1888, Briefe 969–1231a
1132. An Franz Overbeck in Basel
Turin, den 18. Okt. 1888
Lieber Freund,
ich machte gestern, mit Deinem Brief in der Hand, meinen gewohnten Nachmittags-Spaziergang außerhalb Turins. Reinstes Oktoberlicht überall; der herrliche Baumweg, der mich ungefähr eine Stunde dicht am Po entlang führte, vom Herbste noch kaum berührt. Ich bin jetzt der dankbarste Mensch von der Welt — herbstlich gesinnt in jedem guten Sinne des Wortes: es ist meine große Erntezeit. Alles wird mir leicht, Alles geräth mir, obwohl schwerlich schon Jemand so große Dinge unter den Händen gehabt hat. Daß das erste Buch der Umwerthung aller Werthe fertig ist, druckfertig, das melde ich Dir mit einem Gefühle, für das ich kein Wort habe. Es werden vier Bücher; sie erscheinen einzeln. Dies Mal führe ich, als alter Artillerist, mein großes Geschütz vor: ich fürchte, ich schieße die Geschichte der Menschheit in zwei Hälften aus einander. — Mit jener Schrift, über die ich im letzten Brief eine Andeutung machte, sind wir bald am Ende: es ist, um mir möglichst wenig Zeit von meiner jetzt ganz unschätzbaren Zeit zu nehmen, mit ausgezeichneter Präcision gedruckt worden. Dein Citat aus „Menschl. Allzumenschl.“ kam vollkommen zur rechten Zeit, um eingetragen zu werden. — Diese Schrift ist bereits eine hundertfache Kriegserklärung, mit einem fernen Donner im Gebirge; im Vordergrund viel „Lustiges“, von der Art meiner bedingten Lustigkeit… Man kann sich zum Erstaunen leicht mit dieser Schrift über meinen Grad von Heterodoxie unterrichten, die in der That keinen Stein auf dem andern läßt. Gegen die Deutschen gehe ich darin in ganzer Front vor: Du wirst Dich nicht über „Zweideutigkeit“ zu beklagen haben. Diese unverantwortliche Rasse, die alle großen malheurs der Cultur auf dem Gewissen hat und in allen entscheidenden Momenten der Geschichte etwas „Andres“ im Kopfe hatte (— die Reformation zur Zeit der Renaissance; Kantische Philosophie, als eben eine wissenschaftliche Denkweise in England und Frankreich mit Mühe erreicht war; „Freiheits-Kriege“ beim Erscheinen Napoleon’s, des Einzigen, der bisher stark genug war, aus Europa eine politische und wirtschaftliche Einheit zu bilden —) hat heute „das Reich“, diesen Recrudescenz der Kleinstaaterei und des Cultur-Atomismus, im Kopfe, in einem Augenblicke, wo die große Werthfrage zum ersten Mal gestellt wird. Es gab nie einen wichtigeren Augenblick in der Geschichte: aber wer wüßte Etwas davon? Das Mißverhältniß, das hier zu Tage tritt, ist vollkommen nothwendig: im Augenblick, wo eine noch nie geahnte Höhe und Freiheit der geistigen Leidenschaft Besitz ergreift von dem höchsten Problem der Menschheit und für deren Schicksal die Entscheidung heraufbeschwört, muß sich die allgemeine Kleinheit und Stumpfheit um so schärfer dagegen abheben. Gegen mich giebt es durchaus noch keine „Feindschaft“: man hat einfach keine Ohren für irgend Etwas von mir, folglich weder ein Für, noch ein Wider*…
Lieber Freund, lege, wenn ich bitten darf, auch noch die 500 frs. von denen Du schreibst, bei der Handwerkerbank nieder. Ich muß jetzt mit aller Kraft Ökonomie machen, um den außerordentlichen Druckkosten der nächsten drei Jahre gewachsen zu sein. (Ich nehme also an, daß die am 1. Oktober fällig gewordenen 1000 frs. jetzt ganz daselbst deponirt sind.) Ende Dezember werde ich dann freilich die 500 frs. sehr dringend nöthig haben. Mein Plan ist, bis zum 20. November hier auszuhalten (— ein etwas frostiges Vorhaben, da der Winter früh kommt!) Dann will ich nach Nizza und daselbst, mit vollkommenem Bruch aller bisherigen usances, mir die Existenz herstellen, die ich jetzt brauche. Ich habe bisweilen auch an Bastia auf Corsica gedacht: doch fürchte ich mich, mitten in der tiefen Selbstbesinnung, die mir noth thut, vor dem Experiment und seinen Gefahren.
Herr Köselitz ist nach Berlin übergesiedelt; seine Briefe athmen die allerbeste Seelenverfassung, die man auf Erden wünschen kann. Auch geschieht Etwas für ihn: darüber einmal später. Adresse: Berlin SW. Lindenstraße 116 IV 1. —
Es grüßt Dich und Deine liebe Frau auf das Dankbarste
Dein Nietzsche