1884, Briefe 479–567
479. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz
<Nizza, 18. Januar 1884>
Mein werther Herr Verleger
eine gute Nachricht! Oder vielmehr die Beste, die es, von mir aus gesehn, geben kann: mein Zarathustra ist fertig: — es bedarf der Abschrift — es bedarf des Drucks. Ich hatte im vergangenen Jahr nicht daran mehr gedacht, daß die ungeheure Sache, den Schluß zu diesen beiden ersten Theilen zu finden, mir schon in diesem Winter (in ein paar Wochen, die Wahrheit zu sagen —) gelingen werde. Ich bin glücklich und, wie schon oft in meinem Leben, von mir selber über mich selber „überrascht“.
Die Vehemenz des Gefühls bei solchen Dingen ist übrigens so groß, daß man wie ein gläsernes Gefäß auf Ein Mal dabei springen kann: und bevor dieser dritte und letzte Theil nicht gedruckt vor mir liegt, und ich von dieser Vehemenz täglich und nächtlich gequält bin, ist die Gefahr keine geringe.
Erlösen Sie mich also wenigstens mit dem vorläufigen Versprechen, daß Sie, lieber und werther Herr Schmeitzner, Alles thun werden, den Druck zu beschleunigen. —
Dieser dritte Akt meines Dramas (besser sollte ich vom Finale meiner Symphonie reden) ist dem Umfange nach (nach ziemlich genauer Schätzung) so lang wie der zweite dh. gegen 100 Druckseiten, eher weniger als mehr.
Der Inhalt enthält mancherlei „Unglaubliches“ — sehen wir zu, wie es mit der deutschen „Pressfreiheit“ bestellt ist! Zuletzt: kann man denn „Dichtungen“ verbieten? —
Mit der Bitte, mir schnell zu antworten und in allem Übrigen Ihnen zugethan und das Beste wünschend
Nietzsche
Nizza (France), pension de Genève petite rue St. Etienne
480. An Franz Overbeck in Basel
Nice, (France) Pension de Genève petite rue St. Etienne.
<25. Januar 1884>
Verzeihung, alter Freund, für dies Zettelchen — aber ich will eine gute Nachricht drauf schreiben. Seit vorigem Freitage ist „Also sprach Zarathustra“ vollkommen fertig — und ich bin mitten im Abschreiben. Das Ganze ist somit genau im Verlaufe eines Jahrs entstanden: im strengeren Sinne sogar im Verlaufe von 3 x 2 Wochen. —Die letzten zwei Wochen waren die glücklichsten meines Lebens: ich bin nie mit solchen Segeln über ein solches Meer gefahren; und der ungeheure Übermuth dieser ganzen Seefahrer-Geschichte, welche so lange dauert als Du mich kennst, 1870, kam auf seinen Gipfel. Wie es mit mir im auslaufenden Jahre stand, das gab mein letzter Brief zu verstehen. Auch mußte ich die völlige Fremdheit des Nizzaer Bodens reichlich büßen; sogar Geld-Verluste erheblicher Art hatte ich, indem meine Hauswirthin, der ich für Zimmer und Pension vorausbezahlt hatte, verschwinden mußte.
Jetzt habe ich mich in die stille zuverlässige Welt einer Schweizer-Pension zurückgezogen.
Die Vollendung meines Zarathustra hat meiner Gesundheit sehr wohl gethan. — Alter lieber Freund, das Nächste, was ich projektire, zur Erholung! ist ein großer Front-Angriff auf alle Arten des jetzigen deutschen Obscurantismus (unter dem Titel „Neue Obscuranten“); Dazu — habe ich Deinen Rath und Deine Beihülfe nöthig!
Von Herzen Dein N.
481. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Entwurf)
<Nizza, Januar/Februar 1884>
Ich bin gerade in einer Stimmung, in der ich jeden Grad von menschlichem Blödsinn, (zumal über) moral<ische> Dinge, gutmüthig und kaltblütig über mich ergehen lasse: das will ich Deinem Briefe zu Gute kommen lassen. Auf den habe ich nicht zu antworten. Aber ich will Dir etwas erzählen.
Das Eine ist: von allen Bekanntschaften, die ich gemacht habe, ist eine der werthvollsten und ergebnißreichsten die mit L<ou>. Erst seit diesem Verkehre war ich reif zu meinem Z<arathustra>. Ich habe diesen Verkehr Deinetwegen abkürzen müssen. Verzeihung wenn ich dies härter empfinde, als Du mir nachfühlen kannst. L<ou> ist das begabteste, nachdenkendste Geschöpf, das man sich denken kann, natürlich hat sie auch bedenkliche Eigenschaften. Auch ich habe solche. Indessen das Schöne an bedenklichen Eigenschaften ist, daß sie zu denken geben, wie der Name sagt. Natürlich nur für Denker.
Es wird mir lieb sein, wenn Du mir schriebest: lieber Fr<itz> mein letzter Brief war Blödsinn sende ihn zurück — aber wenn Du es nicht thust, werde ich keine grauen Haare bekommen. A propos, könntest Du Dich nicht mit Frl. S<alomé> versöhnen?
482. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Entwürfe)
<Nizza, Januar/Februar 1884>
Aber ein Jahr nachher auf Dinge zurückkommen, die vor meinem intimen Zusammensein mit Frl. Salomé in Tautenburg und Leipzig liegen, war eine Brutalität sonder Gleichen; und mir dann Brief für Brief Dinge mitzutheilen, die mir ganz neu waren, und nachträglich noch Schmutz auf jene aufopferungsreichen Monate zu werfen, das heiße ich niederträchtig. Wenn Frl. S<alomé> über mich geäußert hat, daß ich „unter der Maske idealer Ziele“ schmutzige Absichten in Bezug auf sie verfolgte“, durfte ich so Etwas ein Jahr nachher erfahren? Ich hätte sie mit Schimpf und Schande fortgejagt und Rée’s von ihr befreit. — Dies nur als Probe von hundert Fällen, worin sich die verhängnißvolle Perversität meiner Schwester gegen mich gezeigt hat. Im Übrigen weiß ich längst, daß sie nicht eher Ruhe hat, als bis ich todt bin. Nun, mein Zarathustra ist fertig! Im Augenblick, wo er fertig wurde und ich in meinen Hafen einfuhr, stand sie da und warf mir Hände voll Schmutz in’s Gesicht.
Es sind Andeutungen in Deinem Briefe, welche mich sprachlos machen.
Bin ich es nicht, der ein Übermaaß von unverdienter Güte Euch im letzten Jahr bewiesen hat? Seid Ihr denn undankbar durch und durch? Oder so in den letzten Grund hinein verlogen, daß die einfachste Wahrheit bei Euch auf dem Kopfe steht?
Wer hat sich denn schlecht gegen mich benommen, wenn nicht Ihr? Wer hat mein Leben in Gefahr gebracht, wenn nicht Ihr? Wer hat mich so vollständig in Stich gelassen, wie Ihr, und damals, wo ich Trost nöthig hatte, mir mit Verhöhnung und Beschmutzung meines ganzen Lebens und Strebens geantwortet?
Ich kenne erst recht, und von Kindheit an, die moralische Distanz, die mich und Euch trennt, und habe all meine Milde, Geduld und Stillschweigen nöthig gehabt, um Sie Euch nicht allzufühlbar zu machen. Begreift Ihr denn Nichts von dem Widerwillen, den ich zu überwinden habe, mit solchen Menschen, wie Ihr seid, so nahe verwandt zu sein! Was bringt mich denn zum Erbrechen, wenn ich Briefe meiner Schwester lese und diese Mischung von Blödsinn und Dreistigkeit, die sich gar noch moralisch aufputzt, hinunterschlucken muß?
Ich habe nun ein paar Jahre wie ein zu Tode gemartertes Thier gegen L<isbeth> mich gewehrt und geflüchtet; ich habe sie beschworen mich in Ruhe zu lassen und sie hat nicht einen Moment aufgehört, mich zu martern. Ich fürchtete mich, vorigen August deshalb nach N<aumburg> zu gehn, um nicht thätlich mich an ihr zu vergreifen, und berieth deshalb mit O<verbeck>. Und nun stellt sie sich hin und thut, als ob sie an nichts schuld sei!
Ich weiß nicht, was schlimmer ist, die grenzenlose dreiste Albernheit L<isbeth>s, einen Menschenkenner und Nierenprüfer wie mich über 2 Menschen belehren zu wollen, welche ich Zeit und Lust genug hatte, aus der nächsten Nähe zu studiren: oder die unverschämte Taktlosigkeit, Menschen unausgesetzt mit Schmutz vor mir zu bewerfen, mit denen ich doch jedenfalls ein wichtiges Theil meiner geistigen Entwicklung gemein habe und welche insofern mir 100 Male näher stehen als dieses alberne rachsüchtige Geschöpf.
Mein Ekel mit einer so erbärmlichen Creatur verwandt zu sein.
Woher hat sie diese ekelhafte Brutalität — woher jene verschmitzte Manier, giftig zu stechen <durch welche ihr Brief an Frau R<ée> mir unbeschreiblich wehe that, in die Seele von Frau R<ée> hinein)
Wenn ein Mensch wie ich sagt „der und der gehört in den Plan meines Lebens“ wie ich es L<isbeth> über Frl S<alomé> gesagt habe — so ist es eine blödsinnige Albernheit des Urtheils und des Willens zu schaden und sich an überlegenen Geistern zu rächen. Dann mir in einer so infamen Weise entgegen zu arbeiten. Zuletzt habe ich doch durchgesetzt, was ich wollte.
Die dumme Gans ging so weit, mir Neid auf R<ée> vorzuwerfen! und mich mit G<ersdorff> und sich mit M<alwida> zu vergleichen!
Du kannst mir nicht nachfühlen, welcher Trost mir jahrelang Dr R<ée> gewesen ist — faute de mieux wie es sich von selber versteht, und welche unglaubliche Wohlthat mir gar der Verkehr mit Frl S<alomé> gewesen ist.
Was den Brief L<isbeth>s anlangt — so beunruhigen mich Urtheile über mich selber nicht. Ich denke, ich habe dasselbe schon Ein Mal zu hören bekommen — war’s von L<isbeth>? Oder von Frl S<alomé>? Über mich wenigstens stimmten sie damals überein. Wer treibt denn darin doppel Spiel?
Glaube ja nicht, l<iebe> M<utter>, daß ich schlechter Laune bin. Im Gegentheil! Aber wer jetzt nicht zu mir hält, der laufe zum Teufel — oder meinetwegen nach P<araguay>.
483. Vermutlich an Franz Overbeck in Basel (Entwurf)
<Nizza, Januar/Februar 1884>
Das Dümmste ist, daß ein grenzenlos absurder Brief meiner Schwester mich nöthigt, aus meiner allzu schonenden Zurückhaltung gegen sie herauszutreten.
Nebenbei gesagt, meine Schwester ist ein Unglückswurm: es ist ihr jetzt das sechste Mal in zwei Jahren passirt, daß sie mitten hinein in meine höchsten und seligsten Gefühle — Gefühle, wie sie auf der Erde überhaupt selten dagewesen sind — einen Brief hineingeworfen hat, der den niederträchtigsten Geruch des Allzumenschlichen hat.
Ich wunderte mich auch in Rom und Naumburg immer darüber, wie selten sie etwas sagt, was mir nicht wider den Strich ist.
Ich bin nach jedem Brief empört gewesen, über die schmutzig verleumderische Art, in der meine Schwester von Frl. Salomé redet. Es mag sich gegen das Mädchen einwenden lassen, was man will — und gewiß anderes als meine Schwester thut — aber dabei bleibt übrig, daß ich kein begabteres, nachdenkenderes Geschöpf gefunden habe. Und obwohl wir nie übereinstimmten, ebenso wie es zwischen Rée und mir stand, so waren wir doch beide nach jeder halben Stunde Zusammensein glücklich über die Menge, die wir dabei gelernt hatten. Und nicht umsonst habe ich in diesen letzten 12 Monaten meine höchste Leistung geleistet. Gewarnt waren wir hinreichend voreinander: und so wenig wir uns liebten, so wenig war es doch nöthig, daß wir einen für uns und alle Welt im höchsten Sinne nützlichen Verkehr aufgaben. Etwas Ähnliches gilt für meinen Verkehr mit Rée; ich weiß heute so gut wie vor sechs Jahren, wo seine Schwächen sind. — Aber er gehört als Denker in meine Entwicklung, und seine Bahnen sind in einem gewissen Sinne meine Erzeugnisse. Daß die Beiden sich gemein gegen mich benommen haben, ist wahr — aber ich hatte es ihnen vergeben, wie ich meiner Schwester schlimmeres Verhalten gegen mich vergeben hatte.
Meine Schwester, dreist gemacht durch die allzu bescheidne Gesellschaft Naumburgs und, wie schon gesagt, an die abscheulichste Litteratur gewöhnt, die es jetzt giebt — ist endlich auch verwöhnt durch meine Gutmüthigkeit und Schonung. Wie viel Briefe an sie habe ich verbrannt! Wie hundert Male habe ich gesagt: „sie kann nichts für ihre Art, laß sie laufen: eines Tages zeigt sie schon wieder ihre angenehmsten Seiten“.
Auf einen Brief wie den letzten Brief meiner Schwester gebührten sich von Rechts wegen eigentlich ein paar Ohrfeigen.
484. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Nizza, 1. Februar 1884>
Mein alter treuer Freund, — denn daß ich so lange schwieg, das hat Sie mir gewiß nicht untreu gemacht. Es gab nichts Gutes zu melden, und ich habe vom vorigen Winter her die Erinnerung und Scham, wie viel Schlimmes ich damals zu Papier gebracht habe, zu Ihrem Leidwesen — es war selber eine Krankheit in der Krankheit, meine damalige Briefschreiberei. — Wissen Sie eigentlich, daß ich im vorigen Winter einen Typhus durchgemacht habe?
Diesen Winter, bis zu Neujahr, gieng es nun wieder zum Verzweifeln; und auch meine Gesundheit war vom Schlimmsten, so wie einmal in Basel. Zu alledem maltraitirte mich meine Schwester nach wie vor mit Briefen, welche ich unter den Begriff „Antisemitismus“ fassen will — Sie errathen, welchen engeren Inhalt sie hatten. Nun, ich bin wieder einmal über alle „Berge“. —
Inzwischen ist mein Verlangen nach Ihrer Musik so groß geworden, daß ich unversehens wohl einmal in Venedig erscheinen werde. Es ist ein Verlangen wie nach schwerer Krankheit: ich glaube, Sie finden in der ganzen Welt keine Ohren, die so auf Sie hören möchten, lieber Freund! —
Zudem: ich möchte auch ein Fest zu Zweien mit Ihnen feiern, und habe guten Grund dazu — denn ich bin im Hafen! Mein „Zarathustra“ ist seit vierzehn Tagen fertig, ganz fertig — —
Wissen Sie vielleicht eine stille deutsche Pension, wo man etwa zu 5 frcs. al giorno leben kann (das Frühstück abgerechnet, welches ich mir selber besorge; auch ohne Wein: denn ich bin kein Weintrinker)
Dieses Jahr, oh lieber Freund, — mag es Ihnen und mir gedeihen!
Von Herzen
Ihr Nietzsche.
Ich weiß, Freund, was Sie zu thun haben: fürchten Sie nicht, daß ich in Bezug auf Ihre Zeit unbescheiden bin. — —
Dieser Januar war der schönste, den ich erlebte: auch dem Wetter nach.
Nice <France>
Pension de Genève, petite rue St. Etienne.
485. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz (Postkarte)
<Nizza, 6. Februar 1884>
Schönsten Dank, mein werthester Herr Verleger! Und haben Sie guten Muth: Sie haben jetzt das zukunftreichste Buch in Ihrem Verlag, das es giebt — — ich weiß sehr gut, was ich da sage und bin keineswegs toll oder eitel. — Sollte Naumann wieder der Drucker sein, so bestehen Sie unerbittlich auf tiefschwarzen Druck, auch schon für die Correctur-Bogen (ich habe das letzte Mal mit dieser Leipziger „Blässe“ meinen Augen geschadet) Sodann erinnre ich daran, daß das Manuscript nicht an mich, sondern an Hr. Köselitz zu senden ist (der 2. Zarathustra ist in Folge des umgekehrten modus druckfehler-reicher als ich wünschte!) — Vor Allem aber presto, presto! Denn es handelt sich um das Finale meiner Symphonie. Also nicht wieder 500,000 Gesangbücher und andre Teufeleien!
F.N.
486. An Franz Overbeck in Basel
<Nizza, 6. Februar 1884>
Mein lieber alter Freund,
ich höre mit Betrübniß vom „Gedärme“ und was damit zusammenhängt; es ist der böse Monat, wo man im Norden zum Bewußtsein gebracht wird, daß man den Winter wie eine Schuld zu büßen hat. Ach, und was hat man jetzt im Norden nicht zu „büßen“! Umgebung, Bestrebungen, Vereinsamung — im Grunde ist alles Winter daselbst und wirkt zuletzt aufs „Gedärme“. — Um so mehr bewegt mich Dein Wort „innerlicher Jubel“. Ach, Freund, wer freut sich denn noch, daß ich „über meinen Berg“ bin! Ein Einsiedler in Venedig und Einer in Vallombrosa noch (letzterer leider auch unter vieler Noth des Gedärmes!)
— Was die deutschen Zustände betrifft, so mag wohl Dein Rath an mich, den ich aus Deinen Worten herauslese, der richtige sein: „man soll den Sumpf nicht aufrühren“. Mit was für häßlichen und im Grunde ephemeren Dingen müßte ich mich bekannt machen! Im Grunde ist es die Auszeichnung meiner Position, daß ich von so Vielem nicht weiß und nicht zu wissen brauche (z. B. der Name „Nordau“ ist mir unbekannt). In der That, wir wollen warten und auch unsre Feindschaft in’s Große treiben. —
Eine „Erholung“ übrigens habe ich nöthig, und, wenn es keine kriegerische ist, so muß es eine tüchtige Muskel-Übung sein — Fußmärsche und dergleichen. —
Vielleicht durchlaufe ich einmal die riviera bis nach St. Raphael hin; bisjetzt betrachte ich das Clima von Nizza als das einzig für mich passende; Genua war ein großer Mißgriff, und St. Margherita ein — lebensgefährlicher. — Andrerseits ist mir Nizza zuwider, als Abklatsch von Paris und großthuerische Halb-Großstadt; es fehlt Wald, Schatten, Stille in einem kaum glaublichen Maße. Wäre ich vermögend, so würde ich schon anderswo an der riviera leben; aber verhältnißmäßig lebe ich hier natürlich am billigsten, weil es die größte Stadt ist.
Lieber Freund, es hilft nichts, wir müssen die letzten 500 frs. von der Handwerker-Bank zurücknehmen. Ich habe jetzt Geld nöthig. Aber ich will mich dies Jahr über nichts ärgern: ob es schon Gründe gäbe. —
Es wird bereits gedruckt, falls Schmeitzner seine Schuldigkeit gethan hat. — Übrigens ist der ganze Zarathustra eine Explosion von Kräften, die Jahrzehende lang sich aufgehäuft haben: bei solchen Explosionen kann der Urheber leicht selber mit in die Luft gehen. Mir ist öfter so zu Muthe: — das will ich Dir nicht verbergen. Und ich weiß im Voraus: wenn Du aus dem Finale ersehen wirst, was mit der ganzen Symphonie eigentlich gesagt werden soll (— sehr artistisch und schrittweise, wie man etwa einen Thurm baut), — so wirst auch Du, mein alter treuer Freund, einen heillosen Schrecken und Schauder nicht überwinden können. Du hast einen äußerst gefährlichen Freund; und das Schlimmste an ihm ist, wie sehr er zurückhalten kann. Wie gerne möchte ich mit Dir und Deiner lieben verehrungswürdigen Frau zusammen lachen (mich über mich selber todtlachen!!!)
Von Herzen
Dein Nietzsche.
487. An Fräulein Simon (Albumblatt)
Nizza, am 6ten Febr. 1884.
Die Einen reisen, weil sie sich suchen; die Andern, weil sie sich verlieren möchten.
+ + +
Wir machen es auch im Wachen wie im Traume: immer erfinden und erdichten wir erst den Menschen, mit dem wir verkehren — und vergessen dann sofort, daß wir ihn erfunden und erdichtet haben.
+ + +
Redlich gegen uns selber und wer sonst uns freund ist, muthig gegen den Feind, großmüthig gegen den Besiegten, höflich gegen Alle. —
Friedrich Nietzsche.
488. An Franz Overbeck in Basel
<Nizza, 12. Februar 1884>
Mein lieber Freund,
unbesorgt! Es geht und soll gehn! Die Wahrheit ist, daß eine Verwandlung mit mir vorgeht, und freilich giebt es Augenblicke dabei, wo ich nicht weiß, wie ich den nächsten Augenblick aushalten soll. Aber ich habe alle Taschen voll Erfahrungen und selbsterdachter Recepte. Ob sich wohl jemals ein Mensch so allein gefühlt hat? Ob ich nicht schließlich stumm werde? Zum Mindesten bin ich alle Tage ein Paar Mal auf dem Punkte, Napoleon zuzustimmen, welcher gesagt hat: „es giebt Dinge, die man nicht schreibt.“ Die Gesundheit ist inzwischen immer besser geworden, seit Neujahr erst drei Anfälle. Ich meine, das, was ich gethan habe, ist zugleich für meinen Leib eine Erlösung und Erquickung. Die Spannung der letzten 10 Jahre war zu groß: dies hatte seine physischen Consequenzen. — Ah, man soll nur seine Aufgabe hübsch durchführen, man fährt dabei am besten. Nun habe ich zum ersten Male meinen Hauptgedanken in eine Form gebracht — und siehe da, wahrscheinlich habe ich mich selber dabei erst „in eine Form gebracht.“ —
Übrigens brauche ich nachgerade einen Menschen, der etwas meinen Verkehr mit den lieben Mitmenschen wie ein Ceremonien-Meister überwacht: daß ich wenigstens nicht mehr den ärgsten Brutalitäten und Ungeschicktheiten der bêtise humaine ausgesetzt bin. Was man sich gegen mich an Anmaaßung und Zudringlichkeit in den letzten Jahren bis hin auf die letzten Tage erlaubt hat — geht über alle Vorstellung und Geduld hinaus. Ich muß mich noch ganz anders in meine Einsamkeit einwickeln. Namentlich aber muß ich verlernen, Briefe zu schreiben, in denen ich mich leidend zeige. Der Leidende ist die wohlfeile Beute für Jedermann; in Bezug auf einen Leidenden ist Jeder weise. — (Ganz objektiv betrachtet: wie viel Vergnügen schafft der Leidende denen, die es gerade nicht sind!) —
Mit Vallombrosa viel Verkehr, Übersenden von Bildern, meteorologischen Tabellen u.s.w. Das Problem ist noch nicht gelöst. —
Herzlichsten Dank für das übersandte Geld! Ich lachte dabei, als es ankam: denn ich hätte schon noch etwas warten können! Aber meine allgemeinen „Beängstigungen“ äußern sich mitunter in solchen ganz speziellen Beängstigungen z.B. ob ich noch Geld genug habe für Übermorgen, oder Streichhölzer u.s.w. u.s.w.
Übrigens fand ich noch Niemand, der mich auf einer Fußreise begleiten will. Allein reisen — ist für mich Myops nachgerade eine Thierquälerei. So bleibe ich denn wohl noch Etwas hier: obschon das Licht jetzt schon zu intensiv für mich geworden ist.
Wäre ich doch nicht so arm! Zum Mindesten möchte ich einen Sklaven haben, wie auch noch der ärmste griechische Philosoph ihn hatte. Ich bin zu blind für sehr viele Dinge. Dir und Deiner lieben Frau von ganzem Herzen zugethan
N.
489. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)
<Nizza, 22. Februar 1884>
Geehrtester Herr,
in Betreff des Drucks von „Also sprach Zarathustra“ bitte ich angelegentlich um jeden Grad von möglicher Beschleunigung: denn ich kann nur noch kurze Zeit hier in Nizza bleiben. Bis heute (Freitag) ist noch kein Bogen eingetroffen.
Hochachtungsvoll
Ihr
Professor Dr. Nietzsche.
Nice (France) pension de Genève petite rue St. Etienne.
490. An Erwin Rohde in Tübingen
<Nizza, 22. Februar 1884>
Mein alter lieber Freund
ich weiß nicht, wie es zugieng: aber als ich Deinen letzten Brief las und namentlich als ich das liebliche Kinder-Bild sah, da war mir’s, als ob Du mir die Hand drücktest und mich dabei schwermüthig ansähest: schwermüthig als ob Du sagen wolltest „Wie ist es nur möglich, daß wir so wenig noch gemein haben und wie in verschiedenen Welten leben! Und einstmals — —“
Und so, Freund, geht es mir mit allen Menschen, die mir lieb sind: alles ist vorbei, Vergangenheit, Schonung; man sieht sich noch, man redet, um nicht zu schweigen —, man schreibt sich Briefe noch, um nicht zu schweigen. Die Wahrheit aber spricht der Blick aus: und der sagt mir (ich höre es gut genug!) „Freund Nietzsche, du bist nun ganz allein!“
So weit habe ich’s nun wirklich gebracht. —
Inzwischen gehe ich meinen Gang weiter, eigentlich ist’s eine Fahrt, eine Meerfahrt — und ich habe nicht umsonst Jahrelang in der Stadt des Columbus gelebt. — —
Mein „Zarathustra“ ist fertig geworden, in seinen drei Akten: den ersten hast Du, die beiden andern hoffe ich in 4—6 Wochen Dir senden zu können. Es ist eine Art Abgrund der Zukunft, etwas Schauerliches, namentlich in seiner Glückseligkeit. Es ist Alles drin mein Eigen, ohne Vorbild, Vergleich, Vorgänger; wer einmal darin gelebt hat, der kommt mit einem andern Gesichte wieder zur Welt zurück.
