1888, Briefe 969–1231a
1111. An Paul Deussen in Berlin
Sils-Maria, d. 14. Sept. 1888 Adresse bis 15. November: Torino (Italia) ferma in posta.
Lieber Freund,
ich möchte Sils nicht verlassen, ohne Dir nochmals die Hand zu drücken, in Erinnerung an die größte Überraschung, die mir dieser an Überraschungen reiche Sommer gebracht hat. Auch darf ich jetzt wieder muthiger reden als damals, wo ich Dir zu antworten hatte: die Gesundheit ist seitdem wiedergekommen, mit dem „besseren“ Wetter, denn der Begriff „gut“ ist für Meteorologen und Philosophen impraktikabel. Zwar hatten wir die allerletzte Woche noch den eigentlichen Exceß des ganzen Jahrs — eine wahre Sündfluth, die die ernstesten Überschwemmungs-Nothstände im Ober- und Unterengadin hervorrief. Es fiel in 4 Tagen 220 millim. Niederschlag, während das Normal-Quantum eines ganzen Monats hier 80 m<illimeter> ist. — Du wirst noch in diesem Monate eine Zusendung erhalten: eine kleine aesthetische Streitschrift, in der ich, zum ersten Male und auf die unbedingteste Weise das psychologische Problem Wagner an’s Licht stelle. Es ist eine Kriegserklärung ohne pardon an diesen ganze Bewegung: zuletzt bin ich der Einzige, der Umfang und Tiefe genug hat, um hier nicht unsicher zu sein. — Daß eine Schrift von mir, ein Pamphlet, wenn man will, gegen Wagner, eine gewisse Aufregung mit sich bringt, giebt mir schon der letzte Bericht meines Verlegers zu verstehn. Bloß auf die vorläufige Ankündigung im Buchhändler-Börsenblatt hin sind so viel Bestellungen eingelaufen, daß die Auflage von 1000 Ex. als erschöpft betrachtet werden kann (d. h. wenn die Exemplare, die verlangt sind, später nicht den Krebsgang gehn…). Lies die Schrift einmal auch vom Standpunkt des Geschmacks und Stils: so schreibt heute kein Mensch in Deutschland. Es würde ebenso leicht sein die Schrift ins Französische zu übersetzen als schwer, fast unmöglich, sie ins Deutsche zu übersetzen…
— Es ist bereits ein andres M<anu>s<kript> bei meinem Verleger, das einen sehr strengen und feinen Ausdruck meiner ganzen philosophischen Heterodoxie giebt — unter vieler Anmuth und Bosheit versteckt. Es heißt: Müssiggang eines Psychologen. — Zuletzt sind diese beiden Schriften nur wirkliche Erholungen inmitten einer unermeßlich schweren und entscheidenden Aufgabe, welche, wenn sie verstanden wird, die Geschichte der Menschheit in zwei Hälften spaltet. Der Sinn derselben heißt in drei Worten: Umwerthung aller Werthe. Es steht Vieles hinterdrein nicht mehr frei, was bis jetzt frei stand: das Reich der Toleranz ist durch Werth-Entscheidungen ersten Rangs zu einer bloßen Feigheit und Charakter-Schwäche heruntergesetzt. Christ sein — um nur Eine Consequenz zu nennen — wird von da an unanständig. — Auch von dieser radikalsten Umwälzung, von der die Menschheit weiß, ist Vieles bei mir schon in Fluß und Gang. Nur, nochmals gesagt, habe ich jede Art Erholung und Seitensprung nöthig, um das Werk ohne jedwede Mühe, wie ein Spiel, wie eine „Freiheit des Willens“ hinzustellen. Das erste Buch davon ist zur Hälfte vollendet. — Mein alter Freund, Du erräthst, daß es Etwas in diesem und in den nächsten Jahren zu drucken giebt — und daß wirklich jene seltsame Geld-Großmuth in einem entscheidend guten Augenblick an meine Thür klopfte. Man muß zu Allem Glück haben, selbst noch zum Gutes-Thun… Ein Paar Jahre früher — wer weiß, was ich Dir geantwortet hätte! —
Mit dem herzlichsten Gruße Dein Freund
Nietzsche.
— Ich sende auch ein Exemplar an Hrn. Rechtsanwalt Volkmar. —