1888, Briefe 969–1231a
1062. An Heinrich Köselitz in Annaberg
Sils, Oberengadin, d. 17. Juli 1888.
Lieber Freund,
großes Vergnügen! nämlich darüber, daß Sie wieder für mich erreichbar sind. Mir fehlte Ihre Münchner Adresse — oh! und wie sehr sie mir fehlte! — Doch davon nachher!
Ich empfehle durchaus, H. v. Bülow ein Exemplar des Duetts zu senden: mein Vorschlag ist, in Anbetracht, daß wir unter einander nicht ohne Rücksichten sind (Bülow und ich —) darauf zu setzen:
Im Namen eines Freundes
mit verehrungsvollem Gruße
überreicht von Prof. Dr. Nietzsche.
(NB. Er ist auch für nächsten Winter der Hamburger Theater Capellmeister. Avis au lecteur.) Übrigens hat man mir hier, wo gerade Hamburger Gesellschaft prädominirt, nicht genug Bülow’s Theater-Direktion rühmen können. Unvergleichlich delikate Mozart-Aufführungen: insgleichen Carmen, geradezu nicht wiederzuerkennen im Vergleich zu älteren Aufführungen (— Bülow habe sich eine Ehrensache daraus gemacht, das Werk nicht in üblich-deutscher Manier zu compromittiren) — Sie können denken, in welche Menagerie ich Ihren Löwen sperren möchte? Pollini!!!
Gestern kam ein sehr erfreulicher Brief des Herrn Spitteler, geschrieben und nach Nizza geschickt vor mehr als 2 Monaten: einen Dank für meine Verleger-Vermittlung ausdrückend. Es handelt sich um ein Hauptwerk Sp<itteler>s, die Aesthetik des ganzen französischen Drama’s darstellend. Die competentesten Sachkenner scheinen außer sich vor Bewunderung desselben (— er hat, mit großer Bescheidenheit, überall erst angefragt)
Mit mir gieng und geht es schlecht. Der alte miserable Zustand von Kopfschmerz und Erbrechen fast permanent; viel zu Bett; wenig Kraft selbst zum Spazierengehn. Im Übrigen ein Hundewetter, so lange ich hier oben bin. Unerschöpflicher Regen, dazwischen Schneetage, durchweg sehr niedrige Temperatur, in 5 Wochen Einen, noch dazu eiskalten hellen Tag (— an dem ich zu Bett lag)
Die allerletzten Tage schien mir die Gesundheit ein paar Schritte vorwärts zu machen: allerdings gieng unmittelbar ihnen der härteste Anfall meines Leidens voraus, den ich hier oben gehabt habe. —
Dr. Fuchs hat so viel geschrieben, daß es eine Litteratur ist. Ein kleines Paket Recensionen geht, auf seinen besonderen Wunsch, dieser Tage an Sie ab. —
Lieber Freund! Erinnern Sie sich, daß ich in Turin ein kleines Pamphlet geschrieben habe? Wir drucken es jetzt; und Sie sind auf das Inständigste ersucht, dabei mitzuhelfen. Naumann hat bereits Ihre Adresse. Der Titel ist:
Der Fall Wagner.
Ein Musikanten-Problem.
Von
Friedrich Nietzsche.
Es ist etwas Lustiges, mit einem fond von fast zu viel Ernst. — Können Sie sich die ges<ammelten> Schriften W<agner>s zu Gebote stellen? Ich hätte gern ein Paar Stellen, um sie genau, mit Band- und Seitenzahl citiren zu können, 1) es giebt im Texte des „Rings“ eine Variante von Brünnhildens letztem Liede, die ganz buddhistisch ist: ich will nur die Seiten- und Bandzahl haben, nicht die Worte 2) wie heißt wörtlich die Stelle des Tristan:
„den furchtbar tief geheimnißvollen Grund
wer macht der Welt ihn kund?“
ist es so richtig? —
- in einer seiner letzten Schriften hat W<agner> einmal ausgesprochen, sogar fettgedruckt, wenn ich mich recht erinnere, daß „die Keuschheit Wunder thut“ Hier hätte ich gern den Wortlaut. —
Im Übrigen ersuche ich <Sie> mir jede Art von Ausstellung, von Wort- und Geschmackskritik zu machen. Es steht viel Verwegenes in diesem kleinen Machwerk. — Correktur-Gang wie herkömmlich. Über Ausstattung, Papier u.s.w. bin ich mit Naumann bereits in Ordnung. Das Manuscript ist den 19. Juli in seinen Händen.
Mit den herzlichsten Grüßen
Ihres Freundes
Nietzsche.
Mich Ihren verehrten Eltern angelegentlich empfehlend.