1883, Briefe 367–478
476. An Franz Overbeck in Basel
Nizza (France) 38 rue Segurance(im zweiten Stock.)<6. Dezember 1883>
Mein lieber Freund Overbeck,
habe nur noch Geduld mit mir wie bisher! Nach meinen guten Stunden und Minuten gerechnet — seltenen Dingen! das ist wahr — bin ich einer der beneidenswerthesten Sterblichen, und jetzt mehr als je. Zwischen inne liegt Vieles, was an Verzweiflung grenzt und dessenthalben ich Deine Geduld mit mir haben muß — das ist auch wahr. In jenen guten Stunden aber weiß ich, daß ich nicht umsonst jahrelang die einsamste aller Meer-Fahrten gemacht habe: ich habe mein „neues Land“ entdeckt, von dem noch Niemand etwas wußte; nun muß ich’s mir freilich immer noch, Schritt für Schritt, erobern. —
Von allen guten Dingen, die ich gefunden habe, will ich am wenigsten die „Fröhlichkeit des Erkennens“ wegwerfen oder verloren haben, wie Du vielleicht angefangen hast zu argwöhnen. Nur muß ich jetzt, mit meinem Sohne Zarathustra zusammen, zu einer viel höheren Fröhlichkeit hinauf, als ich sie je bisher in Worten darstellen konnte. Das Glück, welches ich in der „fröhlichen Wissenschaft“ darstellte, ist wesentlich das Glück eines Menschen, der sich endlich reif zu fühlen beginnt für eine ganz große Aufgabe, und dem die Zweifel über sein Recht dazu zu schwinden anfangen. Lies mir zu Liebe doch noch ein Mal Seite 194 und das Gedicht auf der folgenden Seite; übrigens steckt das ganze Buch voll solcher Stellen, an denen ausgedrückt ist „die Stunde ist da! Machen wir uns vorher noch ein kleines Fest mit Singen und Springen!“ —
Das eigenthümliche Unglück des letzten und vorletzten Jahres bestand im strengsten Sinne darin, daß ich einen Menschen gefunden zu haben meinte, der mit mir die ganz gleiche Aufgabe habe. Ohne diesen voreiligen Glauben würde ich nicht in diesem Maaße an dem Gefühle der Vereinsamung gelitten haben und leiden, wie ich es that und thue: denn ich bin und war darauf vorbereitet, allein meine Entdeckungsfahrt zu Ende zu führen. Aber sobald ich nur einmal den Traum geträumt hatte, nicht* allein zu sein, war die Gefahr fürchterlich. Noch jetzt giebt es Stunden, wo ich nicht weiß, mich selber zu ertragen.
Das andre Unglück war: ein ungewöhnlich trübes Wetter im vorigen Winter, ebenso wie im letzten Sommer. Ich bin auf Licht eingerichtet: — es ist beinahe das Einzige, was ich absolut nicht zu entbehren und zu ersetzen weiß: Lichtfülle eines heiteren Himmels. Mit Genua habe ich’s darin überhaupt nicht gut getroffen: jetzt erst fand ich die statistische Angabe, daß Genua im ganzen Jahre nicht viel mehr reine Tage hat als Nizza in den sechs Winter-Monaten: worauf ich umgehend mich nach Nizza aufmachte. Bin ich erst des Spanischen mächtig, so geht es weiter nach Valencia, etwa im nächsten Winter. Ein Mensch, so bescheiden wie Dein Freund in Wohnung und Kost und Kleidung, lebt überall leicht und billig. —
Es geht mir jetzt besser. —
Herzlichsten Dank für Deinen Brief und Deine Gefühle für mich — ich will zusehn, daß ich Dir und Deiner verehrten lieben Frau nicht wieder solche Noth mache, wie zuletzt.
Dein Nietzsche.