Aber davon soll man nicht reden. Für Dich aber, als einen homo litteratus, will ich ein Bekenntniß nicht zurückhalten — ich bilde mir ein, mit diesem Z<arathustra> die deutsche Sprache zu ihrer Vollendung gebracht zu haben. Es war, nach Luther und Goethe, noch ein dritter Schritt zu thun —; sieh zu, alter Herzens-Kamerad, ob Kraft, Geschmeidigkeit und Wohllaut je schon in unsrer Sprache so beieinander gewesen sind. Lies Goethen nach einer Seite meines Buchs — und Du wirst fühlen, daß jenes „Undulatorische“, das Goethen als Zeichner anhaftete, auch dem Sprachbildner nicht fremd blieb. Ich habe die strengere, männlichere Linie vor ihm voraus, ohne doch, mit Luther, unter die Rüpel zu gerathen. Mein Stil ist ein Tanz; ein Spiel der Symmetrien aller Art und ein Überspringen und Verspotten dieser Symmetrien. Das geht bis in die Wahl der Vokale. —
Verzeihung! Ich werde mich hüten, dies Bekenntniß einem Andern zu machen, aber Du hast einmal, ich glaube als der Einzige, mir eine Freude an meiner Sprache ausgedrückt. —
Übrigens bin ich Dichter bis zu jeder Grenze dieses Begriffs geblieben, ob ich mich schon tüchtig mit dem Gegentheil aller Dichterei tyrannisirt habe. Ach Freund, was für ein tolles, verschwiegenes Leben lebe ich! So allein, allein! So ohne „Kinder“!
Bleibe mir gut, ich bin’s Dir wahrhaftig!
Dein
F. N.
491. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Nizza, 25. Februar 1884>
Lieber Freund, ich schrieb nicht, weil ich Etwas Bestimmtes Ihnen melden wollte und nicht dazu kam, mich zu „bestimmen“. Das Dumme ist nämlich, daß Venezia und Nizza klimatische Gegensätze sind — und daß mir Nizza unbeschreiblich wohlthut. Ich las eben wieder (Sigmund, Klimatische Kurorte p. 195) über Venedig „wie in Pau beobachtet man die herabstimmende, beruhigende, erschlaffende Einwirkung auf den Kreislauf, das gesammte Nervensystem usw.“ — das bedeutet aber für mich Kopfschmerz und Schwermuth. Nun habe ich jetzt so viel auf der Seele (ach, Freund, zuerst und vor Allem das Gefühl einer unbeschreiblich großen Verantwortlichkeit!!) daß ich keinen Fehler in klimatischer Beziehung machen darf. Wissen Sie, daß der Fehler des vorigen Winters (Santa Margherita mit seiner feuchten Luft) mir fast (sehr „fast!“); das Leben gekostet hat? — —
Auf der andern Seite dürste ich förmlich nach Ihrer Musik und nach guten Gesprächen mit Ihnen; oder auch nach gemeinsamem Schweigen. Denn — ich bin schweigsam geworden! Alle Dinge hängen zusammen, und ich fand nachgerade so Vieles, worüber ich nicht mehr sprechen mag: wo soll man da anfangen zu reden und aufhören zu schweigen! Musik ist bei weitem das Beste; ich möchte jetzt mehr als je Musiker sein. —
Ist es denn nicht möglich, uns einmal einen Winter an dieser Küste einzurichten? Oder könnten Sie den Sommer nach Sils-Maria kommen? Ihre letzten Briefe gaben keine weitere Auskunft über das Projekt mit Bologna für nächsten Herbst: es scheint mir nöthig, daß jetzt schon dafür Alles vorbereitet werden müßte. Gesetzt, Sie könnten mit einiger Sicherheit diese Aufführung für die bezeichnete Zeit bestimmen: so würde ich darauf hin vielleicht meine Sommer-Pläne verändern und etwa Vallombrosa bei Florenz zu meiner Sommer-Residenz auswählen.
Es fällt mir ein, daß ich neulich vergessen habe, Ihre Hülfe und Mit-Arbeit mir für den letzten Theil des Zarathustra abzubitten; und so mag vielleicht in diesen Tagen ein Correctur-Bogen ganz grob und ungezogen bei Ihnen zur Thür hinein gefallen sein. Seien Sie freundlich und helfen Sie mir dies Mal noch! — Ich ärgere mich so über Druckfehler und habe davon so viel stehen lassen (im 2ten Theile, auf den 3 ersten Bogen, deren Manuscript der große Taps Schmeitzner Ihnen vorenthalten hatte) Sandte ich Ihnen nicht schon Einiges von dieser Gattung? hier gleich noch zwei! Seite 8 Zeile 5 von Oben muß es heißen Zeuge- und Werdelust statt Zunge und Werdelust. — Seite 15 Zeile 12 von Oben muß es heißen Aber wen statt Aber wer. usw.
Nochmals: die regelmäßige Zusammenstellung Venedigs mit Pisa und Pau (auch Rom) in seiner Wirkung macht mich jetzt bedenklich; welche klimatischen Thorheiten habe ich nicht schon begangen! Und wie habe ich sie büßen müssen!
Seien Sie nicht böse, lieber Freund — mich selber macht es so ungeduldig, wieder zur Geduld verurtheilt zu sein!
Ihr getreuer Nietzsche
492. An Ferdinand Laban in Berlin
<Nizza, Anfang März 1884>
Mein werther Herr Doctor,
Gestern fiel mir ein, daß ich seit vorigem Frühjahr Nichts von Ihnen gehört habe, nicht einmal, daß die damals an Sie abgesandte Photographie wirklich in Ihre Hände und vor Ihre Augen gelangt ist. Dabei kamen mir besorgliche Gedanken, ich argwöhnte, Sie möchten krank sein — und in der That, aus Allem, was Sie geschrieben haben, empfindet (athmet man gleichsam) die Nähe einer sehr zarten, sehr leidensfähigen Organisation.
Sagen Sie ein Wort zu meiner Beruhigung. Ich träume davon, daß ich in nicht ferner Zeit irgendwo im Süden, am Meere, auf einer Insel, umgeben von den zutrauenswürdigsten Freunden und Arbeits-Genossen leben werde; — und in diesen stillen convent habe ich auch wohl Sie mit hineingedacht. —
Von „Also sprach Zarathustra“ — (meinem „Manifeste“); sind die beiden ersten Theile im vorigen Jahre erschienen. Am dritten und letzten Theile wird bereits gedruckt.
Meine Adresse ist zunächst noch: Nizza (France) pension de Genève, petite rue St. Etienne.
Mit den allerbesten Wünschen Ihr
Nietzsche.
493. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Nizza, 5. März 1884>
Lieber Freund, Das ist ja eine herrliche Neuigkeit, dieser Entschluß, den Sie mir melden — eine so naturgemäße Lösung Ihres Venetianerthums! Ich merke jetzt erst, wie es mich im Grunde beunruhigt hat, daß Sie nicht an der Spitze Ihrer Truppen marschiren wollten — ich meine mit dem Taktstock in der Hand! Vor Allem wünschte ich nun, daß der Contrakt mit dem Impresario sogleich gemacht werde, und kein Tag mehr dazwischen trete: das Fertigwerden der Partitur ist ja dazu durchaus nicht nöthig!
Mit diesem Projekte haben Sie einen Köder nach mir geworfen, dem ich alter Musik-Karpfen nicht ausweichen kann: ja, ich komme dazu nach Venedig, und schon zu den Proben, falls Sie mir dies erlauben werden. Niemals in meinem Leben habe ich Musik so nöthig gehabt wie in diesem Jahre —: schließlich kommt Alles zur rechten Zeit! Ich, für meinen Theil, bin genau im vierzigsten Jahre an den Punkt gelangt, an welchen für dies Jahr zu gelangen ich mir in den 20ger Jahren vorsetzte. Eine hübsche lange und sehr schauderhafte Seefahrt! —
Nun aber, da ich im Hafen bin, Musik! Musik! —
Meine Gesundheit war noch nie so gut wie vom 1. Januar ab. Natürlich war ich seitdem auch eine ganze Reihe von Tagen krank: und zwar, ausnahmslos, sobald der Himmel bedeckt war!
Ich halte es nun für ausgemacht, daß mein Kopfleiden ausschließlich mit reinem Himmel zu kuriren ist. —
Verzeihung, daß ich davon rede, es ist nur um mich zu rechtfertigen, wenn ich noch etwas länger hier bleibe: — länger als ein paar Wochen aber schwerlich! —
Und dann? — Ich weiß nicht, was. Ich bin sehr angelegentlich nach Vallombrosa eingeladen, von einem Herrn Paul Lansky, der Mitbesitzer des dortigen Hôtels ist und sich mir gewissermaßen zu Gebote gestellt hat. Er ist unabhängig, mehr Pessimist noch als Skeptiker, mir sehr zugethan (er schreibt an mich „Verehrter Meister“ — was mir kuriose Empfindungen und Erinnerungen giebt), und vom Herbst ab will er gehn, wohin ich will. Er hat mir Bilder und meteorologische Tabellen über V<allombrosa> geschickt (950 Meter hoch, Tannenwald) Wenn ich will soll ich im „Paradisino“ wohnen, allein, (dort wo der heilige Gualterus selber gelebt hat.) —
Die Wahrheit zu sagen — ich wäre zehn Mal lieber bei Ihnen. Und wenn ich komme, nicht wahr, da suchen Sie mir einmal ein Zimmer am Canale grande? — daß ich in die ganze lange bunte Stille vom Fenster aus hinausschauen kann? Außer Capri hat im Süden Nichts mir einen solchen Eindruck gemacht wie Ihr Venedig. Ich rechne es nicht zu Italien: irgend was vom Orient ist da hinuntergefallen. —
Schließlich! Schließlich — ich habe Musik nöthig und Ihre Musik! Ich muß eine Kur machen — —
Sie sehen, wie sich die Gedanken bei mir, mit Paulus zu reden, „verklagen und entschuldigen“. Ich ärgere mich, daß ich nicht bei Ihnen bin.
Treulich Ihr Nietzsche
494. An Franz Overbeck in Basel
<Nizza, 8. März 1884>
Anbei, mein lieber Freund Overbeck, ein Brief, der eine sehr gute Nachricht enthält. Wie lange habe ich auf diesen Entschluß unsres Musikers in Venedig gewartet! — und es war eine Sache von der Art, die Einem Stillschweigen außegt. Also — er will sich an die Spitze seiner „Truppen“ stellen, den Taktstock in der Hand! Ich schrieb ihm, er möge keinen Tag mehr verstreichen lassen und den Contract mit dem Impresario fertig und fest machen.
Der Anfang seines Briefes handelt von meinem Zarathustra, in einer Manier, die Dich eher beunruhigen als befriedigen wird. Himmel! wer weiß, was auf mir liegt und was für Stärke ich brauche, um es mit mir selber auszuhalten! Ich weiß nicht, wie ich gerade dazu komme — aber es ist möglich, daß mir zum ersten Male der Gedanke gekommen ist, der die Geschichte der Menschheit in zwei Hälften spaltet. Dieser Zarathustra ist nichts als eine Vorrede, Vorhalle — ich habe mir selber Muth machen müssen, da mir von überall her nur die Entmuthigung kam: Muth zum Tragen jenes Gedankens! Denn ich bin noch weit davon entfernt, ihn aussprechen und darstellen zu können. Ist er wahr oder vielmehr: wird er als wahr geglaubt — so ändert und dreht sich Alles, und alle bisherigen Werthe sind entwerthet. —
Von diesem Sachverhalt hat Köselitz eine Ahnung, einen Vor-Geruch. Ich schreibe dies zu seiner Entschuldigung. — —
Im Übrigen: es gab wieder für mich Erlebnisse zum Ersticken (ich deutete es im letzten Briefe an), aber ich bin drüber hinweg.
Meine herzlichsten Grüße!
Dein N.
N.B. Es bleibt dabei, daß ich einen Ceremonienmeister (eine Art Schutzmann) nunmehr nöthig habe. Im andern Falle muß ich die absolute Einsamkeit wählen.
495. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Nizza, 22. März 1884>
Mein lieber Freund,
über Mailand habe ich ebenso sprechen hören wie Sie — es giebt „den Ton“ an. Und dies war schon der Fall zu Stendhal’s Zeiten. Wissen Sie, daß dieser nicht genug zu schätzende Mensch auf seinen Grabstein setzen ließ
„Arrigo Beyle Milanese“ so sehr glücklich hatte er sich in Mailand gefühlt, „neugeboren“! — Aber Sie sollten schlechterdings darauf bestehn, selber auch zu „dirigiren“! Bei allen neuen Stilen giebt es nur Einen, der ihn vorzutragen versteht; daran glaube ich gerade auch in Ihrem Falle! Übrigens warf mir der Zufall einen Aufsatz über Cimarosa’s M<atrimonio> S<egreto> zu: von Hanslick. Der scheint ganz gut zu wissen, was allen diesen großen Musik-Gewaltigen von Schumann an fehlt — einmal der „volle Sonnenschein“ und sodann der veritable „Buffo“ — —
Ich sagte Ihnen wohl schon in Leipzig: in Ihrer Musik ist „voriges Jahrhundert“ und das heißt für Menschen des neunzehnten Jahrhunderts beinahe so viel wie „Unschuld und Seligkeit“. Vor Allem aber Narrheit — und immer mehr scheint es mir, daß das Leben ohne Narrheit gar nicht auszuhalten ist.
Himmel! Was liegt mir jetzt alles auf dem Nacken!! Irgend ein Selbst-Erhaltungstrieb schreit jetzt förmlich nach Ihnen und Ihrer Kunst, Sie Erleichterer meines Daseins, dem ich jeden Tag ein Mal im Herzen Dank sage! —
Zuletzt ist in mir, neben Ihrem Mailänder Plane und durchaus nicht im Gegensatz dazu, noch einmal der Gedanke aufgestiegen, daß Ihr Werk, falls es der Königin Margherita gewidmet wäre, eine Art Eifersucht der Italiäner weniger erregen würde, die, bei der Erinnerung an ihren Cimarosa, ihnen sehr leicht kommen könnte. In diesem Jahrhundert des Nationalitäten-Wahnsinns! —
M. von Meysenbug und die Gräfin Dönhoff wünschen durchaus, daß ich nach Rom komme und ein paar Vorträge halte. Aber ich bin ferne davon. Doch könnte ich, in Bezug auf Sie, und wenn ich Ihnen damit diene, mich schon zu einer römischen Reise bestimmen.
Im Übrigen kamen gestern von Vallombrosa — Veilchen an mich hier an: zum Zeichen, wie weit auch dort die Natur ist (950 M.) Haben Sie keine Möglichkeit, mich etwas über Lanzky zu informiren (Jude? Und wer ist der Musiker Widmann?)
Beiläufig neben allem diesem „Beilaufenden“: hat Venedig eine gute Bibliothek auch für deutsche Bücher, namentlich Historie? —
Mein „Zarathustra“ kommt langsam, langsam vorwärts — wer weiß, ob nicht wieder ihm 500 000 Gesangbücher im Wege sind!
Sie werden auf den letzten Bogen noch einige Ueberraschungen haben. Der Teufel weiß! — nun, nachdem ich soweit mein Stillschweigen gebrochen habe, bin ich zu „mehr“ verpflichtet, zu irgend einer „Philosophie der Zukunft“ — eingerechnet „dionysische Tänze“ und „Narren-Bücher“ und anderes Teufelszeug. — Man muß noch weiterleben!!! Was denken Sie? —
Eigentlich hat Schopenhauer den Pessimismus verdorben —; er war zu eng für diese ganze prachtvolle Nein-sagerei. —
Mit hundert guten Wünschen
Ihr N.
(Arbeiten Sie nicht zu viel!)
Wann könnten Sie nach Mailand kommen? (Die Partitur braucht nicht fertig zu sein!) — Wichmann, nicht Widmann! sonst in Rom.
496. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)
<Nizza, 27. März 1884>
Geehrter Herr,
ich bin mir nicht sicher, ob ich an 2 Stellen der letzten Correctur-Bogen genügend corrigirt habe und bitte an diesen Stellen einmal nachzusehn. p. 68 Zeile 10 von unten muß es heißen: meine reichste Gabe
p.103 Zeile 8 von oben muß es heißen: und „Umfang der Umfange“ und „Nabelschnur der Zeit“ und „azurne Glocke“.
Zuletzt ersuche ich die Vollendung des Drucks zu beeilen — ich warte hier schon viel zu lange auf das Fertigwerden dieses kleinen Buchs von 7 ½ Bogen! Sobald die 5 ersten Exemplare in meinen Händen sind, reise ich ab: ich bitte dringend darum, daß Dies bald geschieht!
Ergebenst Dr. Nietzsche
497. An Franz Overbeck in Basel
<Nizza, 28. März 1884>
Mein lieber alter Freund Overbeck, die Angelegenheit unseres Venediger maëstro steht nicht mehr auf den Füßen des letzten Briefes, den ich Dir sandte: der damalige Plan ist ihm von Sachverständigen ausgeredet worden: — jetzt will er sich mit der Verlagshandlung Lucca in Mailand einlassen, ganz in der Art, wie es die italiänischen Opern-componisten machen, um ihr Werk zur Aufführung zu bringen. Alles Genauere mag Dir der beiliegende Brief andeuten; in dem auch äusserst anziehende Worte über seine Nausicaa-Conception stehn. Er hat Tiefe und Kraft, unser Freund — und er darf sich, nach seiner Gesundheit, lange Ziele vorsetzen.
Deine Bemerkung, daß Du „ansehnlich magerer“ geworden bist, hat mir zum Bewußtsein gebracht, daß ganz Dasselbe auch in Bezug auf meine Leiblichkeit geschehn ist. Wir — arbeiten zu viel: da steckt wahrscheinlich der Grund, warum unsere Maschine ihren periodischen Knacks haben muß. Mir fiel dieser Tage ein, daß ich in drei Jahren „die Morgenröthe“, „die fröhliche Wissenschaft“ und den „Zarathustra“ gemacht habe: in Anbetracht, daß diese Litteratur unter den Begriff „Liebigscher Fleischextract“ gehört, darf ich mich über meine „Gesundheit“ nicht verdrießen — eher verwundern! Und ganz so steht es mit Deiner ungeheuren Arbeitsamkeit.
Nizza halte ich fest: es ist klimatisch mein „gelobtes Land“. Nur muß man hier tüchtig essen und nicht à la Cornaro leben.
Wo ich die nächste Zeit sein werde, weiß ich heute noch nicht: die Druck-Angelegenheit zwingt mich, noch Etwas hier auszuhalten, wo es schon viel zu hell für meine Augen geworden ist. (Beiläufig: meine Halb-Blindheit hat mir hier viel Theilnahme und sogar briefliche und mündliche Hülfe-Anerbieten verschafft. Es steht schlimm.)
Dir und Deiner lieben Frau die Versicherung meiner treuen Freundschaft.
F.N.
Ich habe keine Quittungs-Formulare mehr — oder weiß sie nicht zu finden. Verzeihung!
498. An Malwida von Meysenbug in Rom
<Nizza, gegen Ende März 1884>
Meine verehrte Freundin,
aus tiefer Arbeit heraus ein Wort! Und damit ist im Grunde auch Alles schon gesagt: meine Entschuldigung für Nicht-Schreiben, Nicht-Kommen und was ich sonst noch für „Schuld“ gegen Sie auf dem Herzen haben mag. —
Nizza ist, in der auffälligsten Weise, der erste Ort, der meinem Kopf (und sogar meinen Augen!) wohlthut; und ich ärgere mich, so spät zu dieser Einsicht gekommen zu sein. Was ich brauche, erstens, zweitens und drittens: das ist Heiterkeit des Himmels und Sonnenschein ohne jegliches Wölkchen, gar nicht zu reden von Scirocco, meinem Todfeinde. Nizza hat im Jahre durchschnittlich 210 solcher Tage, wie ich sie brauche: unter diesem Himmel will ich schon das Werk meines Lebens vorwärts bringen, das härteste und entsagungsreichste Werk, das sich ein Sterblicher außegen kann. — Ich habe Niemanden, der darum weiß: Niemanden, den ich stark genug wüßte, mir zu helfen. Es ist die Form meiner Menschlichkeit, über meine letzten Absichten hübsch schweigsam zu leben; und außerdem auch die Sache der Klugheit und Selbst-Erhaltung. Wer liefe nicht von mir davon! — wenn er dahinter käme, was für Pflichten aus meiner Denkweise wachsen. Auch Sie! Auch Sie, meine hochverehrte Freundin! — Diesen würde ich zerbrechen und Jenen verderben: lassen Sie mich nur in meiner Einsamkeit!!!
— Daß ich in den letzten Jahren jede Art von Niederträchtigkeit erlebt habe und daß beinahe Jedermann, meine Mutter und Schwester sehr eingerechnet, Hände voll Schmutz nach meinem Charakter geworfen haben, Dies rechne ich nicht zu hoch an: ob es gleich, weil es auf Ein Mal kam, mich beinahe um den Verstand gebracht hat. Es war zuletzt eine Eselei von mir, mich „unter die Menschen“ zu begeben: ich mußte es ja voraus wissen, was mir da begegnen werde.
Die Hauptsache aber ist die: ich habe Dinge auf meiner Seele, die hundert Mal schwerer zu tragen sind als la bêtise humaine. Es ist möglich, daß ich für alle kommenden Menschen ein Verhängniß, das Verhängniß bin — und es ist folglich sehr möglich, daß ich eines Tages stumm werde, aus Menschen-Liebe!!!
Ich blätterte dieser Tage einmal in Schopenhauer — ah, diese bêtise Allemande — was ich Das satt habe! Die verdirbt alle großen Dinge! Auch den „Pessimismus“! —
Haben Sie davon gehört, daß mein Zarathustra fertig ist? (in 3 Theilen — Sie kennen den ersten davon) Eine Vorhalle zu meiner Philosophie — für mich gebaut, mir Muth zu machen. Schweigen wir davon. — Ah, was ich jetzt Musik nöthig hätte! Was ich es bedaure, daß die Gräfin Dönhoff nicht hier ist! Ob schon je ein Mensch solchen Durst nach Musik gehabt hat? —
Bleiben wir tapfer und guter Dinge, ein Jeder auf seinen zwei Beinen! — Das Herzlichste und Beste für Sie und das geliebte edle Wesen, das zu meiner Freude jetzt bei Ihnen ist!
Ihr Freund Nietzsche.
499. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Nizza, 30. März 1884>
Mein lieber Freund, hiermit melde ich, vielleicht zu Ihrem Erschrecken, daß ich im Verlauf der nächsten Woche nach Venedig komme; ich habe hier nur noch eine Geldsendung abzuwarten. Eben ist der letzte Druckbogen abgethan — welche Erleichterung! Sind Sie zufrieden, auch mit dem Finale meiner „Symphonie“? (Es knüpft an den Anfang des 1ten Theils an: circulus also, und hoffentlich nicht circulus vitiosus). In Ihrem letzten Briefe entzückte mich Vieles: — wir Beide sind jetzt recht hübsch unterwegs nach — „Griechenland“! Nicht wahr? Auch hatte ich solches Vergnügen an Ihrem veritablen Artisten-Jargon, in dem Sie von Ihrer Musik sprachen: so reden alle französischen Artisten von Rang und ohne Rang. Aber um als Deutscher so zu sprechen, muß man beinahe schon ein — — sein! usw. Auf Wiedersehn! Von Herzen
N.
Adresse: Genova, poste restante.
500. An Resa von Schirnhofer in Genua
<Nizza, 31. März 1884>
Kommen Sie nur, mein verehrtes Fräulein! Und versuchen Sie es mit dem Hause, in dem ich jetzt wohne. — Sie werden es zutrauenswürdig und schweizerisch-brav finden. Es ist allmählich ziemlich leer geworden, die Winter-Vögel fliegen davon.
In Bezug auf mich selber haben Sie den günstigsten Zeitpunkt getroffen. Gestern wurde der letzte Correctur-Bogen meines letzten Theils „Zarathustra“ fortgeschickt — nun bin ich frei, freier vielleicht als ich je war, und zu jedem „otium cum dignitate“ äußerst bereit.
Also — ich werde Ihnen Nizza zeigen und auch, so gut es gehen will, mich selber, da Sie denn durchaus den alten Einsiedler „kennen lernen“ wollen. Indessen! Jeder Einsiedler hat seine Höhle, nämlich in sich, und manchmal hinter der Höhle noch eine Höhle und noch eine — ich wollte sagen, es ist schwer, einen Einsiedler kennen zu lernen.
