1888, Briefe 969–1231a
1001. An Franz Overbeck in Basel
Nice, pension de Genève den 3. März 1888.
Lieber Freund,
vergieb mir, daß ich, eben im Besitz Deines guten Briefes, sofort Dich wieder mit meinen Angelegenheiten behelligen muß. Die Rechnung Lorenzens ist durchaus bedenkeneinflößend: ich kann nur einen einzigen Posten anerkennen. Die sechs ersten Posten habe ich bei meiner letzten Abreise von Leipzig bezahlt, den siebenten und achten (Dionys. und Apollodor) weder erhalten, noch je zu erhalten verlangt. Doch darüber will ich mit Lorenz selbst verhandeln. —
Dagegen beunruhigt es mich, daß Du nichts über die Bezahlung meiner Druckrechnung bei C. G. Naumann bis jetzt mir gemeldet hast. Ich habe die Rechnung in meinem vorletzten Briefe beigelegt: — muß ich fürchten, daß der Brief mit der Rechnung verloren gegangen ist? — in diesem Winter der Lawinen und Eisenbahn-Störungen scheint Viel verloren zu gehn..
Ich wundere mich seit Wochen, daß C. G. Naumann mir nicht den Empfang des Geldes signalisirt. —
Die Druckkosten der „Genealogie“ betrugen: 588 Mark 65 Pfennige.
Was den gegen Ende des Monats fällig werdenden Gehalt angeht, so bitte ich mir denselben hierher noch aus. Doch wäre ich dankbar für jeden Tag, den er früher kommt; im Grunde ist meine Zeit für Nizza abgelaufen — der Glanz der Sonne (bei übrigens kaltem Wetter) ist für meine Augen jetzt schon zu intensiv. — Sonst geht es wieder besser; auch bin ich mit meinem Winter, der lauter radikalen Problemen und Entscheidungen geweiht war, nicht übel zufrieden. — Sende einfach Basler Papier, bitte. — Der Ofen war de rigueur, Du hast Recht. Namentlich für mein Nordzimmer. Ich begreife übrigens absolut nicht, wie ich einen nordischen Winter aushielte: so sehr ich es wünschen muß, aus den allerletzten Gründen. Aber es ist selbst hier jeder eigentliche düstere und winterliche Tag, an dem die Sonne fehlt, für mich eine wahre Tortur: ich bin krank und in einer kaum glaublichen Weise gedrückt, leiblich und geistig. Dieser absurde Grad von Dependenz hat etwas Demüthigendes; aber es hilft nichts, ich muß mit diesem Faktor rechnen. Engadin und Nizza sind nicht eigentlich mehr in Frage zu ziehn: sie sind das einzig Bewiesene. Das Frühjahr macht mir Furcht; es ist mir an jedem Orte bisher mißrathen. — Das vergangene Jahrzehend mit meiner habituellen Schwäche und Reizbarkeit an Kopf und Nerven, die aus den geringsten Zufällen und Unfällen wahre Katastrophen schuf, sollte schlechterdings aus meiner Erinnerung ausgewischt werden. Aber einstweilen muß ich schon mit Tagen und Wochen zufrieden sein, wo ich es vergesse. Dieser Grad von menschlicher décrépitude, der meiner ganzen Denkweise so unangemessen wie möglich ist, hat, wie ich mir nicht verberge, meinen Stolz etwas exasperirt: schlimm genug, aber man hält die Misère nur um diesen Preis aus. — Mir ist zu Muthe, wie einem Troglodyten, dem es Mühe macht, an das Licht zu glauben; man wird extrem mißtrauisch; man wird problematisch.
Lieber Freund, es scheint mir nicht unmöglich, daß ich Dich dieses Jahr einmal wieder in Basel begrüße: obwohl ich es heute noch nicht versprechen will. Mit den herzlichsten Wünschen für Dich und Deine liebe Frau Dein
Nietzsche.
(Die Straße pet. rue St. Etienne ist jetzt umgetauft: rue Rossini)