1883, Briefe 367–478
367. An Malwida von Meysenbug in Rom
<Rapallo, 1. Januar 1883>
Hochverehrte Freundin
Ich stehe eben von einem äußerst schmerzhaften Anfalle meines Leidens auf, mit dem ich „Neujahr feierte“: da finde ich Ihren Brief und Ihre alte Güte vor! Verargen Sie mir meinen neulichen Seufzer nicht (auch braucht Niemand sonst um meine Noth zu wissen) Aber es kommt gerade jetzt Vieles zusammen, um mich der Verzweiflung ziemlich nahe zu bringen. Unter alle Diesem ist, wie ich nicht leugnen will, auch meine Enttäuschung in Betreff von L<ou> S<alomé>. So ein „wunderlicher Heiliger“ wie ich, der die Last einer freiwilligen Ascese (einer schwer verständlichen Ascese des Geistes) zu allen seinen übrigen Lasten und erzwungenen Entsagungen hinzugenommen hat, ein Mensch, der in Bezug auf das Geheimniß seines Lebenszieles keinen Mitwisser hat: ein solcher verliert unsäglich viel, wenn er die Hoffnung verliert, einem ähnlichen Wesen begegnet zu sein, das eine ähnliche Tragödie mit sich herumschleppt und nach einer ähnlichen Lösung ausschaut. Seit Jahren bin ich nun ganz allein, und Sie werden mir zugeben, daß ich „eine gute Miene“ dazu gemacht habe — auch die gute Miene gehört unter die Bedingungen meiner Ascese. Wenn ich jetzt noch Freunde habe, so habe ich sie — ja wie soll ich das ausdrücken? — trotz dem, was ich bin oder werden möchte. So sind Sie mir gut geblieben, liebe verehrte Freundin, und ich wünsche von ganzem Herzen, daß ich dafür zum Danke Ihnen auch noch einmal aus meinem Garten eine Frucht reichen kann, die nach Ihrem Geschmack ist. —
Was Sie vom Charakter L<ou> S<alomé>’<s> sagen, ist wahr, so schmerzlich es mir ist, es einzugestehn. Ich fand eigentlich noch niemals einen solchen naturwüchsigen, im Kleinsten lebendigen, durch das Bewußtsein nicht gebrochnen Egoism vor, einen solchen thierhaften Egoism: und deshalb sprach ich von „Naivetät“, so paradox das Wort auch klingt, wenn man sich dabei des raffinirten auflösenden Verstandes erinnert, den L<ou> besitzt. Aber es will mir scheinen, daß in diesem Charakter noch eine andre Möglichkeit verborgen liegt: wenigstens ist dies der Traum, der mich nie ganz verlassen hat. Gerade bei einer solchen Natur könnte eine beinahe plötzliche Veränderung und Verlegung des ganzen Schwergewichts möglich sein: das, was die Christen eine „Erweckung“ nennen. Die Vehemenz ihrer Willenskraft, ihre „Schwungkraft“ ist außerordentlich. In ihrer Erziehung müssen entsetzliche Fehler gemacht worden sein — ich habe noch kein so schlecht erzogenes Mädchen kennen gelernt. So wie sie augenblicklich erscheint, ist sie beinahe die Caricatur dessen, was ich als Ideal verehre, — und Sie wissen, man wird am empfindlichsten in seinem Ideale gekränkt.
Was Rée betrifft, so kommt er mir immer mehr wie Jemand vor, dessen Lebensflamme halb im Erlöschen ist: — keine Ideale, keine Zwecke, keine Pflichten, keine Instinkte. Es scheint ihm wohl zu thun, in der Nähe L<ou> S<alomé>s zu leben und ihr nützlich (ich möchte sagen: dienstbar) zu sein. Darin geht es ihm anders als mir. Aber auch ich will L<ou> nützlich sein, so gut ich kann: das habe ich ihr und mir versprochen.
Nicht wahr, Sie glauben mir, wenn ich sage „es handelt sich nicht im Entferntesten um eine Liebschaft“? Sie erwähnten Nerina, und mir kam der Gedanke, als ob ich vielleicht eine Parallele zu meinem Freunde G<ersdorff> sein solle?
So viel über dies Thema: es gehört zu den Irrfahrten Ihres Freundes Odysseus. Wäre ich nur etwas klüger! Oder beriethe mich Jemand besser! Aber ein Halb-Blinder lebt zu sehr in seinen Träumen, Bedürfnissen und — Hoffnungen.
Um Nicht-Antwort wird gebeten, meine verehrungswürdige Freundin.
Von Herzen Ihr FN.