1888, Briefe 969–1231a
1151. An Georg Brandes in Kopenhagen
Torino, via Carlo Alberto 6, III den 20. Nov. 1888.
Verehrter Herr,
Vergebung, daß ich auf der Stelle antworte. Es giebt jetzt in meinem Leben curiosa von Sinn im Zufall, die nicht ihres Gleichen haben. Vorgestern erst; jetzt wieder. — Ach, wenn Sie wüßten, was ich eben geschrieben hatte, als Ihr Brief mir seinen Besuch machte…
Ich habe jetzt mit einem Cynismus, der welthistorisch werden wird, mich selbst erzählt: das Buch heißt „Ecce homo“ und ist ein Attentat ohne die geringste Rücksicht auf den Gekreuzigten: es endet in Donnern und Wetterschlägen gegen Alles, was christlich oder christlich-infekt ist, bei denen Einem Sehn und Hören vergeht. Ich bin zuletzt der erste Psychologe des Christenthums und kann, als alter Artillerist, der ich bin, schweres Geschütz vorfahren, von dem kein Gegner des Christenthums auch nur die Existenz vermuthet hat. — Das Ganze ist das Vorspiel der Umwerthung aller Werthe, das Werk, das fertig vor mir liegt: ich schwöre Ihnen zu, daß wir in zwei Jahren die ganze Erde in Convulsionen haben werden. Ich bin ein Verhängniß. —
— Errathen Sie, wer in „Ecce homo“ am schlimmsten wegkommt? Als die zweideutigste Art Mensch, als die im Verhältniß zum Christenthum fluchwürdigste Rasse der Geschichte? Die Herrn Deutschen! — Ich habe ihnen furchtbare Dinge gesagt… Die Deutschen haben es zum Beispiel auf dem Gewissen, die letzte große Zeit der Geschichte, die Renaissance, um ihren Sinn gebracht zu haben — in einem Augenblick, wo die christlichen Werthe, die décadence-Werthe, unterlagen, wo sie in den Instinkten der höchsten Geistlichkeit selbst überwunden durch die Gegeninstinkte waren, die Lebens-Instinkte!… Die Kirche angreifen — das hieß ja das Christenthum wiederherstellen. — Cesare Borgia als Papst — das wäre der Sinn der Renaissance, ihr eigentliches Symbol…
— Auch dürfen Sie darüber nicht böse sein, daß Sie selber an einer entscheidenden Stelle des Buchs auftreten — ich schrieb sie eben — in diesem Zusammenhange, daß ich das Verhalten meiner deutschen Freunde gegen mich stigmatisire, das absolute In-Stichgelassen-sein mit Ehre wie mit Philosophie. — Sie kommen, eingehüllt in eine artige Wolke von Glorie, auf einmal zum Vorschein…
Ihren Worten über Dostoiewsky glaube ich unbedingt; ich schätze ihn andererseits als das werthvollste psychologische Material, das ich kenne, — ich bin ihm auf eine merkwürdige Weise, dankbar, wie sehr er auch immer meinen untersten Instinkten zuwidergeht. Ungefähr mein Verhältniß zu Pascal, den ich beinahe liebe, weil er mich unendlich belehrt hat: der einzige logische Christ…
— Vorgestern las ich, entzückt und wie bei mir zu Hause, les mariés von Herrn August Strindberg. Meine aufrichtige Bewunderung, der nichts Eintrag thut, als das Gefühl, mich dabei ein wenig mitzubewundern… Turin bleibt meine Residenz —
Ihr Nietzsche, jetzt Unthier…
Wohin darf ich Ihnen die „Götzen-Dämmerung Oder:
wie man mit dem Hammer philosophirt“ senden? Im Fall, daß Sie noch 14 Tage in Kopenhagen sind, ist keine Antwort nöthig. —