Nehmen wir an, daß Sie am 3ten April mit dem Morgen-Schnellzug von Genua abfahren: so sind Sie gegen Mittag in Nizza und finden mich am Bahnhofe, bereit Ihnen zu dienen und erkennbar an einem großen Schnurrbarte und an einem Briefe, den ich in der Hand halte.
Dies mag als abgemacht gelten. Nur für den Fall, daß es Ihnen nicht passen will, würde ich mir noch eine Zeile vorher ausbitten.
Bitte, seien Sie freundlich und fragen Sie vor Ihrer Abreise noch einmal auf der Post in Genua nach poste-restante-Briefen für mich! Diese alte Columbus-Stadt ist eine Art Heimat für mich gewesen: es macht mir Freude, Sie dort zu wissen.
Ihr ergebenster Dr. Fr. Nietzsche
501. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
Nizza, Sonntag. <30. März 1884>
Ein eben eintreffender Brief, der mir einen längeren Besuch vom 3ten April an in Aussicht stellt, nöthigt mich, zu meinem herzlichsten Leidwesen, meine Karte zu widerrrufen. Meine Adresse bleibt somit die alte.
Treulich Ihr
Nietzsche.
502. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)
<Nizza,> Dienstag früh. <1. April 1884>
Geehrter Herr,
ein inzwischen eingetroffener Brief nöthigt mich, noch eine Anzahl Tage hier in Nizza zu bleiben. Ich bitte darum, die fünf ersten Exemplare des Zarathustra umgehend hierher abzusenden.
Hochachtungsvoll
Ihr
ergebenster
Prof. Dr. Nietzsche
503. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Nizza, 2. April 1884>
Mein lieber Freund, zuletzt vergaß ich Dich zu bitten, mir noch 500 frc. hierher zu senden. —
Das Neueste ist, daß große Befürchtungen in Betreff meines Verlegers entstehn. Du weißt, daß er bis zum 1. April meine bei ihm stehenden Gelder an meine Mutter zurückzahlen wollte. Jetzt aber! Aber darüber ein ander Mal. —
Die verfluchte Antisemiterei verdirbt mir alle meine Rechnungen, auf pekuniäre Unabhängigkeit, Schüler, neue Freunde, Einfluß, sie hat R<ichard> W<agner> und mich verfeindet, sie ist die Ursache eines radikalen Bruchs zwischen mir und meiner Schwester u.s.w. u.s.w. u.s.w. Ohe! Ohe!
Ich erfuhr hier, wie sehr man mir in Wien einen solchen Verleger zum Vorwurf macht. —
504. An Franz Overbeck in Basel
<Nizza,> Montag. <7. April 1884>
Schönsten Dank, mein lieber Freund! Auch Dein Wink in Betreff Mickiewicz’ kam zur rechten Zeit: ich schäme mich, so wenig von den Polen zu wissen (die, zu guter Letzt, doch meine „Altvordern“ sind!) — wie sehr wünschte ich einem Dichter zu begegnen, der zu Chopin gehörte und mir wie Chopin wohlthäte! — Über Lipiner hörte ich jüngst noch sehr Genaues: äußerlich ein „gemachter Mann“ — Sonst aber die typische Form des jetzigen „Obscurantismo“, hat sich taufen lassen, ist Antisemit, fromm (er hat kürzlich Gottfried Keller auf das Feindseligste angegriffen und ihm „Mangel an wahrem Christenthum und Glauben“ vorgeworfen!) Lipiner soll alle jungen Leute, auf die er Einßuß hat, ruiniren — er treibt sie zum „Mystischen“ und läßt sie das wissenschaftliche Denken verachten. Ein Mensch mit lauter sehr „praktischen“ Nebenabsichten, der die „Zeichen der Zeit“ sich zu Nutze macht. Meine Nachrichten stammen von einem Wiener Naturforscher, der ihn von Kindheit an kennt. —
Über Schmeitzner’s Verhalten weiß ich nichts Neues. Die Sache ist mir äußerst peinlich, denn ich glaubte eine gute Gelegenheit zu haben, meiner Mutter einen wirklichen Dienst zu erweisen und damit Etwas zwischen uns zu verbessern: da kommt mir wieder die Antisemiterei zwischen die Beine!!
Die Zeit ist nun ganz vor der Thür, daß ich Nizza verlasse: ich will die ersten Exemplare meines Zarath<ustra> noch abwarten. Hoffentlich werden sie kommen: aber es ist auch wieder so eine monatelange Claustrur möglich, wie voriges Jahr. Ich erwarte, unter uns gesagt, den Bankerott Schmeitzner’s. Wohin werden da unsre Bücher gerathen!
Für nächsten Winter bin ich bereits ziemlich sicher; womöglich das gleiche Haus und das gleiche Zimmer. Vielleicht gelingt es mir, hier eine Gesellschaft mir zu begründen, unter der ich nicht ganz der „Verborgene“ bin. Das Clima des littoral provençal gehört auf das Wunderbarste zu meiner Natur; ich hätte den Schlußreim zu meinem Zarathustra nur an dieser Küste dichten können, in der Heimat der „gaya scienza.“ Lanzky (ein Dichter, beiläufig) ist bereits entschlossen zu kommen; ich wünschte Köselitz bereden zu können. Vielleicht sogar Dr. Rée und Frl. Salomé, an denen ich gern Einiges gut machen möchte, was meine Schwester schlimm gemacht hat. Ich hörte jetzt wieder über Beide; und Erfreuliches (sie sind in Meran) Von Frl. S<alomé> soll diesen Frühling Etwas erscheinen „über religiöse Affecte“ — dies Thema habe ich in ihr entdeckt, es freut mich außerordentlich, daß meine Tautenburger Bemühungen doch noch Früchte tragen.
Mein Umgang in diesem Winter war durch die Gäste des Hauses, in dem ich wohne, an die Hand gegeben. Ein alter preußischer General mit seiner Tochter, in allen praktischen Dingen mein Rathgeber; eine alte amerikanische Pfarrerin, die mir täglich c. 2 Stunden aus dem Englischen übersetzt hat; neuerdings haben Albert Köchlin und Frau <Lörrach> sich äußerst liebenswürdig gegen mich benommen. Jetzt eben habe ich Besuch, für 10 Tage etwa, von einer Züricher Studentin, was Du spaaßhaft finden wirst — es thut mir wohl, es beruhigt mich Etwas, nach den inneren „großen Wellen“ der letzten Monate. Sie ist befreundet mit — Irma von Regner-Bleileben; und zwischen ihr und Frl. Salomé scheint eine gegenseitige Verehrung stattzufinden; sie ist ebenfalls sehr intim mit der Gräfin Dönhoff und ihrer Mutter, natürlich auch mit Malvida: so daß es genug gemeinsame personalia giebt. Gestern besuchten wir zusammen ein spanisches Stiergefecht. —
Himmel! Ich bekomme jetzt nachgerade eine hübsche Gattung von Briefen — diese Art von Verehrungs-Stil hat R<ichard> Wagner in die deutsche Jugend hineingetragen: und es beginnt schon, was ich lange prophezeit habe, daß ich in manchen Stücken der Erbe R<ichard> W<agner>’s sein werde. —
Die letzten Monate habe ich „Welt-Historie“ getrieben, mit Entzücken, obschon mit manchem schauerlichen Resultate. Habe ich Dir einmal Jacob Burckhardt’s Brief gezeigt, der mich mit der Nase auf die „Welt-Historie“ gestoßen hat? Falls ich den Sommer nach Sils-Maria komme, so will ich eine Revision meiner Metaphysica und erkenntnißtheoretischen Ansichten vornehmen. Ich muß jetzt Schritt für Schritt durch eine ganze Reihe von Disciplinen hindurch, denn ich habe mich nunmehr entschlossen, die nächsten fünf Jahre zur Ausarbeitung meiner „Philosophie“ zu verwenden, für welche ich mir, durch meinen Zarathustra, eine Vorhalle gebaut habe.
Beim Durchlesen von „Morgenröthe“ und „fröhlicher Wissenschaft“ fand ich übrigens, daß darin fast keine Zeile steht, die nicht als Einleitung, Vorbereitung und Commentar zu genanntem Zarathustra dienen kann. Es ist eine Thatsache, daß ich den Commentar vor dem Text gemacht habe — — Wie geht es Emerson und Deiner verehrten Frau?
Dein Freund N.
Du schreibst nichts von Deiner Gesundheit?
505. An Franz Overbeck in Basel
<Nizza, 10. April 1884>
Hurrah, alter lieber Freund Overbeck, hier ist das erste Exemplar des letzten Zarathustra — das gehört billigerweise Dir! Es steht ein Gedanke drin, ein ganz ungeheurer Gedanke, um dessentwillen ich noch recht lange leben muß. Aber was liegt an mir! Die Hauptsache ist — nun, Du wirst es Dir selber sagen!
Dein Nietzsche.
506. An Heinrich Köselitz in Venedig (Telegramm)
Genova, 21. 4. 18847. 40 <Uhr>
Vengo sta sera alle sette.
Nietzsche.
506a. An Paul Lanzky in Florenz (Entwurf)
<Venedig, Ende April 1884>
Aber, mein werther Herr Lanzky, warum schreiben Sie mir das? Wollen Sie mich reizen, Mehr zu sagen, als ich Lust habe? — — Oder soll ich zu der absurden Rolle hinabsteigen, meinen Zarathustra (oder seine Thiere) erklären zu müssen? Dafür, denke ich, werden irgendwann einmal Lehrstühle und Professoren dasein. Einstweilen ist es noch lange nicht Zeit für Zarathustra — und ich will mich verwundern, wenn in dem Rest meines Lebens mir fünf, sechs Menschen begegnen, welche Augen für meine Ziele haben. „Einstweilen“ — das heißt so lange noch alle diese Allemanderies und niaiseries von „Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben“ — — —
Bemerken Sie doch: ich habe mich mit diesem übermenschlichen Bilde ermuthigen wollen.
Alle Menschen aber, die irgend einen heroischen Impuls in sich haben zu ihrem eigenen Ziele hin, werden sich eine große Kraft aus meinem Zarathustra herausnehmen.
Was habe ich mit Denen zu thun, die kein Ziel haben! Mein Leibrezept, beiläufig bemerkt, ist, in Hinsicht auf Solche, — Selbstmord. Aber er mißräth gewöhnlich, aus Mangel an Zucht. Da empfehle ich denn, zur Vorbereitung, eine verbesserte Diät (energische Fleischkost und Nichts von den verdammten italienischen Paste secche) und täglich 5 — 8 Stunden strammen Marschirens im Freien. Auch Soldat-werden thut gut.
Wollen Sie mich davon überzeugen, was ich zu gut weiß, — daß das schwerste und tiefste aller Bücher aller Zeiten auch am schwersten und tiefsten mißverstanden werden muß?
— — — ist das nicht genug?
So, mein Herr! Nun will ich mir einmal Luft machen.
Sie erleben die Entstehung des erhabensten und zukunftsreichsten aller Bücher, die je geschrieben wurden, — Sie haben die Ehre, in dem Zeitalter dieses Buches zu leben: und wie? es ist Nichts in Ihnen, welches das Dasein dafür selig preist, daß solche Dinge entstehen können? Und Sie haben Nichts mir zu schenken, zu geloben? Nichts sich selber oder irgend einem heroischen Genius einsamer Entschließungen zu schwören und zu geloben? Nicht einmal die Allemanderies und niaiseries des trübseligen Gesindels von heute haben Sie aus dem Kopfe verloren, welches für seine Willensschwäche beschönigende Phrasen sucht!
Wie? Sie „sehen meine Ziele nicht“? Gut; was ist da zu verwundern? Ist es aber meine Schuld, wenn Sie nicht meine Augen im Kopfe haben? Sind es denn Ziele für Jedermann? Was haben Sie — mit meinen Zielen zu thun? Was mit dem „Leben“? Ich wollte von den Zwecken Ihres Lebens hören! Hätten Sie welche, so könnten Sie damit vielleicht ein Werkzeug des meinigen sein. Fort mit Ihnen, mein Herr Unbescheiden! Gardez votre distance, monsieur!
507. An Franz Overbeck in Basel
Venezia, San Canciano calle nuova 5256. <30. April 1884>
Mein lieber Freund Overbeck,
im Grunde ist es doch sehr schön, daß wir und uns durch die letzten Jahre nicht fremd geworden sind, und sogar, wie es scheint, durch den Zarathustra nicht. Daß ich gegen mein vierzigstes Lebensjahr sehr allein sein würde — darüber habe ich mir niemals Illusionen gemacht; und ich weiß auch Dies, daß Vieles Schlimme gegen mich noch unterwegs ist — ich werde in Kürze darüber belehrt werden, wie theuer man es zu zahlen hat, daß man — die dumme und falsche Sprache der ambitiosi zu gebrauchen — „nach den höchsten Kronen greift“.
Inzwischen will ich meine mir eroberte Situation gut nutzen und ausnutzen: ich bin jetzt, mit großer Wahrscheinlichkeit, der unabhängigste Mann in Europa. Meine Ziele und Aufgaben sind umfänglicher als die irgend eines Andern — und das, was ich große Politik nenne, giebt zum Mindesten einen guten Standort und Vogelschau-Blick ab für die gegenwärtigen Dinge.
Was alle Praxis des Lebens betrifft, so bitte ich Dich, treuer und bewährter Freund, mir fürderhin nur Eine Sache zu wahren, eben die größtmögliche Unabhängigkeit und Freiheit von persönlichen Rücksichten. Ich denke, Du weißt, was gerade in Bezug auf mich die Mahnung Zarathustras „Werde hart!“ sagen will. Mein Sinn, jedem Einzelnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und im Grunde gerade das mir Feindseligste mit der größten Milde zu behandeln, ist übermäßig entwickelt und bringt Gefahr über Gefahr, nicht nur für mich, sondern für meine Aufgabe: hier ist Abhärtung nöthig und, der Erziehung halber, eine gelegentliche Grausamkeit.
Verzeihung! Es klingt nicht immer gut, wenn man von sich selber redet, es riecht auch nicht immer gut.
Mit meiner Gesundheit bin ich, wie es scheint, über den Berg. Die Winter werde ich in Nizza leben, für die Sommer brauche ich eine Stadt mit großer Bibliothek, wo ich incognito leben kann (ich habe an Stuttgart gedacht, was meinst Du?)
Dieses Jahr denke ich immer noch, wieder nach Sils Maria zu gehen, wo mein Bücher-Korb steht — vorausgesetzt, daß ich mich gegen Zudringlichkeiten meiner Schwester besser zu schützen verstehe als voriges Jahr. Es ist wirklich eine recht bösartige Person geworden; ein Brief voll der giftigsten Verdächtigungen meines Charakters, den ich von ihr im Januar erhielt, ein artiges Seitenstück des Briefes an Frau Rée, hat mir nun hinreichend Klarheit gegeben — sie muß fort nach Paraguay. Ich selber will den Verkehr mit allen Menschen abbrechen, welche zu meiner Schwester halten: ich vertrage jetzt Alles „Halbund Halb“ in Bezug auf mich nicht mehr.
Hier bin ich im Hause Köselitzens, in der Stille Venedigs und höre Musik, die vielfach selber eine Art idealisirtes Venedig ist. Er macht aber Fortschritte zu einer männlicheren Kunst: die neue Ouverture des matrimonio ist hell, streng und feurig.
Dein Freund N.
508. An Malwida von Meysenbug in Rom (Entwurf)
<Venedig, Mai 1884>
Was Frl. L<ou> betrifft, so wünsche ich sehr, ihr einmal auch noch nützlich zu sein, nachdem ich ihr bisher thatsächlich (Dank dem Eifer meiner Angehörigen) sehr viel Schaden gethan habe — sehr wider den Willen meines Herzens, wie sich von selber versteht.
509. An Malwida von Meysenbug in Rom
Venezia, San Canciano, calle nuova 5256<Anfang Mai 1884>
Inzwischen, meine hochverehrte Freundin, sind hoffentlich die beiden letzten Theile meines Zarathustra in Ihre Hände gelangt: zum Mindesten habe ich lange schon meinem Verleger den Auftrag dazu gegeben. Das ist kein Geschenk, für das man so ohne Weiteres zu danken hätte — ich verlange ein Umlernen in Betreff der liebsten und verehrtesten Empfindungen, und viel Mehr als ein Umlernen noch! Wer weiß wie viele Generationen erst vorüber gehen müssen, um einige Menschen hervorzubringen, die es in seiner ganzen Tiefe nachfühlen, was ich gethan habe! Und dann selbst noch macht mir der Gedanke Schrecken, was für Unberechtigte und gänzlich Ungeeignete sich einmal auf meine Autorität berufen werden. Aber das ist die Qual jedes großen Lehrers der Menschheit: er weiß, daß er, unter Umständen und Unfällen, der Menschheit zum Verhängniß werden kann, so gut als zum Segen.
Nun, ich selber will Alles thun, um zum Mindesten keinem allzugroben Mißverständniß Vorschub zu leisten; und jetzt, nachdem ich mir diese Vorhalle meiner Philosophie gebaut habe, muß ich die Hand wieder anlegen und nicht müde werden, bis auch der Haupt-Bau fertig vor mir steht. Menschen, die nur die Sprache der Ambition verstehen, mögen mir nachsagen, daß ich nach der höchsten Krone griffe, welche die Menschheit zu vergeben hat. Wohlan! —
Aber diese Einsamkeit, und von Kindesbeinen an! Diese Verschlossenheit im vertrautesten Verkehre noch! Es ist mir gar nicht mehr beizukommen, auch mit Wohlthun nicht mehr.
Kürzlich, als ich in Nizza den Besuch von Frl. Schirnhofer hatte, dachte ich oft Ihrer mit großer Dankbarkeit, denn ich errieth, daß Sie mir damit wohlthun wollten: und wirklich, es war ein Besuch zur rechten Zeit, der heiter und nützlich ablief (zumal keine störende eingebildete Gans zugegen war — Pardon! ich meinte meine Schwester). In der Hauptsache aber glaube ich nicht, daß es einen Menschen geben könne, der mich über dies eingewurzelte Gefühl des Alleinseins hinwegbrächte. Ich fand noch Niemanden, vor dem ich reden könnte, wie ich mit mir selber rede. — Verzeihung für diese Art von Selbst-Bekenntniß, meine verehrte Freundin!
Zweierlei möchte ich gerne genau noch wissen; erstens, wo Sie diesen Sommer sind. Zweitens brauche ich die Adresse von Liszt, seine römische Adresse (nicht für mich).
Ich ärgere mich über jenen inhumanen Brief, den ich im vorigen Sommer Ihnen schickte; ich war durch diese unsäglich widrige Aufhetzerei geradezu krank gemacht worden. Inzwischen ist die Lage dahin verändert, daß ich mit meiner Schwester radical gebrochen habe: denken Sie um des Himmels willen nicht daran, da vermitteln und versöhnen zu wollen — zwischen einer rachsüchtigen antisemitischen Gans und mir giebt es keine Versöhnung. Im Übrigen wende ich jeden Grad von Schonung an, weil ich weiß, was sich zur Entschuldigung meiner Schwester sagen läßt und was im Hintergrunde ihres für mich so schmählichen und unwürdigen Verhaltens steht: — die Liebe. Es ist durchaus nöthig, daß sie möglichst bald nach Paraguay absegelt —. Später, sehr viel später wird sie von selber zur Einsicht kommen, wie sehr sie mit diesen unausgesetzten schmutzigen Verdächtigungen meines Charakters (die Geschichte dauert nun 2 Jahre!) mir in der entscheidendsten Epoche meines Lebens geschadet hat. Zuletzt bleibt mir die sehr unbequeme Aufgabe übrig, einigermaßen an Dr. Rée und Frl. Salomé gut zu machen, was meine Schwester schlimm gemacht hat (von Frl. S. soll nächstens ihr erstes Buch erscheinen: „über den religiösen Affect“ — das selbe Thema, für welches ich ihre außerordentliche Begabung und Erfahrung in Tautenburg entdeckte — es macht mich glücklich, nicht ganz umsonst mich damals so bemüht zu haben.) Meine Schwester reducirt ein so reiches und originales Geschöpf auf „Lüge und Sinnlichkeit“ — sie sieht in Dr. Rée und ihr nichts weiter als 2 „Lumpen“; — dagegen empört sich nun freilich mein Gerechtigkeits-Gefühl, so gute Gründe ich auch habe, mich von Beiden für tief beleidigt zu halten. Es war mir sehr lehrreich, daß meine Schwester zuletzt gegen mich selber genau so blind-verdächtigend gehandelt hat, wie gegen Frl. S.; ich brachte mir da erst zum Bewußtsein, daß alles Schlimme, was ich von Frl. S. geglaubt habe, auf jenes Gezänk zurückgeht, das vor meiner näheren Bekanntschaft mit Frl. S. liegt: wie viel mag da meine Schwester falsch verstanden und hinzugehört haben! Es fehlt ihr alle und jede Menschenkenntniß; der Himmel bewahre sie davor, daß nicht einmal einer der Feinde des Dr. Förster über diesen vor ihr beredt wird!
Nochmals um Verzeihung bittend, daß ich diese alte Geschichte wieder zur Sprache brachte! Es ist nur, um Ihnen zu sagen, daß Sie sich ja nicht in Ihrem eigenen Gefühle durch jenen abscheulichen Brief beeinflussen lassen mögen, den ich Ihnen vorigen Sommer schrieb. Außerordentliche Menschen, wie Frl. Salomé, verdienen, zumal in solcher Jugend, jeden Grad von Nachsicht und Mitleiden. Und wenn ich auch, aus verschiedenen Gründen, noch nicht im Stande bin, eine neue Annäherung von ihr an mich zu wünschen, so will ich doch, für den Fall, daß ihre Lage sich schlimm und verzweifelt gestaltet, von allen eigenen persönlichen Rücksichten absehen. Ich verstehe jetzt nur zu gut, durch eine vielfache Erfahrung, wie leicht mein eigenes Leben und Schicksal genau in den gleichen Verruf kommen könnte, wie das ihrige — verdient und unverdient, wie es immer bei solchen Naturen der Fall zu sein pflegt. —
Von Herzen Ihnen ergeben
und dankbar
Nietzsche.
510. An Resa von Schimhofer in Zürich
<Venedig, Anfang Mai 1884>
Mein werthes Fräulein Resa,
— dieser Name ist mir gar nicht leicht, selbst meine Feder stolpert dabei.
Es ärgert mich, daß Sie von Nizza eine Erkältung (statt einer Erwärmung) davon getragen haben. Das müssen wir das nächste Mal besser machen. Ist es denn nicht möglich, den nächsten Winter für Nizza und die Ausarbeitung der Dissertation zu reservieren?
— Erwägen Sie das! —
Was Themata zu schönen Dissertationen betrifft, so ist meine „Morgenröthe“ eine gute Fundgrube. Bitte, lesen Sie die und ebenso „die fröhliche Wissenschaft“ — beide Bücher sind überdies Einleitungen und Commentare zu meinem Zarathustra.
Eben schrieb ich an Malwida; im letzten Theile, „Rückkehr zur Humanität“ predigend in Hinsicht auf — — Fräulein Salomé. — Wenn Sie Etwas über ihr litterarisches Unternehmen hören, so erzählen Sie es mir. Man muß gegen alle Art Genie’s hübsch human sein, sogar — wenn es Weiberchen sind. Pardon! Aber ich weiß ja, wie Sie selber hierin denken.
Treulich der Ihre
Nietzsche
Venezia, San Canciano calle nuova 5256.
511. An Josef Paneth in Wien
<Venedig, Anfang Mai 1884>
Werther Herr Doctor,
Meinen Glückwunsch voran! Aber vielleicht geht es Ihnen gerade jetzt so gut, daß Nichts mehr „zu wünschen übrig bleibt“ —: dann um so besser! Und um so mehr wird es meinen Wünschen für Sie gemäß sein!
Mein Verleger hat seit lange den Auftrag, Ihnen den letzten Theil meines Zarathustra zuzustellen. Betrachten Sie mich nunmehr wie Jemanden, der seine Fahne entrollt hat und keinen Zweifel über sich mehr übrig läßt. —
Bemerken Sie aber wohl: mein Werk hat Zeit —, und mit dem, was diese Gegenwart als ihre Aufgabe zu lösen hat, will ich durchaus nicht verwechselt sein. Fünfzig Jahre später werden vielleicht Einigen (oder Einem: — es bedürfte eines Genie’s dazu!) die Augen dafür aufgehn, was durch mich gethan ist. Augenblicklich aber ist es nicht nur schwer, sondern durchaus unmöglich (nach den Gesetzen der „Perspektive“), von mir öffentlich zu reden, ohne nicht grenzenlos hinter der Wahrheit zurückzubleiben. — —
Also! — mein werther Herr Dr. Paneth, ich will nicht, daß jetzt schon über mich „geschrieben wird“.
Behalten Sie mich und unsre Gespräche an der provençalischen riviera (der Heimat der „gaya scienza“ —) in gutem Angedenken!
Ihr
Nietzsche.
