1888, Briefe 969–1231a
1119. An Heinrich Köselitz in Buchwald
Sils-Maria, d. 16. Sept. 88
Lieber Freund,
unsre Briefe haben sich gekreuzt, — dies ist aber am wenigsten ein Grund, Ihnen nicht sofort zu antworten. Denn Ihr Brief kam sehr willkommen, zumal gar keine Briefe mich mehr erreichen: alle Welt glaubt mich abgereist. Ich wäre es gern: aber was hilft es! Die „höhere“ Naturgewalt, nachdem sie mich den ganzen sogenannten Sommer hindurch hier oben maltraitirt hat, hält mich zuletzt noch hier oben fest… Ich schrieb heute nach Turin, wo ich mich angemeldet hatte, „Non si può partire. Grandi inondazioni. La ferrovia Chiavenna-Colico molte volte interrotta“. — Der Postmeister will mir melden, wenn Alles in Ordnung ist: eine Woche sitze ich wohl noch fest. — Das Wetter ist zum Glück mild und nicht September… Ich habe beim Schreiben eben als Unterlage das erste fertige Exemplar vom „Fall Wagners“… Naumann meldet, daß die öffentliche Versendung am 22. September beginnt. — Beim sorgsamen Durchlesen der Schrift fand ich zwanzig Gründe mehr, Ihnen dankbar zu sein. Eine ganze Anzahl feiner technisch-buchdruckerischer Arrangements geht sicher auf Sie zurück. Daß in dem Bücher-Verzeichniß auf der Rückseite die „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ fehlen, ist geradezu bewunderungswürdig. — In Einem Fall von Correktur haben Sie Recht, — aber ich auch: „seinen Geschmack an Jemanden verlieren“ (Accusativ) ist nur eine andre Nuance als „an Jemandem“. — Ich war beim Durchlesen äußerst erbaut, den „Epilog“ hinzugeschrieben zu haben: das Niveau der Schrift erhebt sich damit ungeheuer, — sie erscheint nicht mehr als Einzelnheit, als Curiosum inmitten meiner Aufgabe. — Daß ich unsern jungen deutschen Kaiser als einen „unästhetischen Begriff“ bezeichnet habe, wird man schon heraushören… Übrigens gefällt er mir immer mehr: er thut fast jede Woche einen Schritt, um zu zeigen, daß er weder mit „Kreuzzeitung“, noch mit „Antisemitismus“ verwechselt werden will. Gestern sandte ich ein dickes Packet Fuchsiana an Sie ab, — die Briefe sind zum Theil hochbelehrend und immer sehr geistreich. Er hat mich besonders noch drum gebeten, in einer letzten Karte, Ihnen seinen Brief über Riemann zu lesen zu geben. — Die Gesundheit bei mir wackelt wieder: ich bin seit 10 Tagen meines Lebens nicht mehr froh geworden, — habe auch heute wieder das Mittagsessen weislich unterlassen. — Ihre prachtvolle vornehme Wald- und Schloß-Wildniß, eingerechnet die „Wilden und Zahmen“, die in ihr wandeln, macht mir viel Vergnügen. Irgendwer erzählte mir, daß Ihre v. Krauses in Beziehungen zum Grafen Hochberg stünden: leider ist letzterer nun auch ad acta gelegt, irgendein unzweideutiger Wagnerianer soll sein Nachfolger werden. — Im Grunde bin ich dieses Mal neugierig, was man mit meiner „Kriegserklärung“ gegen Wagner anfängt. Herrn Naumann habe ich bereits gemeldet, daß wir jetzt unter keinen Umständen etwas Neues herausgeben dürfen: es würde die Wirkung brechen und beinahe annulliren (— bis Ostern darf das übersandte Manuscript in Leipzig warten) —
Meine Absicht bleibt immer noch, Turin für den Herbst zu versuchen: Mitte November etwa Nizza, doch mit einigen wesentlichen Änderungen der Lebensweise daselbst (— Freiheit in der Diät und gegen alle Gesellschaft: ein Zustand, wie er hier in Sils erreicht ist —) Sonst möchte ich diesen auch räumlich kleinen Kreislauf festhalten: Sils, Turin, Nizza, Turin, Sils.
Es grüßt Sie lieber Freund, auf das Herzlichste
Ihr
Nietzsche.
— Ich habe dem Avenarius den „Fall“ auch zugeschickt: sollten Sie wirklich noch eine Absicht haben, sich drüber zu äußern, so geben Sie, bitte, umgehend dem Avenarius eine Mittheilung davon, — damit er niemand anders beauftragt. N.B. Wollen Sie gefälligst die Recension an Dr. Fuchs, Danzig zurücksenden? — Die Briefe selber nicht an mich zurück. —