1888, Briefe 969–1231a
1130. An Heinrich Köselitz in Berlin
Turin, den 14. Okt. 1888
Lieber Freund,
ich werde mich hüten, Ihnen von meinen Recepten zur „himmlischen und irdischen Reconvalescenz“ zu sprechen, da Sie, nicht nur dem Anscheine nach, sich hundert Mal besser auf dies Problem, die „Lösung“ eingerechnet, verstehn. Unter diesen Umständen ist selbst Berlin kein Umstand: es macht mir das größte Vergnügen, Sie gerade dort zu wissen. Selbst Turin ist eigentlich kein Gesichtspunkt mehr. — In Sachen des „Löwen“ hat Bülow nicht geantwortet: was ihm schlecht bekommen ist. Denn dies Mal war ich’s, der ihm einen groben und vollkommen berechtigten Brief geschrieben hat, um ein für alle Mal mit ihm zu Ende zu sein. Ich habe ihm zu verstehn gegeben, daß „ihm der erste Geist des Zeitalters einen Wunsch ausgedrückt habe“: ich erlaube mir jetzt dergleichen. —
Heute kam Bogen 6 von Naumann an; es werden doch wohl noch 2 Bogen mehr. In der That hat man mich mit dieser Schrift in nuce: sehr Viel auf kleinem Raum. —
Eben trifft ein Brief des Professor Deussen aus Madrid ein: er will noch ganz Spanien durchreisen und doch zur rechten Zeit für die Berliner Vorlesungen wieder am Platz sein. „Die Luft von Madrid, einzig an Reinheit, Trockenheit, Dünne und Durchsichtigkeit, — Alles erscheint in einen farbigen Aether getaucht, glänzend, wie ein überfirnißtes Gemälde.“ —
Wissen Sie, wer den „Fall“ zugeschickt bekommt? Die Wittwe Bizet’s. Und zwar auf eifrigste Fürsprache des Dr. Brandes: er nennt sie „die lieblichste charmanteste Frau mit einem kleinen nervösen tic, der ihr sonderbar gut steht, aber ganz echt, ganz wahr und feurig“. Er meint, daß sie etwas deutsch versteht. „Das Kind Bizet’s ist von idealer Schönheit und Lieblichkeit“. —
Er hat ein Exemplar meiner Schrift an den größten schwedischen Schriftsteller, der ganz für mich gewonnen sei, August Strindberg gegeben, er nennt ihn ein „wahres Genie“, nur etwas verrückt. Insgleichen bittet er für ein paar Personnagen der höchsten Petersburger Gesellschaft um Exemplare, die bereits auf mich aufmerksam gemacht sind, so weit dies bei dem Verbot meiner Schriften in Rußland möglich ist: der Fürst Urussow und die Prinzessin Anna Dmitrievna Ténicheff. Das sind „höhere Feinschmecker“…
Die Franzosen haben den Hauptroman Dostoiewsky’s auf die Bühne gebracht. Insgleichen ist eine Oper „Bacchos“ mir im Gedächtniß hängen geblieben, Musik und Dichtung vom Gleichen, der Name ist mir entwischt. Nicht aufgeführt, nur in Aussicht.
Gegen Turin ist Nichts einzuwenden: es ist eine herrliche und seltsam wohlthuende Stadt. Das Problem, innerhalb der besten Quartiere einer Stadt, nahe, ganz nahe ihrem Centrum, eine Einsiedler-Ruhe, in ungeheuer schönen und weiten Straßen zu finden — dies für Großstädte anscheinend unlösbare Problem ist hier gelöst. Die Stille ist hier noch die Regel, die Belebtheit, die „Großstadt“ gleichsam Ausnahme. Dabei annähernd 300 000 Einwohner.
Das Wetter ist seit einigen Tagen von Nizzahafter Reinheit und Leuchtkraft der Farben, nur etwas zu frisch für mich, der ich durch die Engadiner Winter-Einsperrung geradezu eine Angst vor dem neuen Winter im Leibe habe. Seit Juni habe ich gefroren und wie! Ohne jedwedes Gegenmittel! — Es kommt dazu, daß meine Gesundheit über einen choc nicht hinwegkommt, der durch eine etwas zu lange Dysenterie (Kolik auf deutsch) bedingt ist. Ich glaubte zuerst an Vergiftung: doch haben die normalen Mittel Bismuth und Dower’sches Pulver ihre Schuldigkeit gethan. Immerhin resultirt eine Entkräftung daraus, die auch gegen Kälte empfindlicher macht. —
Es grüßt und umarmt Sie auf das Herzlichste Ihr getreuer Freund
Nietzsche
Soeben, am 15. Morgens, finde ich einen liebenswürdigen Gratulationsbrief vor: schönsten Dank! Um so mehr, als es der einzige ist! — Daß ein Orchester Ihnen wohlthut, erfreut mich über die Maaßen, — Ihre Reise bekommt immer mehr Sinn, — zuviel bereits…
Bogen 6 eben ab an Naumann.