Venezia, San Canciano calle nuova 5256
512. An Malwida von Meysenbug in Rom
<Venedig, Mitte Mai 1884>
Meine verehrte Freundin,
Dank, von ganzem Herzen, für diesen Brief, aus dem mir eine lichte und gütige Seele entgegenstrahlte —: ich lachte, als ich ihn gelesen hatte und fühlte mich freier.
Ein einziges Wort als Commentar. Sie nennen mich „ungerecht“ in Bezug auf meine Schwester, wie Sie mich, vor zwei Jahren, „ungerecht“ in Bezug auf Richard Wagner genannt haben. In beiden Fällen kennen Sie nur — ich muß sagen, glücklicherweise — nur die Hälfte des Thatbestandes — und ich bin ferne ferne davon, den Rest, die andere Hälfte vor Ihren Augen auszubreiten. Glauben Sie mir aber dies: wenn es überhaupt auf Erden Menschen mit dem tiefsten und unbezwinglichsten Bedürfniß nach Gerechtigkeit giebt, so gehöre ich zu ihnen. Sonderlich, wenn man mich beleidigt hat. Mein Leben enthält sogar mehrere Absurditäten in Folge einer Neigung, mich als erhaben über die Möglichkeit beleidigt zu werden zu bewahren. Vielleicht hat mich eben Ihr Brief vor einer solchen Absurdität bewahrt — —
Unter allen Umständen empfinde ich eine Beleidigung, die Ihnen angethan wird, hundert Mal stärker als eine, die mich allein betrifft.
Nun noch eine komische Differenz zwischen uns. Nämlich: was mir an Rée und später wiederum an Frl. S<alomé> interessant, ja höchst anziehend war, Das ist ganz allein ihre „greuliche Denkweise“. Es sind im Grunde bisher die zwei einzigen Personnages gewesen, welche ich frei fand von dem, was ich, in Bezug auf das gute alte Europa, die „moralische Tartüfferie“ zu nennen pflege. Sie glauben nicht, wie viel ich im Verkehr mit solchen Naturen zu lernen verstehe — und wie ich sie entbehre. Ich nannte Frl. S<alomé> einstmals in Tautenburg mein „anatomisches Praeparat“ — und mein Grimm gegen meine Schwester wird etwas von dem Grimm des Prof. Schiff an sich haben, dem man seinen Lieblings-Hund gestohlen hat. Sehen Sie doch, meine verehrte Freundin, auch ich bin ein arger, arger vivisector — —
Von Herzen
Ihr
Nietzsche.
513. An Franz Overbeck in Basel
Venezia, 21 Mai 1884
Lieber Freund
mein letzter Brief hat Dich mehr als ich wünschte beunruhigt: ich schreibe überhaupt sehr thörichte Briefe. — Die Angelegenheit mit meinen Angehörigen muß ich mir vom Halse schaffen — ich habe nunmehr 2 Jahre lang mich in den gutmüthigsten Versuchen erschöpft, zurechtzulegen und zu beruhigen, aber umsonst. So viel ich die Geschichte kenne, ist übrigens diese Art von Mißverhältniß bei Menschen meines Ranges etwas Regelmäßiges. Schlimm genug, daß ich jetzt begreife — endlich! muß ich sagen — wie fast alle meine sonst noch bestehenden Verhältnisse an einem irreparablen Grundfehler leiden und absurd geworden sind. — Zuletzt aber liegt meine eigentliche Noth wo anders und nicht im Bewußtsein dieser Absurdität: eine Noth so groß und tief, daß ich immer frage, ob irgend ein Mensch schon so gelitten hat. Ja wer fühlt mir nach, was es heißt, mit jeder Faser seines Wesens fühlen, daß „die Gewichte aller Dinge neu bestimmt werden müssen!“ Daß daraus mir im Handumdrehn auch jede leibliche Gefahr, Gefängniß und dergleichen, erwachsen kann, ist das Geringste daran; oder vielmehr, es würde mir wohlthun, wenn es erst so weit wäre. Ich will so Viel von mir, daß ich undankbar gegen das Beste bin, was ich schon gethan habe; und wenn ich es nicht so weit treibe, daß ganze Jahrtausende auf meinen Namen ihre höchsten Gelübde thun, so habe ich in meinen Augen Nichts erreicht. Einstweilen — habe ich auch noch nicht einen einzigen Jünger.
Vorwärts! Reden wir von anderen Dingen.
Es war recht an der Zeit, daß ich nach Venedig gieng; denn unser maëstro ist schwer von der Stelle zu bringen und meint im Grunde, mit einigem Partituren-Schreiben sei Alles gethan. Er denkt über Aufführung und Aufführbarkeit kaum nach; und nachträglich sehe ich ein, was für eine wichtige Sache es war, daß ich ihn im vorletzten Herbste nach Leipzig rief — ob es schon zunächst den Anschein hatte, daß es umsonst gewesen sei. Aber es war nicht umsonst: im andern Falle hätte er noch 2 Jahre lang unmögliche Musik gemacht. Daß sein „Plan“ mit der Mailänder Firma Lucca ebenso unpraktisch war, wie sein Venediger, habe ich ihm sofort bewiesen: durch ein briefliches unbedingtes Nein! dieser Firma. Ebenso daß seine Musik überhaupt vor Italiänern einstweilen unmöglich ist, und überdieß deren Pietät gegen ihren Cimarosa verletzen würde. Kurz, es gab eine Revolution in allen möglichen Dingen, eingerechnet Text, Finale’s und viele Form-Fragen, die sich auf die Wirkung beziehn. Um das Ergebniß zusammenzufassen, so sieh Dir einmal diesen Theater-Zettel an
Der Löwe von Venedig.
Komische Oper in fünf Akten von Peter Gast.
Muthmaaßliche erste Aufführung in Dresden gegen Weihnachten. — Habe ich das nicht gut gemacht?
Übrigens steht Alles in der Hauptsache ausgezeichnet, ja zum Erstaunen gut: ich meine in Betreff der Entwicklung seiner Kräfte; und wenn er sich Schritt vor Schritt von den Überresten des kleinen Geschmacks, der sächsisch-chinesischen Hypertrophie von Gutmüthigkeit und dergleichen reinigt, so erleben wir noch das Entstehen einer neuen klassischen Musik, welche sich erlauben darf, die Geister griechischer Heroen heraufzubeschwören. Einstweilen hat er mit dem genannten Werke Venedig ein Denkmal gesetzt; und es ist möglich, daß 20 bezaubernde Melodien daraus einmal mit dem Wort und Begriff „Venedig“ zusammenwachsen werden. — Ich habe hier eine schöne Gelegenheit, meine aesthetische Moral zu predigen, und wahrhaftig nicht vor tauben Ohren! Man muß die große Sache R<ichard> W<agner>’s von seinen persönlichen, zu Principien umgewandelten Mängeln loslösen: in diesem Sinne will ich gerne Hand an sein Werk legen und nachträglich noch beweisen, daß wir nicht nur durch „Zufälle“ zusammengerathen sind. Dein Wort vom „mystischen Separatisten“ nehme ich mit Freuden auf: ich sagte kürzlich noch Köselitz, es gäbe keine „deutsche Cultur“ und habe nie eine gegeben — außer bei mystischen Einsiedlern, Beethoven und Goethe sehr eingerechnet! —
Dein und Euer Freund
Nietzsche
514. An Heinrich von Stein in Berlin
Venezia, San Canciano, calle nuova 5256, am 22. Mai 1884.
Mein lieber Herr Doctor,
Diese Gedichte Giordano Bruno’s sind ein Geschenk, für welches ich Ihnen von ganzem Herzen dankbar bin. Ich habe mir erlaubt, sie mir zuzueignen, wie als ob ich sie gemacht hätte und für mich — und sie als stärkende Tropfen „eingenommen“. Ja wenn Sie wüßten, wie selten noch etwas Stärkendes von Außen her zu mir kommt! Ich sprach vor zwei Jahren mit einer Art Ingrimm davon, daß ein Ereigniß wie der Parsifal ferne von mir, gerade von mir, vorübergehen mußte; und auch jetzt wieder, wo ich noch einen zweiten Grund weiß, um nach Bayreuth zu gehen — nämlich Sie, mein lieber Herr Doctor, der Sie zu meinen großen „Hoffnungen“ gehören — auch jetzt wieder habe ich Zweifel daran, ob ich hinkommen darf. Nämlich: das Gesetz, das über mir ist, meine Aufgabe, läßt mir keine Zeit dafür. Mein Sohn Zarathustra mag Ihnen verrathen haben, was sich in mir bewegt; und wenn ich Alles von mir erlange, was ich will, so werde ich mit dem Bewußtsein sterben, daß künftige Jahrtausende auf meinen Namen ihre höchsten Gelübde thun.
Verzeihung! — Es giebt so ernste Dinge, daß von ihnen zu reden man erst um Verzeihung bitten sollte. —
Zuletzt möchte ich doch erfahren, wann die Aufführungen sind, wann Sie selber nach Bayreuth kommen und ob Sie vielleicht geneigt wären, mich im Oberengadin (Sils-Maria) zu besuchen: — dort nämlich habe ich seit Jahren meine „Sommer-Residenz“ (eine Stube in einem Bauernhause)
Von Herzen Ihr
Nietzsche
515. An Franz Overbeck in Basel
<Venedig, erste Juniwoche 1884>
Lieber Freund,
habe die Gefälligkeit, den beiliegenden Brief an meine Mutter in Naumburg zu adressiren, auch zu frankiren. Es ist mir seit ungefähr 2 Monaten nicht mehr gelungen, einen Brief in ihre Hände gelangen zu lassen; die Post weiß keine Aufklärung über dies sich immer wiederholende Verschwinden von richtig adressirten Briefen und Karten zu geben. Schließlich bin ich auf einen Verdacht gekommen, den ich nicht weiter aussprechen will. —
Köselitz wird etwa in 2 Wochen nach Deutschland reisen, um dem Dresdener Kapellmeister seine Oper vorzuspielen, mit dem er in einer Verbindung von früher her ist. Seien wir glücklich, wenn es soweit ist! Die Sache wird dann schon von selber weiter laufen.
Wenn Du Jakob Burckhardt siehst, so grüße und frage ihn, ob Zarathustra in seinen Händen ist.
Es giebt einen neuen Anhänger, Halb-Franzose, Halb-Italiäner, Halb-Deutscher, in Rom: heißt Aragon.
Herzlich grüßend
Dein Nietzsche.
516. An Malwida von Meysenbug in Rom
Venezia, <erste Juniwoche 1884>San Canciano calle nuova 5256
Meine hochverehrte Freundin,
Verzeihung, wenn ich in Bezug auf Herrn A<ragon> noch ziemlich viel Mißtrauen habe. Ohne Ihre Fürsprache und rein nach dem mitgeschickten Briefe zu urtheilen, würde ich sogar geneigt sein, auf ein ungewöhnliches Maaß von Unbescheidenheit und Grünschnäbelei zu rathen.
Ganz allgemein geredet — so ist es jetzt äußerst schwer geworden, mir zu helfen; ich halte es immer mehr für unwahrscheinlich, Menschen zu begegnen, die dies vermöchten. Fast in allen Fällen, wo ich mir bisher einmal dergleichen Hoffnungen machte, ergab es sich, daß ich es war, der helfen und zugreifen mußte —: dazu aber fehlt es mir nunmehr an Zeit. Meine Aufgabe ist ungeheuer; meine Entschlossenheit aber nicht geringer. Was ich will, das wird Ihnen mein Sohn Zarathustra zwar nicht sagen, aber zu rathen aufgeben; vielleicht ist es zu errathen. Und gewiß ist Dies: ich will die Menschheit zu Entschlüssen drängen, welche über die ganze menschliche Zukunft entscheiden, und es kann so kommen, daß einmal ganze Jahrtausende auf meinen Namen ihre höchsten Gelübde thun. — Unter einem „Jünger“ würde ich einen Menschen verstehn, der mir ein unbedingtes Gelübde machte —, und dazu bedürfte es einer langen Probezeit und schwerer Proben. Im Übrigen vertrage ich die Einsamkeit: während jeder Versuch der letzten Jahre, es wieder unter Menschen auszuhalten, mich krank gemacht hat. —
Mit Zeitungen, selbst den wohlgemeintesten, kann und darf ich mich nicht einlassen: — ein Attentat auf das gesammte moderne Preßwesen liegt in dem Bereiche meiner zukünftigen Aufgaben. —
Es thut mir immer leid, Nein sagen zu müssen, und ganz besonders zu Ihnen, meine hochverehrte Freundin! Denn zuletzt sind wir Beide zum Ja-sagen geschaffen, nicht wahr? —
Mit den dankbarsten Gefühlen immer Ihr
Nietzsche.
517. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Venedig 14 Juni 1884.
Meine liebe Mutter,
in diesen Tagen geht es fort von hier, und da ich für die nächsten 3 Monate mir eine Revision der allersubtilsten Dinge (der erkenntnißtheoretischen Probleme) vorgesetzt habe, so bitte ich zu entschuldigen, wenn ich während dieser Zeit ein vollständiges Stillschweigen beobachte und auch von keiner Seite Briefe haben will.
Damit Deine Stimmung darüber sich nicht etwa verdüstere, habe ich eben ein Paar Zeilen an meine Schwester geschrieben.
Seht mitsammen zu, wie Ihr es noch eine Weile mit mir aushaltet.
F.
518. An Franz Overbeck in Basel
Hôtel Piora bei Airolo <12. Juli 1884>
Lieber Freund,
es ging schlecht bisher (immer krank) — ich schrieb schon zwei Briefe an Dich, schickte sie aber glücklicherweise nicht ab. Das feucht-warme wolkige Wetter hier oben ist nichts für mich; muthmaaßlich gehe ich noch nach dem Engadin, oder nach Zürich.
Von Luzern aus schrieb ich, wie Du riethest, an meine Mutter. —
Ich habe meinen Tröster und Zusprecher bei mir — meinen Sohn Zarathustra. Wenn Du in die Ferien gehst, nimm ihn mit Dir: ich möchte, daß Du Dich auch davon überzeugtest, daß ich mit diesem Buche alles überwunden habe, was je in Worten gesagt worden ist, und daß dies noch nicht einmal sein größtes Verdienst ist.
Basel, oder vielmehr mein Versuch, in alter ehemaliger Weise mit den Baslern und der Universität umzugehn — hat mich tief erschöpft. Eine solche Rolle und Verkleidung kostet jetzt meinem Stolze zu viel.
Tausend Mal lieber Einsamkeit! Und wenn es sein muß, allein zu Grunde gehn! —
Der Gedanke, den ich Dir im „weißen Kreuz“ aussprach, mich durch eine Art von ganz persönlicher Zuschrift „an meine Freunde“ gleichsam zu erklären — war nur die Eingebung der Basler Luft, ein Gedanke der Entmuthigung. Nicht ein Wort mehr von mir! Das „Mich-Erklären“ habe ich ja schon abgethan, durch den letzten Theil der „fröhlichen Wissenschaft“. Auch der Gedanke an Vorlesungen in Nizza ist nur ein Nothwehr-Einfall der Verzweiflung: denn im Grunde — wie könnte ich jetzt noch Vorlesungen halten! — Freilich, wie ich über die nächsten Jahre hinwegkommen soll, darüber weiß ich mir nicht ein, noch aus. Aber ich habe schon Schweres überstanden und rechne darauf, daß mein Geist der Erfindung mich auch dies Mal nicht im Stich lassen wird. Einstweilen stecke ich in tiefer, tiefer Schwermuth, kaum weiß ich zu sagen warum. Es mag sein, daß ich im Stillen immer geglaubt habe, an dem Punkte meines Lebens, an dem ich angelangt bin, nicht mehr allein zu sein: daß ich da von Vielen Gelübde und Schwüre empfangen würde, daß ich Etwas zu gründen und zu organisiren hätte, und dergleichen Gedanken, mit denen ich über Zeiten gräßlicher Vereinsamung mich hinwegtröstete. Inzwischen ist es anders gekommen. Es ist alles noch zu früh, ich muß mir eine neue Geduld erfinden. Und mehr noch als Geduld. —
Ich denke Deiner und Deiner lieben Frau mit dankbarem Herzen.
Dein N.
N.B. Wie heißt doch das deutsche Wörterbuch, das viel kleiner als das Grimmsche ist, und fertig?
— Da fällt mir ein, daß im weißen Kreuz von mir ein Nachthemd zurückgeblieben ist. Laßt doch, bitte, einmal dort bei dem Zimmermädchen darnach fragen! Pardon!
Muth! Muth! Und: aequam memento rebus in arduis servare mentem — rufe ich mir zu.
Heute Abreise von hier nach Zürich, Hôtel Habis, wo ich bleibe.
519. An Meta von Salis in Zürich (Postkarte).
<Airolo, 12. Juli 1884>
Mein verehrtes Fräulein,
angenommen, daß Sie wissen, wer ich bin, dürfen Sie sich nicht wundern, wenn ich wünsche, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich werde einige Tage in Zürich bleiben, Hôtel Habis: geben Sie mir, wenn ich bitten darf, ein Wort der Mitteilung dahin über das Wann? und Wo? eines Zusammentreffens.
Ihr ergebener Diener
Prof. Dr. Nietzsche
Piora bei Airolo, bei der Abreise
520. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Sils-Maria, 18. Juli 1884>
Mein alter Freund, ich bin in Sils-Maria angelangt — ah diese gute Luft! Ich kann nichts Thörichteres thun als meine Gesundheit und meinen Muth durch ungünstige klimatische Bedingungen herunter zu drücken: Zeugniß mein letzter Brief, auf welchen Du sehr gut geantwortet hast, nämlich aus meinen eigenen Herzenswünschen heraus. Eine Weile soll es nun wieder gehen! „Vorüber die Trübsal dieses Frühlings! Vorüber die Bosheit meiner Schneeflocken im Juni!“ wie Z<arathustra> sagt, sehr engadinerhaft!
Dein N.
521. An Franz Overbeck in Basel
<Sils-Maria, 23. Juli 1884>
Lieber Freund,
ich vergaß neulich, Dich zu bitten, dem Bibliotheks-Diener den betreffenden Wink zu geben: „Sils-Maria, Oberengadin“ genügt als Adresse. Insgleichen vergaß ich Dich zu fragen, wann Du wieder aus den Ferien nach Basel heimzukehren gedenkst, und wann demgemäß die nächste Pensions-rate für mich in Aussicht steht. Ich laborire nämlich an der Vorstellung, dies Mal nicht bis zu dem nächsten Termine auszureichen. Man hat mir in Val Piora und Zürich schrecklich viel Geld abgenommen. — Was ich überhaupt das „Reisen an sich“ verwünsche! Es erschöpft mich auf eine mir kaum verständliche Art. — Das Wetter war mir bisher zuwider, und ich bin noch ferne davon, mich erholt zu haben. Es gab Tage, die ich kaum zu überwinden wußte: meine Feinde, die Wolken —!
Andererseits giebt es Stunden wenigstens, wo ich, bei einem Rückblick über 40 Jahre, mich glücklich preise — freilich auch mit vielen „blauen Augen,“ aber eben doch hindurch gekommen zu sein. Die Consequenzen eines solchen Lebens kamen in den letzten Jahren zum „Ausbruch“ — eruptiv, in jeder Hinsicht, und beinahe zerstörend. Aber dies „beinahe“ ist meinem ganzen Leben an die Stirn geschrieben — zuletzt bin ich bis jetzt doch noch „der Siegreiche“.
Ich stecke mitten in meinen Problemen drin; meine Lehre, daß die Welt des Guten und Bösen nur eine scheinbare und perspektivische Welt ist, ist eine solche Neuerung, daß mir bisweilen dabei Hören und Sehen vergeht.
Aber Du wirst mitten in Deiner Arbeit sein und hast schon viel zu viel Zeit auf Deinen tollen Freund verwenden müssen — ich dachte oft daran, und mit Betrübniß. Es sollte Jemanden geben, der für mich, wie man sagt, „lebte“; da würde auch Dir, mein lieber Freund, Viel erspart sein.
Die Abende, wo ich ganz allein, im engen niedrigen Stübchen sitze, sind harte Bissen zum Kauen.
Dir und Deiner lieben Frau (der ich vergessen habe die mémoires der Herzogin von Abrantes zu empfehlen, zur Ergänzung der Remusat)
von Herzen zugethan
N.
522. An Heinrich Köselitz in Annaberg
Sils-Maria (Ober-Engadin) <, 25. Juli 1884>
Lieber Freund,
Ihr Brief giebt mir in äußerst angenehmer Manier die regulativen Begriffe, mit denen ich meine Erfahrungen der letzten Zeit zusammenfassen kann. Ich bin nämlich lange unterwegs gewesen und habe viele sogenannte „alte Bekannte“ (ich sollte sagen: als „neue Unbekannte“); aufgesucht und gesprochen. Das war eine Thorheit, die mich in jeder Hinsicht gelangweilt und erschöpft hat; dazu kam, daß der Sommer heiß war und daß ich immer in Gegenden lebte, deren Clima mir nachtheilig ist. Endlich in Sils-Maria! Endlich Rückkehr zur — Vernunft! Inzwischen nämlich gieng es um mich zu unvernünftig zu (ich war wie unter Kühen); aber daß ich mich so lange in diesen Niederungen und Kuhställen aufhielt, war selber die größte Unvernunft. Wer Distractionen nöthig hat, wie sie unser-Einer hier und da nöthig hat, Gelegenheit zu lachen, boshafte Menschen und Bücher — der soll nur irgend wo anders hin gehn, aber nicht nach Basel et hoc genus omne.
Das Spaaßhafteste, was ich erlebte war J<acob> Burckhardts Verlegenheit, mir etwas über den Zarathustra sagen zu müssen: er brachte nichts Anderes heraus als — „ob ich es nicht auch einmal mit dem Drama versuchen wolle“. —
In summa: es wird wohl bei Sils und Nizza verbleiben, kürzere Zwischen-Aufenthalte abgerechnet (so ist vorläufig ein Ausflug nach Corsica für nächsten Frühling von Nizza aus verabredet, nämlich von Resa von Schirnhofer und mir — vivat tertius!) Auch sollten wir, mein geliebter Freund, uns hier, im heiligen Sils, der Ursprungsstätte des Zarathustrismus, für nächsten Sommer wiederzusehen versprechen! Haben Sie Lust dazu? Ein landschaftlicher Umblick in der Schweiz hat mich von Neuem belehrt, daß Sils-Maria nicht seines Gleichen in der Schweiz hat: wunderliche Mischung des Milden, Großartigen und Geheimnißvollen! —
Was fehlt mir doch? Daß ich Ihre Musik nicht hören kann, daß ich gar nicht weiß, wann und wie ich sie wieder zu hören bekomme! Ach die glücklichen Dresdener! Meine Tischnachbarin, eine Lievländerin, die in Dresden lebt, erregt meine Eifersucht. An Frau Rothpletz schrieb ich ad vocem „Einsamkeit“ einen Brief und sagte ihr wie wäre denn jetzt — jetzt! — solche Musik wie die Ihre noch möglich, wenn nicht die Erfindung der Einsamkeit gemacht worden wäre! Eingerechnet die Einsamkeit zu Zweien, wie die unsre in Venedig, für die ich Ihnen von ganzem Herzen Dank sage!
Treulich Ihr N.
Ihren verehrlichen Eltern mich bestens empfehlend. N.
523. An Resa von Schimhofer in Zürich
Sils-Maria, Oberengadin(diese Adresse genügt)<25. Juli 1884>
Verehrtestes Fräulein,
hier ist gut leben, in dieser starken hellen Luft, hier, wo die Natur auf wunderliche Weise zugleich mild, feierlich und geheimnißvoll ist — im Grunde gefällt mir’s nirgendswo so gut als in Sils Maria, kurz, Sie werden mich wieder heiter und guten Muths finden, wie in Nizza.
Ich überlege, wie Sie am besten reisen. Nothwendig ist, sich einen Coupéplatz (Chur-Silvaplana) bei der Post in Chur vorauszubestellen, mindestens 8 Tage voraus: der Andrang ist groß. Die Morgenpost geht (wenn ich mich recht erinnere) um 6 Uhr in Chur ab und ist Abends um 5 ungefähr in Silvaplana, wo ich Sie empfange. Ich möchte gerne sobald als möglich den Tag wissen, an dem Sie eintreffen wollen, damit man für diesen Tag Ihnen ein Zimmer im Hotel Alpenrose (wo ich esse) reservire: der Andrang ist auch da groß. Sehen Sie übrigens das schweizerische Eisenbahn-Coursbuch an: man kann auch Nachmittag von Zürich abfahren und gegen 11 den Anschluß an die Nachtpost in Chur erreichen — in diesem Falle ist man Morgens um 10 in Silvaplana. Das ist aber sehr anstrengend; rathsamer scheint mir, in Chur (Hôtel Lukmanier) die Nacht zu bleiben; das genannte Hôtel liegt der Post gegenüber. —
So viel. Ich freue mich auf Ihre Ankunft. Eben blitzt es.
Herzlich Ihnen ergeben
Nietzsche.
