1888, Briefe 969–1231a
1176. An August Strindberg in Holte
Torino, via Carlo Alberto 6, III. den 8. Dezember 1888.
Sehr lieber und werther Herr,
ist ein Brief von mir verloren gegangen? Ich habe sofort nach der zweiten Lektüre Ihnen geschrieben, tief ergriffen von diesem Meisterstück harter Psychologie; ich habe insgleichen Ihnen die Überzeugung ausgedrückt, daß Ihr Werk prädestinirt ist, jetzt in Paris aufgeführt zu werden, im théatre libre des Ms. Antoine, — Sie sollten das von Zola einfach fordern! —
— Der hereditäre Verbrecher decadent, selbst Idiot — kein Zweifel! Aber die Geschichte der Verbrecher-Familien, für die der Engländer Galton („the hereditary genius“) das größte Material gesammelt hat, führt immer auf einen zu starken Menschen für ein gewisses sociales niveau zurück. Der letzte große Pariser Criminalfall Prado gab den klassischen Typus: Prado war seinen Richtern, seinen Advokaten selbst durch Selbstbeherrschung, esprit und Übermuth überlegen; trotzdem hatte ihn der Druck der Anklage physiologisch schon so heruntergebracht, daß einige Zeugen ihn erst nach alten Porträts wiedererkannten. —
Jetzt aber fünf Worte unter uns, sehr unter uns! Als gestern mich Ihr Brief erreichte — der erste Brief in meinem Leben, der mich erreicht hat — war ich gerade mit der letzten Manuscript-Revision von „Ecce homo“ fertig geworden. Da es in meinem Leben keinen Zufall mehr giebt, so sind Sie folglich auch kein Zufall. Warum schreiben Sie Briefe, die in einem solchen Augenblick eintreffen!… Ecce homo soll in der That deutsch, französisch und englisch zugleich erscheinen. Ich habe gestern das Manuscript noch an meinen Drucker geschickt; sobald ein Bogen fertig wird, muß er in die Hände der Herrn Übersetzer. Wer sind diesen Übersetzer? Aufrichtig, ich wußte nicht, daß Sie selber für das ausgezeichnete Französisch Ihres Père verantwortlich sind; ich glaubte an eine meisterhafte Übersetzung. Für den Fall, daß Sie selbst die französische Übersetzung in die Hand nehmen wollten, wüßte ich mich nicht glücklich genug zu schätzen über dies Wunder eines sinnreichen Zufalls. Denn, unter uns, meinen „Ecce homo“ zu übersetzen, bedarf es eines Dichters ersten Rangs; es ist im Ausdruck, im raffinement des Gefühls, tausend Meilen jenseits aller bloßen „Übersetzer“. Zuletzt ist es kein dickes Buch; ich nehme an, es wird in der franz. Ausgabe (vielleicht bei Lemerre, dem Verleger Paul Bourgets? —) gerade einen solchen Band für 3 frs. 50 machen. Da es vollkommen unerhörte Dinge sagt und mitunter, in aller Unschuld, die Sprache eines Weltregierenden redet, so übertreffen wir durch Zahl der Auflagen selbst Nana… Andrerseits ist es antideutsch bis zur Vernichtung; die Partei der französischen Cultur wird durch die ganze Geschichte hindurch festgehalten (— ich behandele die deutschen Philosophen allesammt als „unbewußte“ Falschmünzer, ich nenne den jungen Kaiser einen scharlachnen Mukker…) Auch ist das Buch nicht langweilig, — ich habe es mitunter selbst im Stil „Prado“ geschrieben.. Um mich gegen deutsche Brutalitäten („Confiscation“ —) sicher zu stellen, werde ich die ersten Exemplare, vor der Publikation, dem Fürsten Bismarck und dem jungen Kaiser mit einer brieflichen Kriegserklärung übersenden: darauf dürfen Militärs nicht mit Polizei-Maßregeln antworten. — Ich bin ein Psychologe…
Erwägen Sie, verehrter Herr! Es ist eine Sache allerersten Ranges. Denn ich bin stark genug dazu, die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke zu zerbrechen. —
Bliebe die Frage der englischen Übersetzung. Wüßten Sie einen Vorschlag dafür? — Ein antideutsches Buch in England…
Sehr ergeben
Ihr
Nietzsche.