1888, Briefe 969–1231a
1090. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria,> Montag, <13. August 1888>
Meine liebe Mutter,
wir haben seit 4 Tagen ein unvergleichlich schönes Wetter und athmen alle auf. Vorher noch war es tief winterlich; so daß meine Wirthin mir doppelte Decken aufs Bett legte und ich alle Wintersachen, die ich hatte, in Gebrauch nahm. Aber mit Einem Male ist eine wunderbare Sommer-Stimmung da; die allerschönsten Farben, die ich hier oben gesehen habe, und der Himmel vollkommen rein wie in Nizza. Heute morgen bin ich mit Fräulein v. Salis auf dem See herumgegondelt; gestern hat mir ein ausgezeichneter Musiker ein kleines Privatconcert gegeben, in dem er Sachen von Herrn Köselitz spielte, die er für mich eingeübt hatte. Ebenfalls langte ein sehr liebenswürdiger Brief von Missis Fynn aus Genf an (trotzdem daß ich seit vorigem Herbste vollkommen verstummt war und mehrere Briefe unbeantwortet gelassen hatte). In meinem Hôtel sind jetzt 60 Gäste. Es gab sehr viel zu thun für mich, wir sind wieder in voller Druck-Arbeit. —
Nunmehr habe ich die etwas zu salzigen und derben Schinken aufgegessen; insgleichen einen von den feinen und kleinen. Der zweite ist auch bereits angeschnitten: so daß es nun nicht mehr sehr lange dauert, daß der Vorrath erschöpft ist. Meine Absicht ist immer noch, bis zum 15. Sept. auszuhalten: obwohl bei dem Wetter von diesem Jahre nichts zu versprechen ist. Im Grunde war der ganze bisherige Aufenthalt eine Geduldsprobe allerersten Ranges: man kann sich etwas Schauderhafteres gar nicht denken. Ich wußte sehr oft nicht, wie über eine unglaubliche Melancholie und Schwäche hinwegkommen.
Sils hat sich neue Glocken angeschafft, deren Klang sehr weich und voll ist.
Von den Federn bitte ich mir doch eine ganze Schachtel aus, von wegen der Reise nach dem Süden, wo ich nichts mehr beziehn kann.
Vor ein paar Tagen habe ich auch an Herrn von Bülow nach Hamburg geschrieben, der jetzt 2 Winter daselbst die Oper dirigirt hat, um ihm das Werk des ausgezeichneten Herrn Köselitz ans Herz zu legen. Er wäre der Einzige, der so etwas Neues wagte: aber da er ein unberechenbarer Mensch ist, so rechne ich auf nichts. —
In herzlicher Liebe Dich umarmend
Dein altes Geschöpf.