524. An Franz Overbeck in Basel
<Sils-Maria, Anfang August 1884>
Lieber Freund, gestern Abend kam Dein Brief, und ich nahm, Dank demselben, mit mehr Vergnügen als sonst, meine einsame Mahlzeit ein. Die Nacht hatte ich wenig Ruhe, im Zimmer nebenan starb Jemand, man gieng immer hin und her, Arzt, Pfarrer usw. Heute regnet es, wie schon gestern, meine Finger sind steif, ich werde gerade noch fertig bringen, zu schreiben, daß ich gerne 200 frcs. von der Handwerker-Bank hätte, zur Beruhigung. Ob ich im September südlich-westlich reisen kann, hängt von der Cholera und der (7 tägigen!) Quarantäne ab; diese Krankheit hat mich schon gezwungen, über Zürich nach dem Engadin zu reisen, statt, wie es viel näher war, über Lugano. —
An „Peter Gast“ habe ich ungefähr vor einer Woche geschrieben, seine Venetianische Musik geht mir tröstlich durch den Kopf, und ich betrachte es als eine harte Entsagung, nicht bei der Aufführung seiner Oper Zeuge und Taufgevatter zu sein.
Das Clima ist rauh, und die sonderbare Erschöpfung, an der ich laborire (Du glaubst nicht, wie langsam ich meines Weges gehen muß —) hat an dieser scharfen Kälte und Herbheit ein Heilmittel — mindestens hoffe ich das.
Beim Durchlesen meiner „Litteratur,“ die ich jetzt wieder einmal beisammen sehe, fand ich mit Vergnügen, daß ich noch alle starken Willens-Impulse, die in ihr zu Worte kommen, in mir habe und daß auch in dieser Hinsicht kein Grund zu Entmuthigung da ist. Übrigens habe ich so gelebt, wie ich es mir selber (namentlich in „Schopenhauer als Erzieher“); vorgezeichnet habe. Falls Du den Zarath<ustra> mit in Deine Mußezeit nehmen solltest, nimm, der Vergleichung halber, doch die eben genannte Schrift mit hinzu (ihr Fehler ist, daß eigentlich in ihr nicht von Schopenhauer, sondern fast nur von mir die Rede ist — aber das wußte ich selber nicht, als ich sie machte.)
Eben kommen, schön verpackt, die Bücher an.
Dir und Deiner lieben Frau das Beste wünschend
Dein N.
526. An Franziska Nietzsche in Naumburg
10 August 1884, Sils-Maria
Gestern Abend, meine liebe Mutter, kam die Kiste aus Braunschweig, ich danke bestens für diese Besorgung — der Schinken ist delikat. — Gesundheit giebt manchen Anlaß zur Sorge; so viel Erschöpfung; früher konnte ich ganz anders gehen. Schmerz an der Stelle des Rückens, wo ich schief bin. Seit einigen Tagen plötzliche Verdunkelung des Augenlichtes, so daß ich alles Arbeiten eingestellt habe. — Sonst bewährt sich Sils, und es wird wohl fürderhin bei Sils und Nizza bleiben. Wäre damit das Clima bezeichnet, welches ich zum Leben nöthig habe, so muß doch noch Manches sich hinzufinden, wenn ich es länger aushalten soll — ich bin mit schweren, allerschwersten Aufgaben und Pflichten überbürdet. Vorigen Sommer habe ich das Zimmer tapeziren lassen, dies Mal denke ich an die Erwerbung eines Ofens. Es fehlt nicht an Menschen, mit denen ich reden kann, mit Turneysen-Merians zb. habe ich 3 Wochen zu Mittag gegessen. Eine Engländerin ist da, die früher an mich geschrieben hat. Eben nahm ein preußischer Beamter des Patent-Amts (aus dem Bismarckschen Dunstkreis) von mir Abschied — ganz ergriffen: (er sagte, „die Gespräche mit mir seien die bedeutungsvollste Episode seines geistigen Lebens“); Resa von Schirnhofer wird wohl noch kommen, wenigstens sind Briefe an sie bei mir eingetroffen. Du siehst, daß „der Einsiedler von Sils-Maria“ diesen Sommer besser daran ist als den vorigen, auch fehlt es nicht an guten Nachrichten, welche beweisen, daß die Verehrung, ja Ehrfurcht vor mir außerordentlich im Wachsen ist. Ich selber bin dem gegenüber in einer artigen boshaften Stimmung: das liegt wohl an dem Umstände, daß diese letzten Jahre meine wohlwollenden nachsichtigen vergebenden und versöhnlichen Instinkte gar zu stark in Anspruch genommen worden sind.
Da hast Du nun wieder einen geistigen Wetterbericht von Deinem Sohne; den nächsten bekommst Du wohl erst aus Nizza, wohin ich im September abziehe. (Ich soll dort, nach Prof. Schiess’ Urtheil, Seebäder gebrauchen.)
Mit herzlichem Gruß und Wunsche
Dein F.
526. An Franz Overbeck in München
Sils-Maria Oberengadin. <Sonntag><18. August 1884>
Lieber alter Freund,
das Geld kam mir zu Händen — ich danke schönstens für die schnelle Besorgung. Die Gesundheit will dies Mal nicht recht von der Stelle, ich bin immer noch nicht die große seltsame Erschöpfung losgeworden. Still liegen — das ist an Stelle des Viel-Herumlaufens früherer Jahre getreten. Das Problem der „düsteren Abende“ ist noch nicht gelöst.
Es thut mir wohl, daß es keine Briefe von Naumburg giebt; wie erschüttert und krank ich aber noch in dieser Hinsicht bin, giebt dies zu verstehen, daß nach jedem Briefe, den ich meiner Mutter in diesem Sommer geschrieben, ich 2 Tage ernstlich krank gewesen bin. Du kannst Dir wohl vorstellen, wie die beständige Wiederholung Eines Vorgangs endlich auf mich gewirkt hat: daß man mir immer und immer wieder in die ungeheure Spannung eines großen Gefühls, das sich über das Schicksal der Menschheit ausspannt, eine Hand voll Schmutz ins Gesicht wirft (und dies auf Grund von Handlungen meinerseits, vor denen, wie mir scheint, jeder höher empfindende Mensch nur Ein Gefühl: bewundernde Verehrung haben sollte!) Daß es mir nicht ansteht, mich zu „rechtfertigen“, wo ich über das Maaß menschlicher Tugenden hinausgegangen bin, liegt auf der Hand, ich gewinne es nicht über mich; aber vielleicht habe ich eben dadurch das Verhältniß zu meinen Angehörigen in Grund und Boden verdorben. — Fühlte ich nicht, daß ich von allen Seiten jetzt isolirt bin, so würde ich diese Lostrennung von meinen Blutsverwandten nicht so schmerzlich empfinden. In Summa: es gehört zu meinen Aufgaben, auch darüber Herr zu werden und fortzufahren, alle meine Schicksale zu Gunsten meiner Aufgabe „in Gold zu verwandeln. “
Es gab doch wieder Stunden, wo diese Aufgabe ganz deutlich vor mir steht, wo ein ungeheures Ganzes von Philosophie (und von Mehr als je Philosophie hieß!) sich vor meinen Blicken auseinander legt. Dies Mal, bei dieser gefährlichsten und schwersten „Schwangerschaft,“ muß ich mir begünstigende Umstände zusammenholen und alle Sonnen mir leuchten machen, die ich noch kennen lernte. Auch werde ich wohl auf der Hut sein, solche klimatische Thorheiten zu begehen, wie die Sprünge Nizza Venedig Basel. Es muß im Wesentlichen vielmehr bei Nizza und Sils bleiben.
Ich hatte für einige Tage Fräulein Resa von Schirnhofer bei mir zu Besuch, bevor sie zu ihren Eltern, nach Graz, abreiste; es ist ein drolliges Geschöpf, das mich lachen macht und sich gut an mich gewöhnt. Diesen Winter wird sie in Paris ihre philosophischen Studien fortsetzen.
Ich esse diesen Sommer nicht allein zu Mittag, wie früher, vielmehr in Gesellschaft; meine jetzige Tischnachbarin, an der ich meine Freude habe, ist eine alte Russin (Hofdame der Kaiserin), eine veritable Schülerin Chopin’s. Mehrere Wochen waren Turneysen-Merian’s in meiner Nähe. Auch Sidney v. Wöhrmann hat mich besucht. Auch giebt es einen neuen „Verehrer,“ einen preußischen Beamten aus dem Bismarck’schen Dunstkreis, angestellt im Patent-Amte.
So viel, mein lieber Freund. Ich ersehne Nachricht von Köselitz — nein, was ich diese Musik liebe und diesen Musiker! Die Cholera-Quarantäne (von 7 Tagen) hält mich in Spannung. Zunächst will ich versuchen, es bis Ende September hier auszuhalten (falls es nicht zu schnell Winter und Schnee giebt). Dann Nizza. Ah, wenn ich doch sagen dürfte: Dresden!
Dir dankbarlich ergeben und mit vielen guten Wünschen für Dich
N.
527. An Heinrich von Stein in München
<Sils-Maria,> Mittwoch <20. August 1884>
Sehr willkommen! Sehr ersehnt — mehr sage ich heute nicht. Nehmen Sie in Sils-Maria das Hôtel Alpenrose: da esse ich jetzt zu Mittag. Ein Wort noch über die muthmaßliche Stunde Ihrer Ankunft in Silvaplana: daß ich Sie, verehrtester Herr, daselbst abholen kann.
Von Herzen erfreut
der Einsiedler von Sils-Maria.
528. An Malwida von Meysenbug in Rom
Sils-Maria, Oberengadin, Schweiz. 1. Sept. 1884.
Liebe verehrte Freundin,
um gleich die Hauptsache zu sagen: es ist ein Jammer, wenn wir Beide, zwei Menschen, welche sich lieb haben, nicht zusammenleben — und nun kommen die für mich ganz fatalistischen Gründe des Clima’s und zwingen mich, meine Winter fürderhin in Nizza und nicht in Rom zuzubringen! Erwägen Sie doch einmal, ob die unglaublich belebende und stärkende Luft Nizza’s, die stärkste Luft Europa’s (nächst der vielleicht von Sils-Maria) Ihnen nicht auch gut thun müßte, wie sie mir gut thut: eingerechnet die Wirkung von 220 absolut hellen Sonnen-Tagen im Jahr, für mich etwas ganz Entscheidendes. (Rom hat 100 Tage weniger) Ich für meinen Theil wünsche mir gerade Ihre Nähe, wie ich mir reinen Himmel wünsche: womit Ihnen Alles gesagt sein muß, vorausgesetzt, daß Sie auf meinen Sohn Zarathustra hingehört haben. Und wie werthvoll wäre uns ein Zusammensein namentlich an den Abenden, wo wir beide nicht lesen und schreiben dürfen, und wo wir uns so Viel zu erzählen hätten!
Ich bin einstweilen gesonnen, gegen Anfang Oktober nach Nizza zu gehen und wieder in meine gute schweizerische Pension „Hôtel de Genève“ — und Seebäder zu gebrauchen, wie mir verordnet ist. Bis dahin Sils.
Stein war 3 Tage hier: das ist ein Mann nach meinem Herzen! Er hat mir aus freien Stücken versprochen, so bald er frei wird d.h. so bald sein Vater nicht mehr lebt, dem zu Liebe er es im Norden aushält, zu mir nach Nizza überzusiedeln.
Auch die gute Resa Schirnhofer war da, mit einer ihrer Züricher Freundinnen. Schade, daß sie, um Baslerisch zu reden, so „unanmüethig“ aussieht! Ich kann das Häßliche in meiner Nähe nicht lange aushalten (ich meinte schon in Bezug auf Frl. Salomé einige Selbst-Überwindung darin nöthig zu haben)
Nun erwägen Sie, meine verehrteste Freundin, sich, mich, Ihre Gesundheit — man kann in Nizza mindestens so billig leben als in Rom, und wie ich wenigstens urtheile, drei Mal so produktiv.
Von ganzem Herzen
Ihr
Nietzsche.
Umwenden!
Fast vergaß ichs — ad vocem „Propaganda-machen“ in Ihrem vorletzten Briefe, woraufhin ich mir heute eine kleine Rache erlaube — —
Miß Helen Zimmern (es ist dieselbe welche den Engländern mit gutem Erfolge Schopenhauer vorgeführt hat) schreibt an mich „ich möchte Sie nochmals daran erinnern, doch Ihre Freundin, die Verfasserin der Memoiren einer Idealistin zu bitten, mir ihre sämmtlichen Werke zukommen zu lassen. Es würde mir sicherlich Freude machen, wenn ich dieselben in England durch einen Aufsatz bekannt machen könnte, und ich glaube, daß ich diesen Winter Zeit finden könnte, mich mit denselben zu beschäftigen. “
Ich hatte Miss Zimmern in Ihrer Hinsicht einen Wink gegeben, bei einer Unterredung hier in Sils-Maria: ihre Adresse ist London, 7, Tyndale Terrace Canonbury Square
529. An Heinrich Köselitz in Annaberg
2. Sept. 1884. Sils-Maria(Oberengadin)
Zuletzt, mein lieber verehrter Freund — was uns auch für Widerwärtigkeiten im Wege stehen mögen, wir Beide gehören nun einmal zur Ritter- und Brüderschaft „von der gaya scienza“ und wollen uns dessen in diesem guten Jahre, das Ihren „Löwen“ und meinen „Zarathustra“ von Einem Baume abschüttelte, recht von Herzen getrösten. Der Rest — ist Warten, bei Ihnen wie bei mir.
Für die Zukunft trage ich die Hoffnung mit mir herum, daß sich in Nizza eine kleine, äußerst gute Gesellschaft dieses Glaubens an die gaya scienza bilden wird: und im Geiste habe ich Ihnen als dem Ersten schon den Ritterschlag zur Einweihung in diesen neuen Orden gegeben. Man soll „beim Mistral!“ fluchen und schwören — eine andere Verpßichtung wüßte ich nicht, da sich bei Menschen, wie wir sind, Alles „von selber versteht“. —
Einstweilen bin ich durch eine doppelte Quarantäne von Nizza fern gehalten (das heißt durch 2 X 7 Tage) und in Anbetracht, daß erst mit den Herbst-Regen die Cholera verschwinden wird, also etwa in der zweiten Hälfte des October —oscillirt meine Sehnsucht sehr nach dem Norden zu, deutlicher geredet, nach Dresden zu. Sobald die „Aussicht der Aufführung“ Ihnen selber zu Gesicht kommt, (oder auch nur die Wahrscheinlichkeit dieser Aussicht) bitte, telegraphiren Sie hierher. Hier, ohne Ofen, durchfroren, mit blauen Händen, kann ich’s schwerlich lange aushalten — ich müßte mir denn einen Ofen anschaffen.
Ich bin überdies mit der Haupt-Aufgabe dieses Sommers, wie ich sie mir gestellt hatte, im Ganzen fertig geworden — die nächsten 6 Jahre gehören der Ausarbeitung eines Schema’s an, mit welchem ich meine „Philosophie“ umrissen habe. Es steht gut und hoffnungsvoll damit. Zarathustra hat einstweilen nur den ganz persönlichen Sinn, daß es mein „Erbauungs- und Ermuthigungs-Buch“ ist — im Übrigen dunkel und verborgen und lächerlich für Jedermann.
Heinrich von Stein, ein prachtvolles Stück Mensch und Mann, an dem ich Freude gehabt habe, sagte mir ganz ehrlich, er habe von besagtem Z<arathustra> „zwölf Sätze und nicht mehr“ verstanden. — Das that mir sehr wohl.
Schreiben Sie mir ein Wort über Ihre Übersetzung.
Mit der Gesundheit steht es sehr unsicher, es stand in Venedig besser, und in Nizza besser als in Venedig. Alle 10 Tage ein guter Tag: so lautet meine Statistik, hole sie der Teufel!
Kein Mensch, der mir vorliest! Alle Abende melancholisch im niedrigen Zimmer, frostklappernd, 3—4 Stunden die Erlaubniß abwarten, zu Bett zu gehn!
Heute verläßt mich meine beste Sommer-Bekanntschaft, meine Tisch-Nachbarin Frl. von Mansuroff, dame d’honneur der russischen Kaiserin — ach, wir hatten uns so Viel zu erzählen, es ist ein Jammer, daß sie fortgeht! Denken Sie doch, eine veritable Schülerin Chopins, und voller Liebe und Bewunderung für diesen „ebenso stolzen wie bescheidenen“ Menschen! - - -
Sils-Maria ist allerersten Ranges, als Landschaft — und nunmehr auch, wie man mir sagte, durch „den Einsiedler von Sils-Maria“ — —
Sehen Sie, da schrieb ich schnell noch eine „Unbescheidenheit allerersten Ranges"!
Treulich Ihr Freund
Nietzsche
530. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria, 2. September 1884>Donnerstag.
Meine liebe Mutter,
Deine Gabe, die ich als Geburtstagsgeschenk empfangen habe, hat mich wahrhaft gerührt, und ich möchte gern im Stande sein, auch Deinem Wunsche zu entsprechen und nach Naumburg zu kommen. Was die Gegengründe betrifft, so wirst Du durch meinen letzten Brief hinreichend unterrichtet sein. Es versteht sich, daß für einen außerordentlichen Fall (z. B. wenn es vielleicht sich absehn ließe, daß ein Zusammensein zu Dreien das Letzte für eine längere Zeit sein dürfte — ein Fall, der mir öfters vorschwebt und auf den sich, wie ich gemeint habe, der Wunsch meiner Schwester zu einer Zusammenkunft bezieht) — es versteht sich, daß für einen solchen Fall ich die Rücksichten der Gesundheit (und noch mehr die des Geldes) hintenan setzen würde. Auch würde es mir selber wohlthun, einigermaßen mein Programm für die nächsten 5 Jahre auszusprechen das sich ziemlich bestimmt gestaltet hat, Dank der grossen Aufgabe, in deren Dienste ich lebe. Vielleicht würde gerade durch dies Letzte allem dem Mißverständlichen und Entfremdenden, an welchem die vergangenen Jahre so reich waren, am besten in Hinsicht auf die Zukunft vorgebeugt.
Zum Mindesten würde ich klar machen, weshalb man einem so Tief-beschäftigten und ebenso Tief-Verborgenen Menschen, wie ich bin, mit der größten und schonendsten Vorsicht begegnen müsse (nach der Regel, daß man einen Nachtwandler nicht anreden darf —)
— Im Übrigen steht Alles gut, und ich habe, trotz der größten Schwierigkeiten, bis zu diesem Zeitpunkte (dem 40ten Lebensjahre) Alles noch von mir erreicht, was ich erreichen wollte. —
Schreibe mir, bitte, umgehend, und erwäge, ob im andern Fall vielleicht nächstes Jahr um dieselbe Zeit ein solches Zusammensein zu Dreien in’s Auge zu fassen wäre.
Es hat mich sehr gefreut, daß Du an die kleine Adrienne gedacht hast. Meine Leute hier sind ausgezeichnet, und nachgerade wird der „Einsiedler von Sils-Maria“ von allen Seiten sehr achtungsvoll behandelt. Mehrere der Sommergäste der hiesigen Hôtels haben mir Abschiedsbesuche gemacht.
Honig excellent! Handschuh sehr erwünscht! —
Wirklich, ich fürchte mich jetzt vor langen Reisen, Du kannst nicht glauben, was ich dies Jahr schon an den Folgen der Eisenbahn- und Postfahrten gelitten habe. Sils und Nizza, Nizza und Sils — und dazwischen eine Frühjahrs-Station: so wird es gehen. — Mit den herzlichsten Wünschen für uns 3
Dein Sohn F.
Ich bin traurig über die Abreise meiner vortrefflichen Tischnachbarin Frl. von Mansuroff, dame d’honneur der russichen Kaiserin (einer veritablen Schülerin Chopins) und langweile mich seitdem. Besuch verabredet.
Dr. von Stein hat mit der höchsten Verehrung vom Charakter des Dr. Rée und von seiner Liebe für mich geredet — was mir sehr wohlgethan hat. —
Das Neueste ist: „der Kampf um Gott“, Roman von H. Lou.
531. An Resa von Schirnbofer in Graz
(2. Sept. 1884) Sils-Maria, Oberengadin
Sehr geehrtes Fräulein
inzwischen gieng es nicht gut. Ah, diese dumme Gesundheit! Außerdem ist es kalt hier oben, blau-finger-kalt, um mich kurz verständlich zu machen; ich wälze das Problem eines Ofens in meinem Kopfe.
Von Nizza bin ich jetzt durch 2 Quarantänen, jede zu 7 Tagen, fern gehalten — was mich etwas nach Norden zu oscilliren macht. Ich möchte wissen, ob man auf die Dresdener Aufführung des „Löwen von Venedig“ rechnen dürfte — in diesem Falle wäre ich sehr versucht und verlockt —. Zuletzt wünscht meine Schwester, „wichtiger“ Dinge halber, ein Zusammentreffen.
Inzwischen kam Heinrich von Stein zu Besuch, nicht länger und nicht kürzer als Sie selber, und sehr erquicklich. Was mir Das gut that! — endlich ein Mensch mit einer heroischen Grundstimmung, und in der Umgebung R. W<agner>’s schön zur Ehrfurcht erzogen, ganz anders als jetzt erzogen wird (nämlich zum Mitreden und Mitschwätzen über Jedes vor Jedem) Er hat mir Aussichten gemacht, für die Zeit, wo sein Vater nicht mehr lebt — zu mir nach Nizza überzusiedeln. —
Eben nahm Frl. von Mansuroff Abschied — oh wie einsam ist es schon geworden! —
Lesen Sie, ich bitte, Stifter’s „Nachsommer“. —
(„Der Kampf um Gott“ Roman von H. Lou (Stuttgart, Auerbach), seit Mai im Druck.)
In summa: ich bin mit dem Sommer zufrieden, insofern ich für 6 Jahre den Entwurf gemacht habe, den Entwurf meiner „Philosophie“ oder „Religion“ oder was weiß ich? Genug, es muß noch gelebt werden. —
Aber die dumme Gesundheit! — —
Nehmen Sie nochmals meinen herzlichsten Dank für Ihren Besuch und bleiben Sie gut-freundschaftlich gesinnt.
Ihrem ergebensten
Nietzsche.
532. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria, Anfang September 1884>
Anbei, meine liebe Mutter, das letzte Document, welches ich in Bezug auf meine Chemnitzer Gelder in den Händen habe; es fehlt, wie Du sehen wirst, der Zins vom 1 Januar 1883 bis 1 April 1884.
Herr Schmeitzner schrieb im vorigen Monat an mich (ohne von mir an sein Versprechen erinnert zu sein): „ich stecke jetzt tief in Hypotheken, Kaufs- und Miethverhandlungen, denn ich muß Wort halten und Ihnen am 1. April das Darlehn zurückzahlen.“
Alles Weitere sei nun Dir anbefohlen, meine liebe Mutter! Dein Vorschlag ist mir vollkommen recht; willst Du es anders, ist es mir auch recht.
Von Mitte nächsten Jahres an hört meine Baseler Pension auf. Von da an will ich langsam meine Gelder aufbrauchen, langsam und sparsam, wie ich es gewöhnt bin — ja noch etwas sparsamer. Ich fange an mit den Geldern, welche ich noch in Basel habe: dann kommt das Schmeitznersche Geld an die Reihe (abgesehn von den 600 Thl.) und zuletzt mein Naumburger Vermögens-Rest. Bis ich mit dem Allen fertig bin, werde ich noch durch zweite Außagen und neue Schriften manche Einnahme haben.
Ich werde noch einige Zeit hier bleiben. Nach Taormina zu gehn, wozu mir meine Schwester räth, liegt mir jetzt ganz fern ebenso fern als Fräulein Mellien. Auch auf die Einladung von Malvida nach Rom habe ich mit Nein geantwortet.
Mitten in tiefer Arbeit.
Von Herzen
F.
533. An Franz Overbeck in München
Sils-Maria, 14 Sept. 1884.
Lieber Freund, herzlichen Dank voraus!
Im Ganzen sind alle Dinge diesen Sommer bei mir von der Stelle gekommen, und der Hauptzweck ist erreicht worden, freilich sehr auf Unkosten der Gesundheit: namentlich ist eine plötzliche auffallende Verdunkelung der Augen hinzugekommen, die mich nöthigt, mit Schiess zu correspondiren. Die Gesammt-Depression, an der ich leider bei unserm Zusammensein in Basel litt, ist aber gehoben; ich glaube jetzt, daß ich die Differenz mit meinen Angehörigen hundert Mal zu schwer genommen habe. Es genügte schon der Vorschlag zu einem Rendezvous mit meiner Schwester, um vergnügte Gesichter zu machen. Das ist nun mein ewig wiederholter Fehlgriff, daß ich mir fremdes Leid viel zu groß vorstelle. Von meiner Kindheit an hat sich der Satz „im Mitleiden liegen meine größten Gefahren“ immer wieder bestätigt (vielleicht die böse Consequenz der außerordentlichen Natur meines Vaters, den Alle, die ihn kannten, mehr zu den „Engeln“ als zu den „Menschen“ gerechnet haben) Genug, daß ich durch die schlimmen Erfahrungen, die ich mit dem Mitleiden gemacht habe, zu einer theoretisch sehr interessanten Veränderung in der Werthschätzung des Mitleidens angeregt worden bin.
