1888, Briefe 969–1231a
1044. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Sils-Maria, den 10. Juni 1888
Meine liebe Mutter,
Dein Brief und die schöne Sendung folgten sich in sehr kurzer Zeitdifferenz: als der erste kam, lag ich noch krank zu Bett, bei der Kiste aber war ich schon auf dem Wege zur Besserung. Es gieng nämlich wieder schlecht mit der Reise. Am ersten Abend schon kam ich krank an und hatte in Chiavenna eine miserable Nacht. Dort am nächsten Tage zu bleiben widerrieth die Schwüle und unerträgliche Luft dieses Sticklochs. Aber die lange Postfahrt nach Sils that mir nicht gut; und so mußte ich denn die ersten 24 Stunden wieder, wie leider fast jedes Mal, mit heftigem Erbrechen zubringen. Es kommt dazu, daß hier oben nicht die Luft weht, die ich hier suche. Der viele Schnee, der thaut, macht die Luft zu feucht; und dabei ist die Wärme auch auf 23 Grad. Seltsam! Ich bin viel leichter mit dem Turiner Wetter fertig geworden, obwohl wir Tag für Tag 31 Grad hatten. Aber die Luft war durch und durch dünn und rein, auch wehte immer ein lieblicher Zephyr. Hier in Sils lag noch bis tief in den Mai hinein 6 Fuß fester Schnee. In den nächsten Ortschaften sind ungeheure Lawinen niedergegangen, 26 der Zahl nach. Das thaut nun Alles auf. Wohin man spaziert, findet man den Schnee als Hinderniß; die Berge sind bis auf die Thalsohle herab noch weiß. Es hat nie so vielen Schnee gegeben; auch soll die Kälte bis auf 33 Grad unter Null herabgegangen sein. Ganze große Wälder sind durch die Lawinen fortgerissen, der Schaden ist groß.
Nun fehlen, wie Du Dir denken kannst, die Fremden noch ganz und gar; und die Eine Schwalbe macht keinen Sommer. Ich esse allein. Bis jetzt ist Alles nicht recht im Stande, weder Magen, noch Schlaf, noch Lust zum Arbeiten, noch Lust am Spazierengehn. Man ist auch noch gar nicht vorgesehn und eingerichtet für die Bedürfnisse der Fremden — so daß es bei mir überall hapert und ich ein wenig melancholisch bin. —
Da kam denn der schöne Schinken sehr zur rechten Zeit, meine liebe Mutter; ich danke herzlich für all die guten Dinge, die Du geschickt hast. Die Hemden scheinen Prachts-Hemden zu sein: ich habe eben 2, die dünn und löcherig waren, bei Seite gelegt, so daß die neuen gerade in die Lücke eintreten.
Dasselbe gilt von den warmen schönen Strümpfen. Wenn ich dies Alles, wie es Dein ausdrücklicher Wunsch ist, als Geschenk annehmen soll, so mußt Du mir wenigstens erlauben, Dir eine kleine Gegengabe präsentiren zu dürfen. Du hättest gern, schriebst Du mir nach Turin, die milder aussehende Photographie von mir: bitte, laß sie machen und berichtige dann die beiden Bilder aus den 30 Mark, die ich Dir inzwischen durch H<errn> Kürbitz habe zustellen lassen. Das nächste Mal hätte ich gerne so etwas wie eine Serviette, damit ich mir selbst mein Tischchen decken kann, wenn ich essen will. —
Mit den Kleidern bin ich jetzt im Ganzen in Ordnung. Ich habe einen sehr leichten Hut auf dem Kopfe, der aus Roßhaaren geflochten ist: sehr hübsch, aber theuer. Der kleinen Adrienne habe ich einen Ring aus Nizza mitgebracht, der allerliebst aussah und den mir Frau Köchlin bei einem dortigen Goldschmied ausgesucht hat. Außerdem schöne Pariser Seife. Ich habe einen neuen Koffer, für den ich 15 frs. bezahlt habe = 4 Thaler.
In Turin erlebte ich zuletzt noch ein großes Musikfest, bei dem 34 Stadtorchester aus drei Provinzen Italiens thätig waren, dazu noch die 8 Orchester von Turin. Die Concurrenz der Orchester fand gleichzeitig in den 3 größten Theatern von Turin statt (jedes zu 3000—4000 Plätzen) von früh bis Abend. —
Ich hätte Dir gern auch so einen heiteren Brief geschrieben, wie Du ihn geschrieben hast, meine liebe Mutter. Aber Dein altes Geschöpf ist immerfort etwas traurig. In Liebe und sehr dankbar
Dein F.