1888, Briefe 969–1231a
1061. An Carl Spitteler in Basel
Sils, Oberengadin, am 16. Juli 1888
Sehr geehrter Herr,
als ich hier oben eintraf, fand ich, in einer Sonntags-Beilage des „Bund“ abgedruckt, Ihre Worte über Schubert. Meine Freude war groß dabei: so liebevoll und so sachlich zugleich schreibt Niemand heute de rebus musicis et musicantibus. Ich gab sofort einen Auftrag, um Ihnen irgend wodurch ein Zeichen meiner Sympathie zu geben — hoffentlich nicht ohne Erfolg. Ich sage das letzte aus Mißtrauen gegen die Post.
Es fehlte mir so lange jede Nachricht über Sie. Der mir für Nizza zugedachte Brief ist, ich weiß nicht aus was für Gründen, erst gestern, den 15. Juli, in meine Hände gelangt. Es scheint, daß er die Reise um die Welt gemacht hat. Aber die Nachrichten darin sind herrlich, vor allem die Aussicht auf ein Werk, dessen Thema mich nicht weniger interessirt als sein Verfasser. Dieser Credner kann sich gratulieren! — Vielleicht ist es am Platze, daß ich über den genannten Herrn noch etwas deutlicher bin als ich es in meinem letzten Briefe war. Alle Welt achtet ihn, aber alle Welt weiß auch „Geschichten“ von ihm, vor allem seine Autoren. Er ist, unter uns, launenhaft und willkürlich bis zur Dummheit. Vor zwei Jahren verlor er einen Prozeß gegen einen Professor in Tübingen, weil er in dessen Geschichtswerk seine eigne völlig differente politische Gesinnung durch nachträgliche Correkturen eingeschwärzt hatte. Ich selbst war mit ihm über die Herausgabe meines „Jenseits“ in Ordnung: aber, gewarnt wie ich war, habe ich beim ersten Anzeichen von Verleger-Selbstherrlichkeit mein M<anu>s<cript> telegraphisch zurückverlangt. Diesen Winter klagte mir der geistreiche Däne Dr. Brandes brieflich sein Leid: ein bei Credner erschienenes Werk sei in einem Deutsch abgefaßt, für das er, der Autor, keine Verantwortung übernehme — das Deutsch sei Credner-Deutsch. — Seien Sie ein wenig auf der Hut, lieber Herr!
Der eben genannte Dr. Brandes hat mich diesen Winter in Dänemark berühmt gemacht. Er hat einen längeren Cyklus von Vorlesungen an der Kopenhagener Universität gehalten: „über den deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche“. Nach den Zeitungen muß der Erfolg außergewöhnlich gewesen sein; mehr als 300 Zuhörer regelmäßig, eine große Ovation am Schluß. Eben ist mir etwas Ähnliches für New York in Aussicht gestellt worden. Bis jetzt habe ich das Glück des allergewähltesten und zugleich zeitungsscheusten Leserkreises gehabt, den es geben kann; sagen wir dreißig gescheidte Köpfe zwischen Paris und Petersburg. Der Rest geht mich nichts an.
Ich schreibe Ihnen noch ein Paar Worte aus dem Briefe eines verehrungswürdigen Musikers ab (beiläufig desselben, der diesen Winter einige Worte zuviel über eine gewisse Kritik geschrieben hatte) „der gestern eingetroffne Kunstwart enthielt ein verteufelt gescheidtes Artikelchen von Spitteler über Schuberts Sonaten. Der Mann hat Herz, Geschmack und Richtertalent in musikalischen Dingen; er weiß, wie selten sogar Musiker, worum es sich handelt. Merkwürdiger Weise nennt er die Esdur-Sonate nicht, die nach meinem Dafürhalten die vollkommenste Leistung Sch<ubert>s auf diesem Gebiet ist; ebenso wenig die Wanderer-Phantasie, eines der kraft- und schwungvollsten Klavierwerke, die es giebt; selbst Beethoven, mit aller seiner Gewalt, hat nichts so Hinreißendes zu Stande gebracht. Wahrhaftig, Schubert ist ein Riese; aber er hatte keine Idee von seinen Dimensionen und seiner Kraft; ein Riese, der im Grase liegt, mit Kindern spielt und sich selbst für ein Kind hält — ein Phänomen, das nicht gut anderswo möglich ist als unter Deutschen, oder sagen wir „möglich war“, denn die Kinder in Deutschland spielen heute Riese Goliath, und es ist schwer geworden, sich noch als Kind vorzukommen.“ —
Der „Hymnus an das Leben!“ Werther und lieber Herr Spitteler, im Grunde bin ich ein alter Musikant. — Er soll einmal „zu meinem Gedächtniß“ gesungen <werden> — mit andern Worten, er soll von mir übrigbleiben, vorausgesetzt, daß sonst genug „übrig bleibt“… Mottl in Karlsruhe hat mir eine Aufführung in Aussicht gestellt. —
Es grüßt Sie mit dem Ausdruck herzlicher Antheilnahme Ihr
Dr. Nietzsche