1883, Briefe 367–478
477. An Franz Overbeck in Basel
Nice, vallon St. Philippe, Villa Mazzoleni<24. Dezember 1883>
Lieber alter Freund,
wie wohl that mir Dein Brief! — Nun nimm mit mir fürlieb auch in das neue Jahr hinein, das vor der Thüre steht — ich bin dieses alten sehr müde, und wenn ich heute keinen Klagebrief schreiben mag, so ist es, weil ich’s in diesem Jahre zuviel gethan habe — namentlich aber an Dich, mein lieber Freund!
Mit meiner Gesundheit steht es so, wie vor mehreren Jahren in Basel es einmal stand — ich weiß nicht mehr wo aus, noch ein. Die ungeheure Masse von Gemüthsqualen hat mich in alle Fundamente hinein zu Schaden gebracht. — Nizza ist mir höchlichst zuwider; aber in der Einen Hauptsache, was den reinen Himmel betrifft, übertrifft es wahrhaftig noch meine Erwartungen. Es war ein großes Unglück, daß ich vorigen Winter in der wolkigen feuchtschweren Luft der anderen riviera verbrachte.
Anbei sende ich die verlangte Quittung, mit der Bitte, auf ihr auszufüllen, was noch auszufüllen ist. Lege das Geld nur einstweilen auf die Handwerkerbank, ich will den Versuch machen, bis März mit dem auszureichen, was ich bei mir habe, vom Oktober her. — Deine neueste Finanz-Operation zu meinen Gunsten verpflichtet mich zu vielem Danke. —
Es giebt einen neuen Menschen, der mir vielleicht zur rechten Zeit geschenkt wird: er heißt Paul Lanzky und ist mir so ergeben, daß er gerne sein und mein Schicksal zusammenknüpfen möchte, sobald es angeht. Unabhängig und ein Freund der Einsamkeit und Einfachheit, 31 Jahre alt, philosophisch gesinnt, mehr Pessimist noch als Skeptiker: es ist der Erste, der mich brieflich anredet „Verehrtester Meister!“ (was mich mit den verschiedensten Empfindungen und Erinnerungen getroffen hat).
Er ist Mitbesitzer des Hôtels (foresteria) in Vallombrosa — und zuletzt wird meine „Philosophie“ noch einmal in diesem alten guten großartigen Winkel sich „ein Nest“ gründen. — Einen Theil des nächsten Jahres werde ich wohl dort, im Paradisino, einsiedlerisch abseits von dem Hotel selbst, zubringen: eingeladen dazu bin ich. — Das Zusammentreffen ist wunderbar: ich hatte mir voriges Jahr solche Mühe um eben dies Vallombrosa gegeben — und wenn Du etwas von meinen Hintergedanken errathen hast, so wirst Du jetzt auch fühlen, wie der Zufall mir entgegenkommt.
Nun wohlan! —
Krank, krank, krank! Was kann die vernünftigste Lebensweise ausrichten, wenn alle Augenblicke einmal die Vehemenz des Gefühls dazwischen schlägt wie ein Blitz und die Ordnung aller leiblichen Funktionen umstößt (ich glaube namentlich die Blutcirkulation verändert)
Sage Deiner lieben Frau, daß ich Emerson wie eine Bruder-Seele empfinde (aber sein Geist ist schlecht gebildet.) Alles Gute uns Dreien!
F N.