1888, Briefe 969–1231a
1016. An Franz Overbeck in Basel
Torino (Italia) ferma in posta 10 April 1888.
Lieber Freund,
ich argwöhne, daß Du mit Deinem kleinen Sprung nach dem Süden dem bösen Wetter nicht entsprungen bist. Es muß ungefähr überall abscheulich gewesen sein. Auch mir hat es arg zugesetzt. Die Reise von Nizza bis Turin, anscheinend eine kleine Sache, war vielleicht die unglücklichste Reise, die ich gemacht habe. Eine tiefe Schwäche überfiel mich unterwegs: so daß ich Alles falsch und dumm machte. Es wurde mir ad oculos (— und leider auch ad saccum „Geldbeutel“ demonstrirt, daß ich das Allein-Reisen nicht mehr riskiren sollte. Schließlich lag ich zwei Tage in einem affreusen Zustande krank — wo? in Sampi di Arena! Obwohl ich ein Billet nach Turin hatte! Aber siehe da, beim Umsteigen aus einem Zuge in den andern, war ich in Etwas Falsches gestiegen…
Der Coffer hat in braver Weise den Grundgedanken der Reise aufrecht erhalten; das Handgepäck hatte sich zerstreut, so daß es Mühe gab, es wieder zusammen zu telegraphiren. —
Ich mache einen sehr erwogenen Versuch mit Turin. Mein Wunsch ist, hier bis zu Anfang Juni auszuhalten, um direkt dann ins Engadin zu gehn. —
Die Stadt ist mir auf eine unbeschreibliche Weise sympathisch; Turin ist die einzige Großstadt, die ich gern habe. Irgend etwas Ruhiges und Zurückgebliebenes schmeichelt meinen Instinkten. Ich gehe diese würdigen Straßen mit Entzücken. Und wo giebt es solch ein Pflaster! Ein Paradis für die Füße, auch für meine Augen!… Der Frühling ist meine böse Jahreszeit, gerade die Augen pflegen absurd reizbar zu sein. Ich rechne hier auf eine gewisse Energie der Luft, bedingt durch die nahen Alpen: bis jetzt habe ich mich nicht verrechnet. Die Einwohner sind mir angenehm, ich bin wie zu Hause. Man nimmt mich come un uffiziale tedesco: durchaus kein übler Eindruck unter den jetzigen politischen Verhältnissen! — Auch lebe ich billiger hier als in Nizza, Venedig, Schweiz. Ein Zimmer, an der süperben piazza Carlo Alberto, 25 frs. den Monat, mit Bedienung. Ich esse in einem sehr guten Restaurant; da ich aber wenig esse (immer nur eine minestra und ein Fleisch), so halte ich diesen Luxus aus (— unter uns, ich wurde fast krank vor Degout an den gewöhnlicheren trattorie)
Auch bin ich wieder in voller Arbeit; und Augen und Kopf sind gutwillig: — was in Nizza nicht mehr der Fall war. — Köselitz meldet zu meiner großen Erbauung, daß sein Quartett fertig geworden ist. Seydlitz schrieb allerliebst aus Aegypten (wohin er „Weib, Mutter, Hund und Diener“ mitgenommen hat) Aus Dänemark langte ein Zeitungsausschnitt an, der mich unterrichtete, daß Dr. Brandes an der Kopenhagener Universität einen Cyklus öffentl. Vorlesungen „om den tyske Filosof Friedrich Nietzsche“ hält.
Mit dem herzlichsten Wunsche für Dich und Deine Gesundheit, und mich angelegentlich Deiner lieben Frau zu Gnaden empfehlend
Dein Freund
Nietzsche