Das Erlebniß des Sommers war der Besuch Baron Stein’s (er kam direkt aus Deutschland für 3 Tage nach Sils und reiste direkt wieder zu seinem Vater — eine Manier, in einen Besuch Accent zu legen, die mir imponirt hat) Das ist ein prachtvolles Stück Mensch und Mann und mir wegen seiner heroischen Grundstimmung durch und durch verständlich und sympathisch. Endlich, endlich ein neuer Mensch, der zu mir gehört und instinktiv vor mir Ehrfurcht hat! Zwar einstweilen noch trop wagnetisé, aber durch die rationale Zucht, die er in der Nähe Dührings erhalten hat, doch sehr zu mir vorbereitet! In seiner Nähe empfand ich fortwährend auf das Schärfste, welche praktische Aufgabe zu meiner Lebens-Aufgabe gehört, wenn ich nur erst genug jüngere Menschen einer ganz bestimmten Qualität besitze! — einstweilen ist es noch unmöglich, davon zu reden, wie ich denn auch noch zu keinem Menschen davon geredet habe. Welch sonderbares Schicksal, 40 Jahr alt werden und alle seine wesentlichsten Dinge, theoretische wie praktische, als Geheimnisse mit sich noch herumschleppen! — Vom Zarathustra sagte Stein ganz aufrichtig, er habe „zwölf Sätze und nicht mehr“ davon verstanden: was mich sehr stolz gemacht hat, denn es charakterisirt die unsägliche Fremdheit aller meiner Probleme und Lichter (zufällig brachte der Sommer mir mehrmals dasselbe Zeugniß in Betreff der Morgenröthe und fröhlichen Wissenschaft „die fremdartigsten Bücher, die es giebt“).
Dagegen ist Stein Dichter genug, um z.B. von dem „anderen Tanzlied“ (dritter Theil) aufs Tiefste ergriffen zu sein (er hatte es auswendig gelernt) Wer nämlich gerade bei den Heiterkeiten Zarathustra’s nicht Thränen vergießen muß, der gilt mir als noch ganz fern von meiner Welt, von mir.
Stein hat mir aus freien Stücken versprochen, zu mir nach Nizza überzusiedeln, sobald sein Vater nicht mehr lebt: dem zu Liebe er es im Norden und an einer deutschen Universität aushält.
Daniella v. Bülow hat mir durch ihn sagen lassen, daß sie ihre Verlobung aufgelöst habe und jetzt, zur Stärkung, meine Schrift „Schopenhauer als Erzieher“ lese.
Köselitzens Schicksal macht mir viel Sorge. Mit der früheren Unabhängigkeit scheint es vorbei zu sein, es steht nicht gut mit der Färberei seines Vaters, er wird schwerlich wieder von Hause fortkönnen, solange er nicht Erfolge hat. Was diese betrifft, so ist der jetzt herrschende Wagnerismus ihm durchaus nicht schädlich, im Gegentheil: vorbereitend, wie ich selber es persönlichst erlebt habe — die zartesten und sublimsten Zustände haben noch nie vor Wagner so geleuchtet, und erst nachdem man durch ihn Augen für diese Lichter und Farben bekommen hat, weiß man, wohin die Kunst unsres Venediger Maestro will und muß — — Seine Gegnerschaft liegt vielmehr im deutschen bewußten oder unbewußten Obscurantismus und Sentimentalismus, in den zweiten-Aufguß-Brühen, wie sie z.B. Brahms servirt, und in summa in der deutschen Mittelmäßigkeit des bürgerlichen Geistes, welcher allem Südländischen gegenüber sich argwöhnisch-reizbar verhält und „Frivolität“ wittert. Es ist derselbe Gegensatz, den meine Philosophie zu spüren bekommt — man haßt an mir und an Köselitzens Musik den hellen Himmel.
Ein Italiäner sagte kürzlich „gegen das, was wir Himmel cielo nennen, ist der deutsche Himmel una carricatura.“
Bravo! da steckt meine ganze Philosophie! —
Von Herzen grüßend und Dir sammt den Deinen das Beste wünschend
Dein Freund N.
Es geht in den nächsten Tagen fort, muthmaaßlich nach Nizza. Adresse jedenfalls: Nizza poste restante.
„Der Kampf um Gott“ Roman von H. Lou (Stuttgart, Auerbach) — Stein sprach davon. —
534. An Heinrich von Stein in Völkershausen
Sils-Maria, den 18 September 1884.
Lieber Herr Doctor,
hier ein letzter Gruß aus Sils-Maria, wo es sehr Herbst geworden ist: — sogar die Einsiedler fliegen davon.
Ihr Besuch gehört zu den drei guten Dingen, für welche ich diesem Zarathustra-Jahre von Grund aus dankbar bin.
Vielleicht sind Sie schlimmer dabei gefahren? Wer weiß, ob Sie nicht viel zu sehr den Philoctet auf seiner Insel gefunden haben? Und sogar Etwas von jenem Philoctet-Glauben: „ohne meine Pfeile wird kein Ilion erobert!“
In einem solchen Zusammentreffen, wie dem unsrigen liegt immer viel Folge, viel Verhängniß. Aber das glauben Sie mir gewiß: von nun an sind Sie einer der Wenigen, deren Loos im Guten und Schlimmen zu meinem Loose gehört.
Treulich
der
Ihre
Nietzsche.
NB. Für alle Fälle irgend eines Anliegens gebe ich Ihnen diese ewige Adresse:
Nizza, poste restante.
535. An Gottfried Keller in Zürich
Sils-Maria, Oberengadin20 Sept. 1884.
Hochverehrter Herr,
vom 25. September an werde ich meinen Herbst-Aufenthalt in Zürich nehmen (in der Pension Neptun, inneres Seefeld) Zu den Wünschen die ich mit diesem Aufenthalte verbinde, gehört — zu aller oberst — der Wunsch, von Ihnen die Erlaubniß zu einem Besuche zu erhalten (nebst einem Wink über Ort und Stunde, vielleicht in der Museums-Gesellschaft? oder wie es Ihnen gut und gelegen dünkt.)
Mein „Zarathustra“ ist hoffentlich in Ihren Händen? — Mit ehrerbietigem Gruße
Prof. Dr. Friedr Nietzsche
536. An Heinrich Köselitz in Annaberg
<Sils-Maria, 20. September 1884>
Eine Bitte an Sie, lieber Freund! — und machen Sie ein freundliches Gesicht dazu!
Ich habe meine Verbindung mit Kapellmeister Hegar in Zürich wieder angeknüpft und möchte gerne ihn zu einer Concert-Aufführung von „Scherz List und Rache“ überreden. Nun haben Sie freilich allen Grund, an meiner Überredungs-Kunst zu zweifeln — ich selber zweifle vielleicht noch mehr daran. Aber zuletzt handelt es sich um einen Versuch: erreiche ich Nichts, so haben wir wieder Das gelernt, was wir schon wußten — sonst aber wäre damit nichts verdorben, sondern alles „beim Alten“. —
Meine Adresse ist hierzu, vom 25. September an
Zürich, Pension Neptun
(ich bitte die Partitur „einschreiben“ zu lassen)
Wenn Sie zufällig den Klavier-Auszug von „Nacht, du holde“ besitzen (oder jemand Ihrer Angehörigen), bitte legen Sie ihn bei — ich sende ihn pünktlich wieder zurück, wenn ich Zürich verlasse.
Für den Winter bleibt es bei Nizza.
Über B<althasar> Grazian empfinde ich wie Sie: Europa hat nichts Feineres und Complicirteres (in der Moralisterei!) hervorgebracht. Gegen meinen „Zarathustra“ macht er immerhin den Eindruck von Rococo und sublimer Verschnörkelung — oder was denken Sie darüber?
— Der Besuch v. Stein’s hat Nachwirkungen, er scheint tief ergriffen sich nach allen Seiten hin darüber ausgesprochen zu haben. Die Erziehung in der Nähe Dühring’s und Wagner’s hat zum Mindesten ihn feinfühlig in Bezug auf das verborgene Pathos eines Einsam-Daherziehenden gemacht: mir selber war in seiner Nähe zu Muthe, wie jenem Philoktet auf seinem Eilande beim Besuch des Neoptolemos — ich meine, er hat auch Etwas von meinem Philoktet-Glauben errathen „ohne meinen Bogen wird kein Ilion erobert!“ —
Übrigens hat sich mir die Aufgabe des nächsten Jahrzehends wundervoll auseinander gelegt — obwohl ich schaudere und staune, wenn ich nach den Kräften frage, die einer solchen Aufgabe genügen könnten. Man muß abwarten und „die Schürze aufhalten“ wenn der Baum von irgend einem Winde geschüttelt wird — mehr weiß ich nicht.
Gestern rechnete ich aus, daß die entscheidenden Höhepunkte meines „Denkens und Dichtens“ („Geburt der Tragödie“ und Zarathustra) mit dem Maximum der magnetischen Sonnen-Einwirkung zusammenfallen, umgekehrt mein Entschluß zur Philologie (und Schopenhauer) (eine Art Selbst-Irrewerden) und insgleichen Menschliches Allzumenschliches (zugleich schlimmste Crisis meiner Gesundheit) mit einem Minimum. — Sehen Sie, wie der Einsiedler von Sils-Maria zum Astrologen wird?
Allerherzlichste Wünsche!
Ihr N.
537. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Sils Freitag. <20. September 1884>
Meine liebe Mutter,
zum Glück bin ich noch hier; meine Entscheidung in Betreff einer Zusammenkunft mit meiner Schwester wird in ihren Händen sein. In Rücksicht auf Deine Cholera-Besorgnisse habe ich nicht Lugano gewählt: was „die Teilsplatte“ betrifft, so ist sie zu nahe an der Eisenbahn, um für mich ein erträgliches Ruhequartier abzugeben. Im Oktober Bäder im Vierwaldstätter See zu nehmen ist wohl kaum im Ernst gemeint gewesen.
Also Zürich, Pension Neptun, ein gutes bekanntes Haus: ich habe bereits eine Notiz dahin abgehen lassen, an General Simon, der gerade dort ist (derselbe hat in Nizza mir in manchen praktischen Dingen geholfen, wo es mir selber schwer war, das Praktische zu finden — ein gutmüthiger, stiller, trockner und äußerst zuverlässiger alter Herr, über den vielleicht Dr. Ziller Dir Auskunft geben kann)
Für den Fall, daß meine Schwester mir eine besondere Gefälligkeit erweisen will, würde ich sie ersuchen, mir Etwas mitzubringen, nämlich
-
eins von meinen alten Nachthemden
-
ein Paar dünne weiße Strümpfe (von den alten) von wegen zu enger Stiefeln
-
ein Buch, das letzte, das Jacobi für mich eingebunden hat, daran erkenntlich, daß die Ränder nicht über den Schnitt hinausragen: heißt Arnobius, deutsch, altes gelbliches Papier darin. Ein Kirchenvater
4.) ein zweites Buch, nämlich der erste Band meines dreibändigen deutschen Montaigne (steht im Kabinett unter den guten Büchern, ein alter Schmöcker
Ich selber will am 24. Sept. früh hier abreisen und werde am 25. Vormittags in Zürich sein. Nach eben getroffener Verabredung werde ich wahrscheinlich von zwei Gelehrten bis dahin begleitet, von Prof. Leskien aus Leipzig und Dr. Brockhaus: sehr zu meiner Beruhigung, denn Alleinreisen ist nachgerade für mich eine nicht ungefährliche und mich unbeschreiblich aufregende Sache.
Die Augen immer mehr verdunkelt. —
Möge die Zusammenkunft einen guten Ausgang haben, und namentlich nicht noch neues Unheil aus ihr wachsen!
Bei dem Wort „höchst wichtig für mich“ kann ich mir gar nichts mehr denken.
Herzlich grüßend
Dein Sohn.
538. An Heinrich Köselitz in Annaberg
<Zürich, 30. September 1884>
Verzeihung, lieber Freund, für dies abgerissne Blättchen und noch abgerissnere Briefchen! Zunächst — zu Ihrer Beruhigung, die Partitur ist seit gestern in meinen Händen, — oder vielmehr, sie ist es bereits nicht mehr, denn ich brachte sie Nachmittags zu Hegar. Gäbe es Orchesterstimmen, so bekäme ich die Ouvertüre schon die nächsten Tage zu hören (denn Hegar macht mir hier den Herbst zum Fest, will mir die Arlésienne spielen lassen und was ich will, privatissime, in der Tonhalle und überdieß hat er Herrn Freund, den Schüler Liszts, den ich von früher her kenne, beredet, mir Einiges nach Herzenslust vorzuspielen. Oh der Jammer, daß es keine Klavierauszüge von der mir liebsten und tröstlichsten Oper giebt! Wie Ihre Melodien mir den ganzen Sommer hindurch um die Seele gelaufen sind!
Der Himmel ist nizzahaft schön und ein Tag wie der andre. Meine Schwester ist bei mir; angenehmste Art sich wohlzuthun, wenn man sich lange weh gethan hat. Gottfried Keller hat für heute mit mir eine Zusammenkunft verabredet. Ich habe den Kopf voll der ausgelassensten Lieder, die je durch den Kopf eines Lyrikers gelaufen sind. Zusammen mit Ihrer Partitur gab es einen Brief von Stein, der mir zu all den guten Dingen dieses Jahres als ein kostbares Geschenk, nämlich als ein neuer ächter Freund, geschenkt worden ist.
Kurz — seien wir voller Hoffnungen, oder um mich besser, mit Worten des alten G<ottfried> Keller auszudrücken:
„Trinkt, oh Augen, was die Wimper hält,
Von dem goldnen Überfluß der Welt! “
Ihr dankbarer Freund
N.
Bis Ende Oktober hier, Zürich Pension Neptun dann Nizza.
539. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Zürich, 4. Oktober 1884>
Meine liebe Mutter,
inzwischen wirst Du wohl ausreichend gehört haben, daß sich Deine Kinder wieder artig mit einander vertragen und in jedem Betracht guter Dinge sind. Wie lange dies Zusammensein noch dauern wird, läßt sich heute noch nicht sagen; meine Arbeiten, die ich vorhabe, bestimmen mich unter allen Umständen bald wieder zur Einsamkeit: und der Klumpfuß, den ich mit mir schleppe, ich meine 104 Kilo Bücher, wird mich nicht gar zu weit von hier weg fliegen lassen. —
So ist denn für dieses Jahr unser Wiedersehn eine Unmöglichkeit; ich wünsche von Herzen, daß es Dir nicht schwer fallen möge.
Die guten Absichten, welche Dein letzter Brief aussprach, mich etwas stattlicher gekleidet durch die Welt gehen zu machen, habe ich mit vielem Danke angenommen; in der That, ich bin ziemlich dürftig daran und durch viele Ortswechsel ein wenig allzu abgeschabt, gleich einem Bergschafe.
Die Gesundheit macht mir alle Augenblicke Noth: ein fremder Ort und manches Ungewohnte in Speise und Tages-Ordnung malträtirt mich immer. Mein Aussehn ist aber gut und nicht anders als im vorigen Jahre.
Mit herzlichem Danke Dein
F.
540. An Franz Overbeck in München
4 Oktober 1884 Zürich.
Lieber alter Freund,
ich bin seit einer Woche hier in Zürich (Pension Neptun) zum Zwecke einer Zusammenkunft mit meiner Schwester — und bis jetzt ist viel guter Sonnenschein in uns und über uns gewesen. Im ganzen Jahre, seitdem ich Nizza verlassen, ist es mir auch leiblich nicht so wohl gegangen, wie hier. Ich bleibe noch einige Zeit und ersuche Dich, das Geld (1000 frcs.) nicht nach Nizza, sondern hierher abzusenden (Pension Neptun, recommandirter Brief, wenn ich bitten darf)
Man muß hübsch Viel begraben, um hübsch Viel noch leben zu können — da man letzteres nun einmal muß.
Dein Freund Nietzsche
Herzlich Glück zur Rückkehr und zum Winter-Halbjahr wünschend. — Nizza-haftes Sonnen-Himmel-Wetter! (— Meine Schwester ist ein Pracht-Thierchen; nächstes Jahr werde ich sie wohl auf die bewußte „überseeische“ Manier für lange verlieren.
(— Schmeitzner will „mich“ für 20 000 Mark verkaufen, aber findet Niemanden, der zu „mir“ Muth genug hat. Dies Beides privatissime
541. An Heinrich Köselitz in Annaberg
Mittwoch,Zürich, Pension Neptun.<8. Oktober 1884>
Lieber Freund,
man verspricht mir, daß Ende nächster Woche die Orchesterstimmen der Löwen-Ouvertüre fertig abgeschrieben sind — und dann wird es, vor einem einzigen Zuhörer, nämlich vor mir, eine Aufführung derselben in der Tonhalle geben. Mehr — habe ich bis jetzt nicht erreicht. Vielleicht, daß ein Intimwerden des Dirigenten mit derselben uns einen Schritt weiter bringt. — Wie schwer und absurd „aller Anfang“ ist! — Seien wir guter Dinge!
Übrigens ist Hegar ein vorzüglicher Dirigent — die Art, wie er gestern seinem Orchester eine Beethoven’sche Ouvertüre in’s Gefühl und „Gewissen“ schob, hat mir ganz und gar imponirt. Es giebt zwischen uns eine vollkommene Ehrlichkeit. —
Er machte mir zu Liebe die Arlésienne; das Adagietto klingt ganz sublim.
Von Ihnen, als dem Urheber der Partitur, vermuthet er immer wieder, Sie müßten Kapellmeister beim Militär sein oder in einer kleinen Stadt, — Sie hätten so wenig Zutrauen zu den Geigen, und wollten Alles blasen machen. Natürlich schweige ich über alles Persönliche, die Stimmen sollen nicht einmal Ihren Pseudo-Namen tragen. —
Verfluchte Akustik der Tonhalle!
Ganz von Herzen grüßend
Ihr N.
So steht es „in den Sternen“ geschrieben, daß ich Ihr erster Hörer bin! — und nicht einmal Sie - - -?
542. An Franz Overbeck in Basel
Zürich, Pension Neptun <Mittwoch> <8. Oktober 1884>
Lieber Freund,
hoffentlich bist Du mit Deiner guten Frau wieder daheim, und auch im Besitz meines vor wenigen Tagen übersandten Briefchens.
Heute ersuche ich Dich, mir für eine Woche das Köselitzische Lied „Nacht Du holde“ zu überlassen — ich habe die Möglichkeit, es hier einmal mir zu Ohren zu bringen, und große Sehnsucht darnach. —
Von Herzen Dein N.
543. An Heinrich Köselitz in Annaberg
Zürich Pension Neptun 14. Oktober 1884Dienstag
Heute morgen, lieber Freund, hat unser Hegar mit seinem Orchester Ihre Ouvertüre studirt, um sie mir nächsten Sonnabend Morgens 1/2 11 Uhr zwei Mal hintereinander vorzuspielen (Tonhalle)
Den Nachmittag war ich mit ihm zusammen und ließ mir erzählen. Daß Sie doch dabei gewesen wären! Er sprach mit großer Sympathie und aufrichtigem Wohlwollen für — uns Beide. „Sehr viel Talent“ — und dergleichen, was sich von selber versteht. Aber — denn es giebt ein „Aber“ — er wurde nicht müde, das dringendste Bedürfniß auszudrücken, daß Sie ein Orchester in die Hände bekommen müßten (er findet im Punkt der Instrumentation fortwährend jenen Widerspruch zwischen der Feinheit der Absichten und dem „Irrthum der Mittel“, und demonstrirt es an Beispielen.) Er sprach von Ihrem „imaginären Orchester“; auch davon, daß Sie gewisse Farben-Effekte, die Ihnen zusagten, im Übermaaße gebrauchten und abbrauchten usw. usw. Es legte sich mir ein Alp auf die Brust: er meinte, Ihr Werk klinge unbedingt anders als Sie sich vorstellten, und Sie selber würden am meisten verwundert beim Zuhören sein.
Ich schicke diese Zeilen ab, mit dem nicht zu verbergenden Wunsche, Sie möchten am Sonnabend mit zuhören. Wenigstens fürchte ich die Verantwortlichkeit, allein dabei zu sitzen, mit meiner erbärmlichen Laienhaftigkeit und Liebe zu Ihnen. (Das Adjektiv „erbärmlich“ gehört nur zum ersten Worte)
In treuer Liebe zu Ihnen
FN.
— — die Sache scheint mir von der äußersten Wichtigkeit für Sie, für die deutsche Musik, für uns. Wenn Sie nicht an die Dresdener Aufführung glauben, so kommen Sie doch ja! — —
Schönsten Dank für den eben erhaltenen Brief! Muth! Hoffnung! Ich bleibe hier bis Ende Oktober.
544. An Franz Overbeck in Basel
<Zürich, 14. Oktober 1884>
Lieber Freund,
in aller Geschwindigkeit die Mittheilung, daß diesen Samstag, Morgens 1/2 11 Uhr in der Tonhalle die Ouvertüre zum „Löwen in Venedig“ zu hören ist. — — — — — —
Zugleich als Dankes-gruß beim Empfang Deiner Geburtstagswünsche.
Von Herzen
F.N.
545. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Zürich Pension Neptun den 17 Oct. 1884
Meine liebe gute Mutter
Deine Briefe und Deine Geschenke — Alles hat mir besonders wohl gethan: so daß ich dies Mal mit viel besserer Gesundheit in das neue Lebensjahr hinübergesegelt bin als all die letzten Jahre hindurch. Der ganze Züricher Aufenthalt ist bisher wohl gerathen, und mein Herabsteigen aus dem Engadin ohne alle üblen Folgen geblieben. Das ausgezeichnet helle Wetter kam mir zu Hülfe, vor allem aber die herzliche und aufrichtige Art unsres geschwisterlichen Zusammenseins. Ich denke, daß nun für die Zukunft zwischen mir und meiner Schwester der Himmel wieder hell gemacht ist. — Im Übrigen empfinden wir, Du und ich, in Bezug auf die Entscheidung des nächsten Jahres ganz gleich, so daß ich eigentlich Nichts dazu Dir zu sagen habe. Höchstens das, was Du aber auch schon als ausgemachte Wahrheit wissen wirst: jeder von uns Dreien hat für das, was er am liebsten möchte und thäte, zwar den besten Willen, aber zu wenig — Geld.
Deine Trauben sind viel schöner als die Züricher, die ich hier zu Tisch bekomme; und was den Honig angeht, so wird auch zukünftig eine Sendung davon zu den angenehmsten Weisen gehören, mich an die Heimat zu erinnern. Ein wenig Honig dieser Qualität nach Tisch scheint mir sogar gut zu thun, während ich gern schon lange auf die gewöhnlichen „Honigtöpfe“ der Schweiz verzichtet habe.
Donnerstag Mittag war das Kästchen in meinen Händen. —
Hemd und Strümpfe — alles höchst erwünscht und nöthig!
Bis Ende des Monates bin ich noch hier, dann wieder Nizza oder Umgebung von Nizza. Es gehört zu den wesentlichsten Errungenschaften des letzten Jahrs für mich, zu wissen welche Gegend Europa’s ganz eigentlich meine Gegend ist. Ich bin davon überzeugt und habe eben die Probe abgelegt, insofern ich der mehrfachen Versuchung, diesen Winter nach Rom zu gehn, widerstanden habe.
Mit dem allerherzlichsten
Danke
Dein
F.
546. An Heinrich Köselitz in Annaberg
1/2 12 Uhr Sonnabend<Zürich, 18. Oktober 1884>
Lieber Freund Gast,
eben komme ich aus der Tonhalle: Heil dieser guten Stunde und Ihnen, der sie mir geschenkt hat! So ist denn Ihre Musik zum ersten Male erklungen, und ich bin stolz darauf, daß dies durch mich und für mich geschehn ist. Mag diese Löwen-Ouvertüre ein Symbol Ihres Laufs durch die Welt sein — so kühn, männlich, witzig, wacker lief sie dahin, ganz und gar nach meinem Herzen, voll hellen Himmels und gewißlich auch — voller Zukunft.
H<egar> will dieser Tage mit der Partitur zu mir kommen; über ein paar Einzelheiten schreibe ich nach dieser Besprechung. — Er sagte, sichtlich warm für Sie geworden, auf dem Orchester-Podium zu mir, gleich nach dem Schlüsse „wenn Sie* noch Etwas zu hören wünschten, so möchten Sie nur nach Zürich kommen“. —
Leben Sie wohl, lieber Freund — freuen Sie sich mit mir, denn ich freue mich unbändig.
Ihren verehrten Eltern meine Empfehlungen und — aus vollem Herzen — meine Glückwünsche!
Treulich
Ihr
N.
