1888, Briefe 969–1231a
1094. An Meta von Salis auf Marschlins
Mittwoch, Sils. <22. August 1888>
Verehrtes Fräulein,
ein Wetter, wie am Morgen Ihrer Abreise — zum ersten Mal seitdem: lautes Geplätscher. Ich mache mir die kluge Erholung, die ich mir so oft im Kampf mit den „Naturgeistern“ diesen Sommer gemacht habe — und unterhalte mich ein wenig mit Ihnen. Zu alledem liegt ein gewisses Buch vor mir: es kam gestern Abend an. Noch niemals habe ich mich so würdig angeputzt gesehn — beinahe als „Classiker“. Der erste Blick hinein gab mir eine Überraschung: ich entdeckte eine lange Vorrede zu der „Genealogie“, deren Existenz ich vergessen hatte… Im Grunde hatte ich bloß den Titel der drei Abhandl. im Gedächtniß: der Rest, dh. der Inhalt war mir flöten gegangen. Dies die Folge einer extremen geistigen Thätigkeit, die diesen Winter und dies Frühjahr ausfüllte und die gleichsam eine Mauer dazwischen gelegt hatte. Jetzt lebt das Buch wieder vor mir auf — und, zugleich, der Zustand vom vorjährigen Sommer, aus dem es entstand. Extrem schwierige Probleme, für die eine Sprache, eine Terminologie nicht vorhanden war: aber ich muß damals in einem Zustande von fast ununterbrochener Inspiration gewesen sein, daß diese Schrift wie die natürlichste Sache von der Welt dahinläuft. Man merkt ihr keine Mühsal an — Der Stil ist vehement und aufregend, dabei voller finesses; und biegsam und farbenreich, wie ich eigentlich bis dahin keine Prosa geschrieben. Freilich sagt der große Kritiker Spitteler: daß er, seitdem er diese Schrift von mir gelesen habe, alle Hoffnungen auf mich als Schriftsteller aufgegeben habe…
Im Vergleich mit letztem Sommer, der mir eine solche Improvisation über horrible Themata erlaubte, erscheint dieser Sommer freilich geradezu „ins Wasser gefallen“. Dies thut mir außerordentlich leid: denn aus dem zum ersten Male wohlgerathenen Frühlings-Aufenthalte brachte ich sogar mehr Kraft mit herauf als voriges Jahr. Auch war alles zu einer großen und ganz bestimmten Aufgabe vorbereitet. Das „Pamphlet“ gegen Wagner (— auf das ich, unter uns, stolz bin) gehört in allem Wesentlichen nach Turin und war eigentlich die rechte, allerbeste Erholung, die Jemand sich mitten in schweren Dingen machen konnte.
Zu den Spezialitäten dieses Sommers gehört die absurde Insomnie. Auch heute, wie gestern, wie vorgestern seit zwei Uhr nachgedacht… um 4 Uhr Cacao…
Gestern Nachmittag war ich mit Prof. Kaftan im Fexthal. In der „Alpenrose“ sind noch c. 30 Personen. Im Grunde geht es jetzt schnell zu Ende. Der Herbst — wir haben ein unzweifelhaftes September-Wetter: wenn dies nicht gar noch ein Euphemismus ist. Ich will dennoch bis Mitte Sept. auszuhalten suchen.
Mit den herzlichsten Wünschen für Ihr Wohlergehen und mit einem vielfachen Anlaß, Ihnen zu danken
Ihr ergebenster
Dr. Nietzsche.
— Sie dürfen sich darauf verlassen, daß das Buch wie ein Ei geschont und in einer vollkommen festen (gebundenen) enveloppe zu Ihnen zurückkehrt.