1888, Briefe 969–1231a
1088. An Heinrich Köselitz in Annaberg
Sils den 11. August <1888>
Lieber Freund,
es ist mir keine kleine Herzstärkung gewesen, zu hören, selbst zu sehen, daß Ihnen diese sehr risquirte Schrift Vergnügen gemacht hat. Es giebt Stunden, besonders Abends, wo mir der Muth zu so viel Tollheit und Härte fehlt. In summa: es erzieht mich zu einer noch größeren Einsamkeit — und bereitet mich vor, noch ganz andre Dinge zu verlautbaren als meine Bosheiten über einen solchen „Privat-Fall“. Das Stärkste steht eigentlich in den „Nachschriften“; in Einem Punkte bin ich sogar zweifelhaft, ob ich nicht zu weit gegangen (— nicht in den Sachen, sondern in dem Aussprechen von Sachen) Vielleicht lassen wir die Anmerkung (in der über W<agner>s Herkunft Etwas angedeutet wird) weg und machen dafür zwischen den Hauptabschnitten der „Nachschrift“ kleine Zwischenräume…
Auf S. 27, Zeile 1 müßte es allerdings genauer heißen „sein Instinkt dafür, die höhere Gesetzlichkeit nicht nöthig zu haben“; aber da vorausgeht „sein Bewußtsein davon“, schien es mir zu viel. Machen Sie nach Gutdünken! —
Im Schluß des Ganzen bin ich auf den Gesichtspunkt des „Vorworts“ zurückgekommen: zugleich um der Schrift den Charakter des Zufälligen zu nehmen, — um ihren Zusammenhang mit meiner ganzen Aufgabe und Absicht herauszuheben.
Auf dem Umschlag sind die Schriften angezeigt; auch habe ich den „Hymnus“ nicht vergessen. — Mir gefallen dies Mal die Seiten, — gerade voll genug und nicht so gedrückt und unübersichtlich voll, wie im „Jenseits“ (— das mir schwer lesbar scheint)
Gestern gab es ein Fest für mich. Vielleicht haben Ihnen die Ohren geklungen. Herr von Holten, der Pianist des Hamburger Conservatoriums, hatte sich das „Liebesduett“ eingeübt und führte es mir in einem Privat-concert vor. Er mußte es sechs Mal wiederholen: er hat wunderbar die Singstimme zum Vorschein gebracht — er war selbst ganz erbaut von der „liebenswürdigen und feinen Musik“, wie er sich ausdrückte (— er spielte es auswendig —) er nahm Anstoß an der Logik des ges im Baß Seite 5, unterste Zeile „dein Will gescheh“
Gleich darauf setzte ich mich hin und schrieb nach Hamburg an Hans…
quod deus bene vertat! —
— Und haben Sie Ihr Quartett schon zu hören bekommen? —
Seit drei Tagen ist das Wetter außerordentlich schön: vorher harter Winter, man gieng bei Schneegestöber und eisigem Winde hinaus. —
Was denken Sie über den Winter, der jetzt zu erwarten steht? —
Und bleibt es bei Ihrem Besuche der Familie von Krause? -
Es ist nicht unwahrscheinlich, daß ich von hier wieder nach Turin gehe. Es sei denn daß… Wenn Bülow nur bald antwortete! — Aber wer weiß, wo er steckt!
Leben Sie wohl, lieber Freund!
Immer viel im Geiste bei Ihnen
N.
Das „Leitmotiv“ meiner schlechten Scherze „Wagner als Erlöser“ bezieht sich natürlich auf die Inschrift im Kranze des Münchner Wagner-Vereins „Erlösung dem Erlöser“…