547. An Elisabeth Nietzsche in Straßburg
<Zürich, 19. Oktober 1884>
Mein liebes Lama
schließlich muß ich, um Dich noch auf Deiner Wanderschaft zu erreichen, ein Briefchen nach Naumburg adressiren. — Es ist mir öfter zu Muthe gewesen, als ob ich Dir, bei unserm Zusammensein in Zürich, nicht ausreichend meine Liebe bezeugt hätte. Man verlernt Das, wenn man so allein lebt wie ich. — Inzwischen gieng es erträglich, nur Einen Tag war ich krank und zwar wieder allein aus klimatischen Gründen. — Ich bin, mit Hülfe der Bibliothek, jetzt arbeitsam; doch sage ich mir jeden Tag von Neuem, daß alles Dies nur Zwischenakt und Erholung ist: — wenn „der Geist über mich kommt“, muß ich hundert Mal einsamer und „unzerstreuter“ sein als ich hier sein kann (dann sind mir vielleicht die dummen Pensions-Heerdenthiere gar nicht so unzuträglich, ja vielleicht wohlthätiger als jede Art von näherer Menschheit) NB! —
Während wir zusammen zur Bahn fuhren, meldete Hegar, daß denselben Morgen die Ouvertüre geprobt werde. Dies ergab zur Folge, daß wir Beide darum kamen, denn ich kehrte erst Mittag in den Neptun zurück. Gestern fand eine zweimalige Vorführung dieser Ouvertüre statt, zu meiner freudigsten Genugthuung — sie klang prachtvoll (H<egar> hatte schon einige Tage vorher seinen ersten Eindruck zurückgenommen und als „Irrthum“ bezeichnet — er ist ersichtlich warm geworden, wie ich es vermuthete.) Gestern bezahlte ich die Noten-Abschriften — eine Sache von nicht mehr als — 21 frs. Komisch! Man kann sein Geld nicht besser anlegen. — Köselitz denkt, nach der letzten Karte, daran, nach Zürich überzusiedeln — ich soll bei Hegar anfragen. —
Am Tage Deiner Abreise gieng Frl. Müller durch resp. sie siedelte zu ihrem Studenten über, mit einem entliehenen Hut, Shawl und — meinen Noten! Sollte man’s glauben? Vier Tage war ich in „schwebender Pein“, endlich übte ich eine sonderbare Pression aus, indem ich Beschlag auf einen Brief legte — und erhielt meine Noten zurück. — Die alte Frau Müller erzählte mir gestern genug von der ganzen Geschichte, oder vielmehr viel zu viel: viel Unflätherei. —
Herzlichsten Dank für Deinen Brief zum Geburtstag; und wie viel hast Du mir dies Mal geschenkt! Alle Tage gar nichts Anderes als immer schenken! Es war ein recht wohl gerathner Herbst bisher. Meinen allerschönsten Dank!
Dein F.
548. An Heinrich Köselitz in Annaberg
Mittwoch Morgen. <Zürich, 22. Oktober 1884>
Lieber Freund Gast,
wenn die Dresdener Aufführung nicht drängt, so kommen Sie schnellstens hierher — schnellstens, weil H<egar> im Herbst immer etwas mehr Zeit hat als im Winter, und weil ich selber hier bald abreisen will. H<egar> hat mir gestern, als er die Partitur zurückbrachte und zwar bevor ich die Anfrage an ihn richtete, mit der Sie mich in Ihrer letzten Karte beauftragten) proponirt, Sie möchten doch alle Herbste hierher kommen — er wolle Ihnen gerne von jeder seiner Proben eine halbe Stunde einräumen, wo Sie das Orchester selber „in die Hand nehmen“ und Ihre Sache einstudiren und sich vorführen könnten. Diese Proposition erschien mir so artig, daß ich heute nur nochmals das Wörtchen „schnellstens“ unterstreichen möchte — weil, wie gesagt, die Arbeit Hegars von jetzt ab fortwährend anwächst, und er bald vielleicht keine Zeit mehr für uns übrig hat. — Natürlich war er mit Ihrem Wunsche ganz einverstanden; und wenn Sie den Winter hier zubringen, so giebt es mancherlei Musik zu hören, bei deren Einübung Sie nach Belieben zugegen sein können. Also! — (Der Pianist Herr Freund spielt mir öfter vor.)
Eine Besprechung der Ouvertüren-Partitur im Einzelnen bleibt bis auf Ihre Hierherkunft aufgespart.
Es versteht sich von selber, daß die in Dresden angeknüpfte Beziehung die wichtigere und entscheidende sein muß.
Ganz von Herzen
der Ihre
N.
549. An Elisabeth Nietzsche in Straßburg
<Zürich> Mittwoch. <22. Oktober 1884>
Gestern, mein liebes Lama, war ein schöner Tag, und Dein Brief kam mitten unter lauter guten Dingen in meine Hände. Das Wetter von früh an strahlend in Nizza-hafter Herrlichkeit. Um 9 Uhr gieng ich in die Tonhalle und erlabte mich an Beethoven und Bizet. Dann meldete mir der deutsche Besitzer vom Hôtel des Etrangers in der ehrerbietigsten Form seine Freude, daß ich daran dächte, für den Winter in sein Haus zu kommen und garantirte die selben Bedingungen, wie bisher in Nizza. Dann kam Hegar und brachte die Köselitzische Partitur: er stellte sich für jeden Herbst mit seinem Orchester zur Verfügung und bot aus freien Stücken an, Herrn Peter Gast von jeder seiner eignen Orchester-Proben eine halbe Stunde abzutreten, wo K<öselitz> also das Orchester selber „in die Hand nehmen“ und seine Sachen einstudiren könne. Nach diesem Vorschlage brachte ich die inzwischen eingetroffne Bitte K<öselitz>’s vor, hierher zu H<egar> zu kommen, um in der nächsten Nähe eines Orchesters zu leben — kurz, es paßte Alles gut zusammen, und ich meine das Schicksal K<öselitz>’s mit diesem Züricher Aufenthalte vorwärts gebracht zu haben. — Nachmittags machte ich einen langen Spaziergang mit meiner neuen Freundin Helene Druscowicz, welche einige Häuser weit von der Pension Neptun mit ihrer Mutter wohnt: sie hat sich von allen mir bekannt gewordenen Frauenzimmern bei weitem am ernstesten mit meinen Büchern abgegeben, und nicht umsonst. Sieh einmal zu, wie Dir ihre letzten Schriften gefallen („drei englische Dichterinnen“, darunter die Elliot, welche sie sehr verehrt) und ein Buch über Shelley. Jetzt übersetzt sie den englischen Dichter Swinburne. Ich meine, es ist ein edles und rechtschaffnes Geschöpf, welches meiner „Philosophie“ keinen Schaden thut. Dann lies doch die Novellen meiner Berliner Verehrerin Frl. Glogau: man rühmt sie sehr von wegen „psychologischer Feinheit“. Abends war ich im ersten Tonhallen-Concert, wozu mich H<egar> eingeladen hatte: und so verbrachte ich mit der „Arlésienne“ noch den Abend des guten Tags und legte mich schlafen. Heute Morgen kam ein herzlicher und äußerst taktvoller Brief meines alten Freundes Overbeck an, welcher im Wesentlichen seine volle Freude ausdrückt, daß mir „ein solches Stück treuer und ursprünglicher Anhänglichkeit, wie ich es bei Mutter und Schwester habe“, nicht verloren gegangen ist. — Da ich Deine Reise-Adressen nicht hatte, so habe ich einen Brief an Dich nach Naumburg geschickt. Treulich Dein
F.
Es lebe die Unabhängigkeit! — so denke ich täglich. Nichts mit Heiratherei!
Meine Grüße an alle Verwandten, welche mir wohlgesinnt geblieben sind.
550. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Zürich, 30. Oktober 1884>
Eben, meine liebe Mutter, wieder einmal vom Krankenlager aufgestanden. Nun schnell ein Wort des herzlichsten Dankes für die angenehme Wein- und Honig-Sendung — auch habe ich nunmehr drei schwarze Handschuh zu meiner Theebereitung; und die Gefahr, sich die Finger zu verbrennen, ist sehr damit verringert. — Es gab Vielerlei hier für mich zu thun, wovon ich im Einzelnen nicht erzählen kann. Die letzten Tage hatte ich Herrn Köselitz hier einzuführen — alles hat sich bisher gut in dieser Absicht angelassen; und zunächst ist dieser Musiker entschlossen, in Zürich zu bleiben, zum Mindesten für den Winter. —
Zufällig kam heraus, daß noch Jemand hier in der Nähe (ich meine in der Nähe meines Hauses) wohnt, nämlich Frau Banquier Köckert aus Genf: — großes Vergnügen, sich wiederzusehn! Bis zum 5 November bleibe ich hier. Dann Abreise nach der riviera. —
Es war eine recht gute Erholungs-Zeit für Deinen Sohn, aber ganz unmöglich wäre mir’s, so zu leben, wenn ich wieder „vom Geiste angefallen“ bin: der verlangt von mir: Einsamkeit. —
Meine Lieben, ich denke, Ihr sitzt hübsch bei einander und erzählt euch gute Dinge — auch von mir?
In herzlicher Liebe
Euer F.
(Donnerstag. Noch voller Kopfschmerz.)
551. An Franz Overbeck in Basel
<Zürich, gegen Ende Oktober 1884>Adresse: Mentone, France / post restante.
Lieber Freund Overbeck,
in den nächsten Tagen geht es fort, südwärts; mit dem Züricher Herbste, der ausnehmend schön gerathen ist, hat es nunmehr (wie es scheint —) sein Ende — es war gestern schauerlich trübe und drückend. Im Grunde bin ich herzlich zufrieden, hierher gekommen zu sein — endlich gab es wieder einmal ein Aufathmen von dem ungeheuren Drucke meiner Aufgabe, und folglich ein neues Kräfte-sammeln: so daß ich entschlossener als je dies Mal an den Winter herangehe. Ich hatte Viel hier zu thun und durchzusetzen, namentlich als ich begriff, daß es vor der Hand nothwendig sei, Herrn Peter Gast hier einzurichten, in der Nähe eines guten Orchesters und abseits von seinen Verwandten, die ihm den Muth nehmen. Mit Dresden ist es mißrathen, ich ärgere mich, daß ich nicht an K<öselitzen>s Stelle im Frühjahre hingereist bin. Die Stellung eines Künstlers, der, ein Kleinod in den Händen, wie ein Bettler sich herumdrücken muß, um zu bewirken, daß man’s annimmt, ist gar zu absurd. Es ist die Aufgabe seiner Freunde, ihm das zu ersparen. (Seine Ouvertüre klingt übrigens über Erwarten prachtvoll.) — Er wohnt artig und geräumig hierselbst im kleinen Sonnenhof (wo auch die treffliche Druscowicz mit ihrer Mutter lebt) und ißt zusammen zu seiner Erheiterung mit Studentinnen und dergleichen, darunter Frl. Willdenow, die mich den Sommer im Engadin besucht hat. Hegar äußerst entgegenkommend, ebenso Freund. Auch gegen Gottfried Keller fühle ich mich sehr verpflichtet. Frau Banquier Köckert aus Genf ist seit einigen Wochen hier und immer noch mir sehr zugethan.
Was Schmeitzner angeht, so lies, ich bitte Dich, den beiliegenden Brief, seine Antwort auf den von Dir gebilligten Brief. Ich — weiß nichts zu thun. —
Dr. Fuchs hat mir selber seine zwei Hefte zugeschickt — derartigen Ausbrüchen höherer Philologie halte ich gern das Ohr offen, doch bin ich, eben als alter Philologe, zehnmal skeptischer gegen das Riemannsche Problem als Fuchs und lache im Stillen, wie oft hier der Feuereifer des Künstlers F<uchs> mit dem Philologen Fuchs durchgeht. Das Verdienst wird die Feststellung einer unbewußten allgemeinen artistischen Blödsinnigkeit sein. Aber wo stünde es nicht ähnlich! Wer z. B. wäre jetzt im Stande, meinen Zarath<ustra> richtig zu „phrasiren.“!! —
Das Erquicklichste in diesem Herbste war mir der Eindruck meiner Schwester, sie hat sich die Erlebnisse dieser Jahre tüchtig hinter die Ohren und in’s Herz geschrieben und, was ich an jedem Menschen besonders ehre, ohne alle Rancünen.
So die alte ungeschmälerte Herzlichkeit wieder zu finden hatte ich nicht erwartet und vielleicht nicht einmal verdient. Dir und Deiner lieben Frau dankbar zugethan
Dein Freund N.
552. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Zürich, 4./5. November 1884>
Meine Lieben,
allerschönsten Dank für Eure Briefe! Den Freitag geht es fort, und zwar über Genua nach Mentone (— das soll viel stiller sein als Nizza und auch eine achtungswürdigere Menschheit beherbergen — ich wills versuchen!) Nun ist die Ferien-Zeit für mich vorbei, und ich denke, ich habe darin Kräfte neu gesammelt und gespart, um nun wieder an meine Aufgaben gehn zu dürfen. Nicht ohne Furcht und Schauder — aber es muß sein. — In Hinsicht auf die angedeutete Bestimmung des Winters will ich mit der Schmeitzner-Angelegenheit nichts zu thun haben. Andererseits liegt mir daran, daß meine Schriften so schnell wie möglich aus seinen Händen kommen; und insofern eine jetzt angekündigte Klage ihn zum Verkauf der Schriften drängt, so soll es mir recht sein, wenn unser Onkel sofort die nöthigen Schritte thut. Auf den inzwischen eingelaufenen Brief Sch<meitzner>s will ich nicht antworten, er hat gar nichts von dem gethan, was ich forderte und nicht einmal eine Abrechnung geschickt, sondern mich bis aufs neue Jahr vertröstet. — Ich möchte, daß man Schmeitznern andeutete, er solle beim Verkauf der Schriften — z. B. an den Berliner Verleger Oppenheim (den Verleger Karl Hillebrandt’s und Frl. Druscowicz) denken. Hillebrandt ist nun todt — der Einzige, der bisher Etwas für mein Bekanntwerden gethan hat! In dem Necrolog der Frankfurter Zt. wird es ihm zur Ehre angerechnet, daß er für mich eingetreten sei („Nietzsche, den man in Deutschland, weil er mit offenem Visir und mit unerschrockenem Muthe hervortrat, verketzert hat“). — Ich habe gar nichts von Schmeitzner’s Briefen, Abrechnungen usw. mehr in den Händen — schlimm! —
Köselitzen habe ich schönstens einquartirt (ins gleiche Haus, wo Helene Druscowicz mit ihrer Mutter wohnt) und auch überredet, seine Mittags-Mahlzeit zusammen mit Frl. Willdenow, Frl. Blum, Miss Currel und anderen weiblichen Bekannten einzunehmen — zu seinem Besten, denn er hat gar zu plebejische Sitten, und Niemand kann mir’s genug nachrechnen, was für Überwindung mich der Verkehr mit diesem schwerfälligen Körper und Geiste kostet. Das Klavierspiel Eugen d’Alberts und Freunds hat mich übrigens inzwischen so verwöhnt, daß ich meinen alten Freund Köselitz nicht mehr spielen hören kann! — Viele neue Menschen; man will mich durchaus mit dem Thiermaler Koller bekannt machen, ebenso mit Böcklin, der sich hier angekauft hat; auch eine Einladung auf eine artige Sommer-Villeggiatura gab es. — Der „Ceremonienmeister“ fehlt: — Frau Köckert scheint über denselben nachzudenken. Herrliches Wetter!
Treulich Euer
F.
(Hemd wird gezeichnet.)
Wetter unglaublich schön bisher! Adresse: Pension des Etrangers
Mentone (France)
553. An Franz Overbeck in Basel
<Zürich, 6. November 1884>
Mein lieber Freund,
ich vergaß in meinem letzten Schreibebrief Dich zu bitten, das Schmeitzner’sche Dokument an die Adresse meiner Mutter zu befördern. Inzwischen habe ich begriffen, daß ich meine Schriften so schnell als möglich von Schmeitzner erlösen muß, dh. daß er gezwungen werden muß, dieselben jetzt zu verkaufen. (Denn ich habe, kurz gesagt, noch bei Lebzeiten Jünger nöthig: und wenn meine bisherigen Bücher nicht als Angelruthen wirken, so haben sie „ihren Beruf verfehlt.“ Das Beste und Wesentliche läßt sich nur von Mensch zu Mensch mittheilen, es kann und soll nicht „public“ sein.)
Morgen Abend (also Freitag) Abreise nach Mentone. Meine Adresse ist vorläufig: Pension des Etrangers.
Aufenthalt hier wohlgerathen, wirkliche „Ferien,“ Hauptschubfach meiner Gedanken verschlossen, Vielerlei gelernt, Vielerlei Liebes und Herzliches erfahren — und voller Dankbarkeit, auch gegen Dich, mein alter lieber Overbeck!
Dein F N.
554. An Franz Overbeck in Basel
Mentone, pension des Etrangers <13./14. November 1884>
Mein erstes Wort von hier an Dich, geliebter Freund — denn der Zufall belehrt mich eben, daß der sechszehnte November ganz in die Nähe gerückt ist (Zualledem bekam ich eben den von Dir umadressirten Brief des zudringlichen, von mir immerfort grundsätzlich ignorirten Herrn Kürschner aus Stuttgart — und hatte Vergnügen, Deine Schrift zu erkennen) Sieh zu, lieber alter Freund, was sich mit mir noch fernerhin machen läßt; zugegeben, daß es immer lästiger wird, mit mir zu verkehren, so weiß ich doch, daß, bei dem Gleichgewichte Deiner Natur, auch unsre Freundschaft auf ihren zwei Beinen stehen bleiben wird. Es thut mir gründlich weh, daß Du mich jetzt jahrelang immer nur in Zuständen von Krankheit und tiefer Erschöpfung gesehn hast — ach, jeder Schritt auf der Bahn meiner Aufgabe macht sich fürchterlich bezahlt, und jetzt, wo ich mein Leben mehr verstehe, scheint es mir, daß all mein körperliches Elend der letzten 12 Jahre unter den Begriff solcher Abzahlungen fällt) Die unausgesetzte schmerzliche Entbehrung an allem Nothdürftigen, Tröstlichen, Stärkenden, lange zusammengepreßt durch meinen üblichen Gedulds-Stoicismus, bricht von Zeit zu Zeit heraus, und zwar wie mir scheint, immer am stärksten nach einer neuen „Schwangerschaft“ und „Niederkunft“. So bin ich dieses ganze Jahr vom März an innerlich krank gewesen, abgerechnet die hellen Wochen in Zürich, welche den Charakter von Ferien und Festen für mich hatten (Dank den guten heiteren Menschen um mich: ihr Einfluß wiegt den von reinem Himmel bei mir auf, ad exemplum Malvida bei römischem scirocco.
Die Herreise, gefährlich und unerträglich aufregend für einen Drei-Viertels-Blinden, mußte zunächst mit einem bitterbösen 3 tägigen Anfalle bezahlt werden. Auch heute bin ich noch nicht in Ordnung, aber es geht aufwärts. Mentone ist, gegen Nizza gehalten, meiner würdiger, aber es scheint, daß äußere Gründe mich nöthigen könnten, trotzdem dorthin überzusiedeln. Einstweilen die angegebene Adresse.
Dir und Deiner lieben Frau treulich ergeben
N.
555. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
Adresse: Mentone (France) <14./15. November 1884>Pension des Etrangers.
Meine Lieben
angelangt in Mentone und ungefähr über die Nachwirkungen der unerträglich-aufregenden Reise hinweg — will sagen: über einen dreitägigen ganz bösen Anfall. (Es gab zu viel: 4 Mal Billetwechseln, 3 Mal Umsteigen, 2 Mal Dogana peinlichster Art; und dieses steife Sitzen in übervollen Coupés ist für meinen Rücken eine unbeschreibliche Quälerei — ich verschwor wieder alles Reisen!!) Ich habe hier ein hübsches Arbeits-Zimmerchen, ähnlich wie in Zürich, mit voller Sonne. Aber das Haus ist fast leer, und die Ernährung einstweilen erbärmlich (kleine aufgewärmte Bissen von Fleisch, es bekommt mir gar nicht gut)
Wird es nicht besser, so gehe ich doch wieder nach Nizza, wo man mir genügend zu essen giebt, und alles hübsch mager gebraten, — während hier würtembergisch gekocht wird. —
Pardon! daß ich vom Essen rede. Sonst, landschaftlich, ist Mentone mir viel zuthunlicher als Nizza — stiller, großartiger, alles Gebirge und Grün mehr zur Hand, so daß man nicht erst wie in Nizza einen Anlauf von 40 Minuten zu machen hat, um in’s Freie zu kommen.
Aber die Fremden fehlen noch. Man baut eben in aller Gemächlichkeit den Musik-Pavillon. Was die Einwirkung von Meer und Himmel betrifft: so ist mir zu Muthe, als sei ich seit dem Verlassen von Nizza im Frühling immer krank gewesen, die Züricher Wochen abgerechnet, wo Himmel und „Mensch“ sich verschworen hatten, mir’s wohl sein zu lassen.
Ich bin hier so viel geduldiger und warte der Dinge, die da „kommen“ sollen (aus mir nämlich!)
Ich bin Lorentz noch 16 Mark schuldig, aber er kann noch warten. Schmeitzner soll und muß mich verkaufen, ich will aus dieser „Sackgasse“ heraus.
Euch herzlich zugethan
Euer F.
556. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Mentone, kurz nach dem 15. November 1884>
Mein liebes Lama,
Schmeitzner hat schon von mir einen Rüffel-Brief — auch nicht gar so grob, obschon darüber, was grob ist, unsere Ansicht zu differiren scheint. (Der arme Lanzky ist nun um seinen schönen Brief ganz gekommen und nach Griechenland abgereist.)
Ich — für meinen Theil — will durch die Klage vor Allem das erreichen, daß Sch<meitzner> meine Schriften so schnell als möglich verkauft: ich habe mich in Zürich (mit Hülfe des Lese-Museums) überzeugt, daß diese Schriften in seinem Winkel gleichsam verfaulen: seit langem ist mein Name in den sämmtlichen wissenschaftlichen Zeitschriften des In- und Auslandes nicht mehr genannt worden (dies privatissime unter uns!) Er sendet keine Redaktions-Exemplare, er macht keine Anzeigen usw.
Die Hauptsache ist nun: ein guter Verleger, womöglich Breitkopf und Härtel in Leipzig, oder etwas der Art. (Lipiner’s Prometheus ist bei Br<eitkopf> und Härtel erschienen; das sind reiche Leute.) Jener Oppenheim soll zuverlässig und thätig sein. Wenn Du einmal nach Leipzig reisen könntest, giebt es nicht die Möglichkeit, mit Herrn Härtel zu sprechen? Oder sollte ich auf den alten Engelmann zurückkommen, der seiner Zeit (als ich jung war!) sich mir als Verleger angeboten hat? Vielleicht lebt er nicht mehr; dann aber der Sohn. (Das gute Buch von W. Rolph „biologische Probleme“ ist da erschienen, Leipzig, Wilhelm Engelmann.) Ich selber habe Schmeitznern die 3 Verleger genannt. — Nämlich: wenn Alles gut geht, habe ich im Januar einen Verleger und Drucker für den 4ten Zarathustra nöthig. Bis dahin muß also der Verkauf gemacht sein, denn ich bringe keinen Verleger dazu, den 4ten Theil zu drucken, wenn nicht die 3 ersten in seinen Händen sind. (Von diesem 4ten Theile ist kluger Weise bei allen Unterhandlungen über Verkauf usw. zu schweigen, ebenso von dem nunmehr unvermeidlichen fünften und sechsten Theile (es hilft nichts, ich muß meinem Sohne Zarathustra erst zu seinem schönen Tode verhelfen, er läßt mir sonst keine Ruhe.)
Schreibt, meine Lieben, schöne erheiternde Dinge, daß mir Alles wohlgerathe.
Mentone ist etwas Herrliches, gegen Nizza gerechnet. Schon habe ich 8 Spaziergänge entdeckt. Jetzt darf niemand Bekanntes in meine Nähe kommen: ich bedarf dieser absoluten Stille. Ich esse allein.
In herzlicher Liebe Dein und Euer
F.
Sende, mein liebes Lama, das „Material“ (namentlich die letzte Zins-Berechnung) an den guten Onkel! (Köselitz meinte einmal, wenn ich mit Schmeitznern Ernst machte, so fürchte er, ich würde seinerseits eine unerwartete Gemeinheit zu erfahren bekommen — —)
Ich habe an Onkel D<aechsel> sofort geschrieben.
Und kommt denn Dr. F<örster> nach Deutschland? und wann? —
557. An Heinrich Köselitz in Zürich
<Mentone, d. 22. November 1884Pension des Etrangers.)
Hier, mein lieber Freund Gast, ist Etwas, das Ihnen gehören soll, wenn es jenen großen erhaben-ausgelassenen Orchester-Tanz, der in Ihnen schlummert, zum Aufwachen bringt — einen Tanz für großes Orchester, das gut brüllen und brausen kann! Sie können das Lied als Vorrede (oder wie man sonst sagte, als „Programm“); gebrauchen — nämlich für den Fall einer Veröffentlichung Ihrer Musik.
An den Mistral.
Ein Tanzlied.
Mistral-Wind, du Wolken-Jäger,
Trübsal-Mörder, Himmels-Feger,
Brausender, wie lieb’ ich dich!
Sind wir Zwei nicht Eines Schooßes
Erstlingsgabe, Eines Looses
Vorbestimmte ewiglich?
Hier auf glatten Felsenwegen
Lauf’ ich tanzend dir entgegen,
Tanzend, wie du pfeifst und singst:
Der du ohne Schiff und Ruder
Als der Freiheit freister Bruder
Ueber wilde Meere springst.
