1888, Briefe 969–1231a
1145. An Elisabeth Förster (Entwurf)
<Turin, Mitte November 1888>
Meine Schwester!
Ich habe Deinen Brief empfangen und nachdem ich ihn mehrere Male gelesen habe, sehe ich mich in die ernste Nothwendigkeit versetzt, von Dir Abschied zu nehmen. Jetzt, wo sich mein Schicksal entschieden hat, empfinde ich jedes Deiner Worte an mich mit verzehnfachter Schärfe: Du hast nicht den entferntesten Begriff davon, nächstverwandt mit dem Menschen und Schicksal zu sein, in dem sich die Frage von Jahrtausenden entschieden hat, — ich habe, ganz wörtlich geredet, die Zukunft der Mh. in der Hand. Ich kenne die menschliche Natur und bin unsäglich fern davon, in irgend einem einzelnen Falle zu verurtheilen, was das Verhängniß der Menschheit überhaupt ist; mehr noch: ich verstehe, wie gerade Du, aus vollkommner Unmöglichkeit, die Dinge zu sehn, in denen ich lebe, fast in den Gegensatz von mir hast flüchten müssen. Was mich dabei beruhigt, ist, zu denken, daß Du es auf Deine Weise gut gemacht hast, daß Du Jemanden hast, den Du liebst und der Dich liebt, daß von Dir eine bedeutende Aufgabe zu erfüllen bleibt, der Dein Vermögen sowohl wie Deine Kraft geweiht ist, — endlich, was ich nicht verschweigen will, daß eben diesen Aufgabe Dich etwas fern weg von mir geführt hat, so daß die nächsten chocs dessen, was sich jetzt vielleicht mit mir begiebt, Dich nicht erreichen. — Das Letzte wünsche ich um Deinetwillen: ich bitte vor Allem inständig darum, Dich von keiner freundlichen und in diesem Falle gerade gefährlichen Neugierde verführen zu lassen, die Schriften, die jetzt von mir herauskommen, zu lesen. Dergleichen könnte Dich über alle Maßen verwunden — und mich, in dieser Vorstellung, noch dazu… In diesem Sinne bedaure ich selbst die Schrift gegen Wagner an Dich abgeschickt zu haben, die, inmitten der ungeheuren Spannung, in der ich lebe, eine wahre Wohlthat für mich war — als ein honnettes Duell eines Psychologen mit einem frommen Verführer, den Niemand leicht als solchen erkennt.
Zu aller Beruhigung will ich von mir selber soviel sagen, daß mein Befinden ausgezeichnet ist, von einer Festigkeit und Geduld, wie ich in meinem ganzen früheren Leben keine Stunde gehabt habe; daß das Schwerste mir leicht wird, daß Alles geräth, was ich unter die Hände nehme. Die Aufgabe, die auf mir liegt, ist trotzdem meine Natur — so daß ich jetzt erst einen Begriff von dem habe, was mein mir vorbestimmtes Glück war. Ich spiele mit der Last, welche jeden Sterblichen zerdrücken würde… Denn das, was ich zu thun habe, ist furchtbar, in jedem Sinne des Wortes: ich fordre nicht Einzelne, ich fordre die Menschheit mit meiner entsetzlichen Anklage als Ganzes heraus; wie auch die Entscheidung fällt, für mich oder gegen mich, in jedem Fall haftet unsäglich viel Verhängniß an meinem Namen… Indem ich Dich von Herzen bitte, in diesem Brief keine Härte, sondern das Gegenstück dazu zu sehn, eine wirkliche Humanität, die sich bemüht, überflüssigem Unheil vorzubeugen, empfehle ich mich auch über die Notwendigkeit hinweg, Deiner Liebe…
Dein Bruder.