zu übersetzen als ins Deutsche…
Würden Sie mir noch ein Paar russische oder französische Adressen geben können, in deren Fall es Vernunft hätte, die Schrift mitzutheilen?
Ein paar Monate später giebt es etwas Philosophisches zu erwarten: unter dem sehr wohlwollenden Titel Müssiggang eines Psychologen sage ich aller Welt Artigkeiten und Unartigkeiten — eingerechnet dieser geistreichen Nation, den Deutschen —
Dies Alles sind in der Hauptsache nur Erholungen von der Hauptsache: letztere heißt Umwerthung aller Werthe— Europa wird nöthig haben, noch ein Sibirien zu erfinden, um den Urheber dieser Werth-Tentative dorthin zu senden.
Hoffentlich begrüßt Sie dieser heitere Brief in einer bei Ihnen gewohnten resoluten Verfassung —
Sich gern Ihrer erinnernd
Dr. Nietzsche
Adresse bis Mitte November: Torino (Italia)
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