Kaum erwacht, hört’ ich dein Rufen,
Stürmte zu den Felsenstufen,
Hin zur gelben Wand am Meer —
Heil! Da kamst du schon gleich hellen
Diamant’nen Stromesschnellen
Sieghaft von den Bergen her!
Auf den eb’nen Himmels-Tennen
Sah ich deine Rosse rennen,
Sah den Wagen, der dich trägt,
Sah die Hand dir selber zücken,
Wenn sie auf der Rosse Rücken
Blitzesgleich die Geisel schlägt —
Sah dich aus dem Wagen springen,
Wogen peitschen, Meere zwingen,
Sah dich wie zum Pfeil verkürzt
Rückwärts mit der Ferse stoßen,
Daß dein Wagen in die Rosen
Erster Morgenröthen stürzt.
Tanze nun auf tausend Rücken,
Wellen-Rücken, Wellen-Tücken —
Heil, wer neue Kunst schafft!
Tanzen wir in tausend Weisen,
Frei — sei unsre Kunst geheißen,
Fröhlich — unsre Wissenschaft!
Raffen wir von jeder Blume
Eine Blüthe uns zum Ruhme
Und zwei Blätter noch zum Kranz!
Tanzen wir gleich Troubadouren
Zwischen Heiligen und Huren,
Zwischen Gott und Welt den Tanz!
Wer nicht tanzen kann mit Winden,
Wer sich wickeln muß mit Binden,
Angebunden, Krüppel-Greis,
Wer da gleicht den Heuchel-Hänsen,
Ehren-Tölpeln, Tugend-Gänsen:
Fort aus unserm Paradeis!
Wirbeln wir den Staub der Straßen
Allen Kranken in die Nasen,
Scheuchen wir die Kranken-Brut!
Lösen wir die ganze Küste
Von dem Odem dürrer Brüste,
Von den Augen ohne Muth!
Jagen wir die Himmels-Trüber,
Welten-Schwärzer, Wolkenschieber,
Hellen wir das Himmelreich!
Brausen wir — — oh aller freien
Geister Geist, mit dir zu Zweien
Braust mein Glück dem Sturme gleich!
— Und daß ewig das Gedächtniß
Solchen Glücks, nimm sein Vermächtniß,
Nimm den Kranz hier mit hinauf!
Wirf ihn höher, ferner, weiter,
Stürm’ empor die Himmelsleiter,
Häng’ ihn — an den Sternen auf!
558. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Fragment).
<Mentone, kurz vor dem 28. November 1884>
[ + + +] Zugleich schrieb Frau Dr. Müller die Inhaberin der „Schweizer Pension“ in Ajaccio, an mich, meine ihr gemachten Vorschläge acceptirend. Zugleich noch ein langer Brief von Frl. Resa aus Paris, welche, wie ich denke, mich in Corsica besuchen will.
Trotzalledem — ist Euer Prinz so caput, daß er sich noch nicht zu dieser Reise (12 Stunden Nachtfahrt) entschließen kann.
Aber ich meine, diese absonderliche Gelegenheit für Corsica darf ich nicht schlüpfen lassen. Zunächst will ich nach Nizza und experimentiren, ob es wieder so heilsam wirkt. Bin ich erst wieder hergestellt, dann wollen wir zusehn.
Es muß heitere Menschen um mich geben. Schade, daß ich nicht nach Paris gegangen bin. —
Habt mich lieb und seid guter Dinge. (Mein Brief über Schmeitznersche Angelegenheiten wird in Euren Händen sein?)
Euer Fritz.
Adresse: Nizza (France) Pension de Genève / petite rue St. Etien[e]ne
559. An Paul Lanzky in Ajaccio
<Mentone, 26. November 1884>
Mein lieber Herr Lanzky,
Malheur! Sie sind ein paar Tage zu früh abgereist — aber daß Sie nach Nizza gekommen sind, gefällt mir sehr, ich könnte meine Dankbarkeit dafür unter Umständen soweit treiben, jetzt nach Corsica zu kommen. Geben Sie mir, wenn möglich sogleich, ein Paar Einzelheiten über das „Wie und Wo“ in Ajaccio — hierher adressiert, Mentone pension des Etrangers.
Ich befinde mich gerade nicht gut, tapferes Spazierengehen und Pläne-Machen für die Menschen-Zukunft soll mich darüber hinwegbringen. Einige Anfälle von Ungeduld und Grobheit abgerechnet.
Nochmals: es ist mir herzlich angenehm, von Ihnen wieder gehört zu haben.
Treulich
Ihr
Dr. Friedrich Nietzsche
Prof.
NB. Kommen Sie doch, versuchsweise, Sonntag den 30 Nov. morgens an den Hafen: — vielleicht bin ich schon da.
560. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Mentone, 28. November 1884>
Meine Lieben, seit meiner letzten Karte bis jetzt heftiger Anfall. Heute erschöpft. — Corsica-Angelegenheit erledigt: — Herr Lanzky wird von dort zurückkehren und den Winter mit mir in Nizza, in der gleichen Pension, zubringen. (Resultat von Briefen und Telegrammen.) Ich will und muß an Nizza festhalten, zum Zweck meiner zukünftigen „Colonie“, welche mir jetzt möglicher erscheint (ich meine: sympathische Menschen, vor denen ich meine Philosophie doziren kann) So allein, wie hier, oder im Engadin, bin ich beständig krank. — Zwischen N<izza> und Mentone handelt es sich um eine gewisse Luft-Feuchtigkeitsdifferenz; ich bin ein feines Thier. Also die alte Adresse (bitte auch für Onkel Bernhard) Pension de Genève.
Euer F.
561. An Resa von Schirnhofer in Paris
<Mentone, Ende November 1884>(Adresse: Nice, France pension de Genève)
Mein liebes Fräulein Resa,
es stand inzwischen, seit meiner Abreise von Zürich, erbärmlich mit mir; ein versuchter Zwischen-Aufenthalt in Mentone ist mir ganz und gar mißrathen — ich vermisse hier die anregende Gewalt des Nizzaer Klima’s und verstehe nicht recht, warum sie hier fehlt. Die Landschaft ist ersten Ranges — feine und kühne Linien, wie vom Maler ausgedacht. Auch ist es still, viel achtbarer als in Nizza — und trotzalledem, es geht nicht!
Denken Sie: inzwischen hat Herr Lanzky in der dortigen Pension de Genève auf mich gewartet — ich hörte es zwei Tage zu spät. Dann ist er nach Ajaccio abgereist, einen rührenden Brief an mich zurück lassend.
Ah diese dummen Augen! — Nun darf ich schon nicht mehr schreiben! Es steht jetzt schlimmer damit als die letzten Jahre. Ich habe zu viel diesen Sommer gearbeitet.
Lob, Ehr’ und Preis für Alles, was Sie über Ihre Pariser Menschen- und Studien-Einrichtung melden! Auch daß Ihnen alles „Monodische“ so gut gefällt! Es sind feinere, höhere Menschen: da soll es wohl schöne und ausgesuchte Kinder abgeben! —
Und Malvida krank? Wie gerne wäre ich bei ihr in Versailles!
Machen Sie um meinetwillen, wenn ich bitten darf, die Bekanntschaft von Saint-Germain-en-Laye: mein Zukunfts-Ort für stilles Arbeiten und Herumstreifen durch Wälder.
Und St. Cloud? —
Sie wissen, im Grunde bin ich den Franzosen (nicht gerade den Parisern!) „guter“ als den Deutschen. Namentlich jetzt!
Geht die Welt nicht schief und schiefer?
Alle Christen treiben Schacher,
Die Franzosen werden tiefer, —
Und die Deutschen — täglich flacher.
Herzlich zugethan Ihr
N.
562. An Heinrich von Stein in Berlin
<Mentone, Ende November 1884>
Einsiedlers Sehnsucht.
Oh Lebens Mittag! Feierliche Zeit!
Oh Sommer-Garten!
Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten!
Der Freunde harr’ ich, Tag und Nacht bereit:
Wo bleibt ihr Freunde? Kommt! S’ ist Zeit! S’ ist Zeit!
Im Höchsten ward für euch mein Tisch gedeckt:
Wer wohnt den Sternen
So nahe, wer des Lichtes Abgrunds-Fernen?
Mein Reich — hier oben hab ich’s mir entdeckt —
Und all dies Mein — ward’s nicht für euch entdeckt?
Nun liebt und lockt euch selbst des Gletschers Grau
Mit jungen Rosen,
Euch sucht der Bach, sehnsüchtig drängen, stoßen
Sich Wind und Wolke höher heut’ in’s Blau
Nach euch zu spähn aus fernster Vogelschau - - -
Da seid ihr Freunde! — Weh, doch ich bin’s nicht,
Zu dem ihr wolltet?
Ihr zögert, staunt — ach, daß ihr lieber grolltet!
Ich bin’s nicht mehr? Vertauscht Hand, Schritt, Gesicht?
Und was ich bin, — euch Freunden bin ich’s — nicht?
Ein Andrer ward ich und mir selber fremd?
Mir selbst entsprungen?
Ein Ringer, der zu oft sich selbst bezwungen,
Zu oft sich gegen eigne Kraft gestemmt,
Durch eignen Sieg verwundet und gehemmt? —
Ich suchte, wo der Wind am schärfsten weht,
Ich lernte wohnen,
Wo Niemand wohnt, in öden Eisbär-Zonen,
Verlernte Mensch und Gott, Fluch und Gebet,
Ward zum Gespenst, das über Gletscher geht.
Ein schlimmer Jäger ward ich: seht wie steil
Gespannt mein Bogen!
Der Stärkste war’s, der solchen Zug gezogen —
Doch wehe nun! Ein Kind kann jetzt den Pfeil
Drauf legen: fort von hier! Zu eurem Heil! —
Ihr alten Freunde! Seht nun blickt ihr bleich,
Voll Lieb’ und Grausen!
Nein, geht! Zürnt nicht! Hier — könntet ihr nicht hausen!
Hier zwischen fernstem Eis- und Felsenreich —
Da muß man Jäger sein und gemsengleich.
Ihr wendet euch? — — Oh Herz, du trugst genung!
Stark blieb dein Hoffen!
Halt neuen Freunden deine Thüre offen,
Die alten laß! Laß die Erinnerung!
Warst einst du jung, jetzt — bist du besser jung!
Nicht Freunde mehr — das sind, wie nenn’ ich’s doch?
Nur Freund-Gespenster!
Das klopft mir wohl noch Nachts an Herz und Fenster,
Das sieht mich an und spricht „wir warens doch?“
— Oh welkes Wort, das einst wie Rosen roch!
Und was uns knüpfte, junger Wünsche Band, —
Wer liest die Zeichen,
Die Liebe einst hineinschrieb, noch, die bleichen?
Dem Pergament vergleich ich’s, das die Hand
Zu fassen scheut — ihm gleich verbräunt, verbrannt! —
Oh Jugend-Sehnen, das sich mißverstand!
Die ich ersehnte,
Die ich mir selbst verwandt-verwandelt wähnte —
Daß alt sie wurden, hat sie weggebannt:
Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt!
Oh Lebens Mittag! Zweite Jugend-Zeit!
Oh Sommer-Garten!
Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten!
Der Freunde harr’ ich, Tag und Nacht bereit: —
Der neuen Freunde! Kommt! S’ ist Zeit! S’ ist Zeit!
— — — — Dies ist für Sie, mein werther Freund, zur Erinnerung an Sils-Maria und zum Danke für Ihren Brief, einen solchen Brief!
F. N.
(Nizza, pension de Genève, petite rue St. Etienne.)
563. An Julius Rodenberg in Berlin (Entwurf)
<Mentone/Nizza, November/Dezember 1884>
Zuletzt weiß ich nicht einmal, ob Ihre „Rundschau“ jemals schon Gedichte veröffentlicht hat. Der gegenwärtige Fall aber — daß Friedrich Nietzsche selber einer Zeitschrift das Anerbieten mache, Etwas von mir zu drucken — geht so sehr wider alle meine Regel, daß auch Sie hier einmal eine Ausnahme machen können — eine Ausnahme wie ich unbedingt voraussetze, zu Gunsten und zum Vortheile Ihrer Zeitschrift. Geben Sie mir, hochgeehrter Herr, ein gefälliges Ja! zur Antwort auf diese Zeilen, zugleich mit Ihrem Vorschlage in Betreff des Honorars. Meine Adresse ist zunächst: — — —
564. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
Donnerstag <4./11. Dezember1884> Pension de Genèvepetite rue St. Etienne. Nizza.
Meine Lieben,
schönsten Dank, alles ist jetzt in meinen Händen. Eure Briefe klingen winterlich-gemüthlich. Für mich — muß es bei Nizza bleiben: die feine Probe mit etwas so Benachbartem und Ähnlichen (in manchen Beziehungen sogar Wohlthätigeren) wie Mentone, welche durchaus zu Gunsten von Nizza ausgeschlagen ist, ist sehr lehrreich; ebenso ist Ajaccio ganz aus dem Felde geschlagen, seit ich durch Herrn Lansky darüber so unterrichtet bin als ob ich dort gewesen wäre. Nun ist Vieles oder Alles hier für mich noch zu erfinden — und ich hoffe, daß ich zum letzten Male mich stumm und demüthig in eine solche Pensions-Unwürdigkeit hineingesteckt habe.
Herr L<anzky> welcher 4 Wochen hier auf „mein Kommen und Verzeihen“ gewartet hatte und schließlich nach Ajaccio abgereist war, ist sofort zurückgekehrt, als ich ihm telegraphirte: „Venez pour Nice. Votre ami N.“ Er telegraphirte zurück: „Je serai a Nice mercredi. Votre bienheureux Lanzky“. — Er hat einen Begriff davon, wer ich bin. Im Ganzen aber, um mich französisch auszudrücken: il m’ôte la solitude, sans me donner la compagnie. — So wird es denn diesen Winter nichts mit dem 4. Zarathustra werden. — Er war mehrere Jahre Redakteur der rivista Europea und kennt diese Welt der Litteraten und Buchhändler. — Ich brauche, für mein späteres Leben hierselbst 1) eine unabhängige Wohnung 2) eine Köchin 3) meinen Musiker Köselitz (mit 5 Stunden wöchentlich und einem kleinen Zuschuß von seinem Vater kann er hier leben, er hat mir dies zugestanden: die Stunden muß ihm meine alte gute Mansuroff bei ihrer hiesigen russischen Gesellschaft verschaffen) Ich könnte noch einige 4) und 5) hinzufügen, bemerke aber ausdrücklich, daß darunter ganz und gar nicht eine „Ehegattin“ eingerechnet ist.
K<öselitz> wird am 7. Dez. seine Löwen-Ouvertüre in einem Tonhallen-Concert selber dirigiren. — Unter seiner Tischgesellschaft ist das Fräulein von Salis, zu seinem großen Mißbehagen.
Dein letzter Brief, mein liebes Lama, enthielt einen Irrthum, den ich, auch zur Mittheilung an Onkel Bernhard, hiermit gründlich beseitigen möchte. Also: Herr Schm<eitzner> kann, wenn er will, die von den vereinbarten 1000 noch vorhandenen Exemplare meiner Schriften an irgend einen Buchhändler verkaufen, er kann aber nicht das Verlagsrecht dieser Schriften verkaufen, weil er es nicht besitzt! Das Recht, meine Schriften zu verlegen, also neue Auflagen zu veranstalten, habe ich ganz allein zu vergeben: und zwar bis auf 30 Jahre nach meinem Tode hinaus. (Es ist dies, unter Umständen, etwas, das mich vermögend machen kann) (Dies ist auch das Urtheil des Herrn Lansky)
Also, liebes Lama, es ist eine große Dummheit, daß ich jetzt nicht nach Leipzig kann. Bei reiflicher Überlegung finde ich es nicht rathsam, daß Du an meiner Stelle mit Leipziger Verlegern redest: auch mit Heinze sprich nicht davon (das ist ein unschlüssiger und ängstlicher Charakter, nicht nur nach meiner Ansicht; überdieß hat er nicht den entferntesten Begriff von meiner Bedeutung, ich meine: er hat keinen „Glauben an mich“ und ist geistig zu gering! Dies unter uns; Du weißt ja, daß ich ihn persönlich gern habe)
Die Summe 20 000 M. ist eine alberne Schwindelei des Schmeitzner. Gesetzt es giebt von den ursprünglich hergestellten 13 000 Exemplaren meiner Schriften (es sind 13, jedes ist in 1000 E. gedruckt) noch die Hälfte, was wohl die ungefähre Wahrheit sein wird, also c. 7000, so würde der unverschämte Schwindler dann immer noch 3 Mark ungefähr für jedes Exemplar haben wollen!! — während unter den 13 Büchern 7 sind, deren Buchhändler-Preis 3 Mark oder weniger beträgt!! (die 4 Unzeitgemäßen und die 3 Zarathustra’s) Wenn Beschlag auf etwas gelegt werden muß, gut, dann auf meine Bücher: die vorhandenen Exemplare werden ungefähr den Werth von 5—7000 Mark repräsentiren; ich meine, für diese Summe gelänge es mir etwa, sie an einen Verleger zu verkaufen, falls sie mir, bei Zahlungs-Unfähigkeit Schmeitzner’s, verbleiben sollten. Dies Verkaufen würde ich persönlich abzumachen haben: — schlimmsten Falls müßte ich deshalb nächstes Jahr nach Leipzig kommen. —
Inzwischen aber hoffe ich, daß Schm<eitzner> mir dies erspart und seinerseits einen Käufer findet. — Seid guter Dinge, meine Lieben! So lange diese Geschichte schwebt, ist alles geistige Schaffen unmöglich. Euer
F.
Schm<eitzner> hatte meine Adresse nicht und that deshalb ganz recht, seinen letzten Brief nach Naumburg zu adressiren. — Ich schrieb im letzten Briefe an Euch, daß ich selber ihm brieflich schon den „Wink“ gegeben habe.
565. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
Nice (France) 21 Dez. 1884.
Meine Lieben,
hier ein Weihnachts-Briefchen! Es ist jammervoll, daß wir nicht hübsch um einen Weihnachts-Baum zusammen stehn — mit Senden von Geschenken geht es nicht, bei solcher Entfernung. Also etwas „Sammt zu einem Jäckchen“ soll meiner lieben Mutter in meinem Namen präsentirt werden; und meinem lieben Lama auch Etwas, schlechterdings, etwas Hübsches, sehr — Hübsches: so verlange ichs hiermit! — Und seien wir alle guter Dinge!
Gestern war ich krank, Abends kam der Brief, der mich besonders dadurch erbaute, daß er nichts von der dummen Schmeitznerei enthielt. Für derartige „Schweigsamkeiten“ habe ich viel Verständniß und Dankbarkeit; man kommt über viele Dinge gar nicht anders weg als daß man nicht mehr daran rührt. Es versteht sich, daß, wenn erst ein definitives Ergebniss vorliegt, ich auch davon wissen will. —
Augenleiden — das ist die nicht verschweigbare Thatsache dieses Winters. Es ist kein Zweifel, daß mein Zimmer im Engadin (ohne Licht, gegen die Felswand hin, Ein kleines Fenster —) die Ursache ist.
Im Übrigen bewährt sich Nizza, im seltsamen Contrast zu Mentone. Ich habe die trockensten Climata nöthig, um mich wohl zu fühlen und geistig hell und heiter zu sein. Die außerordentliche Luft-Trockenheit ist es, was Nizza an dieser ganzen Küste, und was das Engadin wieder in der ganzen Schweiz auszeichnet. Damit hängt wieder die Menge Helligkeit und Reinheit des Himmels zusammen.
In der Pension geht es, Dank meiner „Nachsicht“ und „Bescheidenheit“ („Leutseligkeit“ ist das Richtigere.) General Simon ist auch wieder da. —
Jeden Morgen wird etwas eingeheizt. Der Magen hat sich wieder verbessert, die Küche ist sehr nach seinem Bedürfnisse eingerichtet.
Lanzky ist mir nicht lustig genug. Aber er giebt sich große Mühe um mich und hält es aus, daß ich ohne Grobheit es mitunter nicht aushalte. —
Nun aber sagen die Augen: „Genug!“
Euch mit Liebe grüßend und umarmend
Euer
Prinz Friedrich.
Ich bitte, Lanzky’s wegen, um Rohde’s Broschüre über die Geburt der Tragödie (braun Leder gebunden), dann den Aufsatz über Homer, endlich ein gebundenes Schreibheft, röthlich-violett, Quartformat, vollgeschrieben, dick — ich habe es das letzte Mal vergessen, einzupacken. Damals war es in der Stube an der Treppe, lag in einem Korbe? zwischen andern Büchern und grauen Schreibbüchern. Auf der letzten Seite steht, glaube ich, „böse Weisheit“ oder Etwas Ähnliches. Viele Sentenzen.
Ich sende einen Aufsatz Lanzky’s über mich, nicht weil ich ihn zu loben hätte, sondern weil es der erste größere Essay über mich ist. Daß er in einem ungarischen Winkelblatt gedruckt ist, gehört unter die Rubrik der Dummheit und Ungeschicklichkeit meines Herrn Verlegers. —
F.N.
Und mag das neue Jahr alles Gute und Erwünschte bringen, eingerechnet den Erwünschten!
Von Herzen
Euer F.
566. An Franz Overbeck in Basel
Nice <France> Pension de Genève petite rue St. Etienne22 Dez. 1884.
Mein lieber Freund
Dein letzter Brief, ein schöner Klang aus Deinem Geburtstags-Gefühle heraus, that meinem Herzen so wohl — gerne hätte ich gleich noch einmal geschrieben! Aber die Thatsache dieses Winters heißt leider Augenleiden — und folglich äußerste Beschränkung alles Schreibens und Lesens. Über die Ursache dieses Leidens bin ich außer Zweifel: mein Zimmer im Engadin hat kein Licht (einer schwarzen Felswand ganz nahe, Ein einziges kleines Fenster — das Zimmer darf nicht wieder von mir bewohnt werden! Vielleicht habe ich auch im Sommer zu viel schlecht gedruckte Bücher gelesen (deutsche Bücher über Metaphysik!) — — Der Versuch mit Mentone mißrieth, aber das Mißrathen war mir sehr lehrreich. Nizza übt genau wie im vorigen Winter einen überraschend-schnell-wohlthätigen Einfluß — und ich begreife nunmehr, daß es die Lufttrockenheit ist, welche mich Nizza und Oberengadin lieben läßt: ich meine, der lufttrockenste Ort der Riviera und der Schweiz, also Nizza und Oberengadin thun meinem Kopfe am wohlsten. Daß die genannten Gegenden auch eine große Menge heller reiner Tage aufweisen, hängt indirekt mit der erwähnten großen Lufttrockenheit zusammen. Nizza 60 mm, Mentone aber 70 mm im Durchschnitt — Es geht besser, die Anfälle sind hier viel seltener.
An sich ist mir die Stadt N<izza> gräßlich, ich verhalte mich defensiv und wie als ob sie nicht da wäre: mir liegt an der Luft und dem Himmel von N<izza>
Albert Köchlins sind wieder artig gegen mich, auch der General Simon ist sich gleich geblieben. Sodann wohnt Herr Paul Lanzky in meiner Pension, ein großer Verehrer von mir: ehemals Redakteur der rivista Europea, in summa also ein Litterat. Als er mir aber gestern einen langen Essay über mich (gedruckt in einem ungarischen Blatt!) zu lesen gab, blieb mir nichts übrig als zu thun, wie voriges Jahr mit Herrn Dr. Paneth, ebenfalls einem großen Bewunderer und Anbeter: nämlich ihn zu verpflichten, nicht über mich zu schreiben. Ich habe ganz und gar keine Lust, eine neue Art von Nohl, Pohl und „Kohl“ um mich aufwachsen zu lassen — und ziehe meine absolute Verborgenheit tausend Mal dem Zusammensein mit mittelmäßigen Schwarmgeistern vor. —
Hast Du Stein’s „Helden und Welt“ gelesen? — Bitte, thu’s.
Ich lasse mir einen größeren Aufsatz Emerson’s, der einige Klarheit über seine eigene Entwicklung giebt, in’s Deutsche übersetzen (schriftlich); beliebt es, so steht er Dir und Deiner lieben Frau zu Gebote. Ich weiß nicht, wie viel ich darum gäbe, wenn ich nachträglich bewirken könnte, daß eine solche herrliche große Natur, reich an Seele und Geist, eine strenge Zucht, eine wirkliche wissenschaftliche Cultur durchmachte. So wie es steht, ist uns in Emerson ein Philosoph verloren gegangen!
Dir und Deiner lieben Frau das Beste zum Übergange in’s neue Jahr wünschend Dein
N.
Willst Du mir 500 frs. (französisch Papier) in der alten Weise hierher senden? —
567. Vermutlich an Hermann Levi in München (Entwurf)
<Mentone/Nizza, Herbst 1884/Ende 1884>
L<ieber> H<err> L<evi>. Wer weiß, ob Sie sich meiner noch erinnern. Denn ich bin ein Einsiedler, und wenn ich selber die halbe Welt vergessen habe, so wird billigerweise wohl Drei Viertel Welt (oder mehr) mich vergessen haben, — — —