1888, Briefe 969–1231a
1148. An Heinrich Köselitz in Berlin
Turin, den 18. Nov. 1888
Lieber Freund,
Ihr Brief hat Folgen — ich fühle Etwas wie einen Blitz… Sofort lief ein kleines Handschreiben an Fritzsch ab, mit der Unterschrift „in aufrichtiger Verachtung Nietzsche“. Zwei Tage später will ich ihm schreiben: Verhandeln wir mit einander, Herr Fritzsch! Unter diesen Umständen ist es nicht möglich, meine Werke in Ihren Händen zu lassen. Wieviel wollen Sie für Alles zusammen?“ — Wenn es so weit kommt, daß ich alle meine Litteratur in die Hände bekomme, Alles „Naumanniana“, so wäre das jetzt ein Meisterstreich, — zwei Jahre darauf würde Herr F<ritzsch> sich sehr besinnen… Mille grazie! Vielleicht waren Sie damit sogar der Urheber meiner fortuna. — Ich rechne, daß er 3000 Thaler haben will; er hat an Schmeitzner, wenn mich nicht Alles täuscht, 2000 gezahlt. — Erwägen Sie, daß ich damit der Eigenthümer des Zarathustra werde. Schon „Ecce homo“ wird die Augen aufmachen. — Ich falle vor Vergnügen fast vom Stuhle. —
Aber das war nur die Nebensache. Eine ganz andre Frage bewegt mich tief — die Operetten-Frage, die Ihr Brief berührt. Wir haben uns nicht wiedergesehn, seit ich über diesen Frage aufgeklärt bin — oh so aufgeklärt! So lange Sie mit dem Begriff „Operette“ irgend eine Condescendenz, irgend einen Vulgarismus des Geschmacks mitverstehen, sind Sie — verzeihen Sie den starken Ausdruck! — nur ein Deutscher… Fragen Sie doch, wie Monsieur Audran die Operette definirt: „das Paradis aller delikaten und raffinirten Dinge“, die sublimen Süßigkeiten eingerechnet. Ich hörte neulich „Mascotte“ — drei Stunden und nicht ein Takt Wienerei (= Schweinerei) Lesen Sie irgend ein Feuilleton über eine neue Pariser opérette: sie sind jetzt in Frankreich darin wahre Genies von geistreicher Ausgelassenheit, von boshafter Güte, von Archaismen, Exotismen, von ganz naiven Sachen. Man verlangt 10 Stücke ersten Ranges, damit eine Operette, unter einem enormen Druck der Concurrenz, obenauf bleibt. Es giebt bereits eine wahre Wissenschaft von finesses des Geschmacks und des Effekts. Ich beschwöre Sie, Wien ist ein Schweinestall… Wenn ich Ihnen Eine veritable Pariser Soubrette, welche crée —, in einer einzigen Rolle zeigen könnte, z. B. Mad. Judic oder die Milly Meyer, so würden Ihnen die Schuppen von den Augen, ich wollte sagen von der Operette fallen. Die Operette hat keine Schuppen: die Schuppen sind bloß deutsch…
— Und hier kommt eine Art Recept. Für unsre Leiber und Seelen, lieber Freund, ist eine kleine Vergiftung mit Parisin einfach eine „Erlösung“ — wir werden wir, wir hören auf, horndeutsch zu sein… Vergeben Sie mir, aber deutsch schreiben kann ich erst von dem Augenblick an, wo ich mir Pariser als Leser denken konnte. Der „Fall Wagner“ ist Operetten-Musik…
Dieser Tage machte ich die gleiche Reflexion bei einem wahrhaft genialen Werk eines Schweden, des mir von Dr. Brandes als Hauptverehrer vorgestellten Herrn August Strindberg. Es ist die französische Cultur auf einem unvergleichlich stärkeren und gesünderen fond: der Effekt ist bezaubernd: „Les mariés“ heißt es, Paris 1885. — Sehr curios, wir stimmen über das „Weib“ absolut überein, — es war bereits Dr. Brandes aufgefallen. —
Moral: nicht Italien, alter Freund! Hier, wo ich die erste Operetten-Gesellschaft Italiens habe, sage <ich> mir bei jeder Bewegung der hübschen, oft allzuhübschen Weiberchen, daß sie eine leibhafte Carikatur aus jeder Operette machen. Sie haben ja keinen esprit in den Beinchen, — geschweige im Köpfchen… Offenbach ist in Italien ebenso dunkel (will sagen hundsgemein) als in Leipzig. —
Sehen Sie, wie weise ich jetzt werde! Wie ich selbst die Werthe meines Freundes Köselitz umwerthe! — Warum nicht Bruxelles?… Am besten freilich Paris selbst. Die Luft thut’s. — Das wußte Wagner: sich in Scene setzen hat er nur in Paris gelernt.
Ich bitte, auch diesen Brief tragisch zu nehmen. Mit aufrichtiger Achtung Ihr
N.